Grimes – Miss Anthropocene

Grimes

Nur wenige Ereignisse und Entwicklungen treiben so große Spalte in die Menschheit wie der Klimawandel. Da gibt es die Massen, die jeden Freitag protestieren, aber auch jene, die die gesamte Wissenschaft leugnen, da gibt es Politiker*innen mit lächerlichen Klimapaketen und solche, die sich mit Leib und Seele für diese große Sache einsetzen. Auch in den Reihen der Kunstschaffenden treten immer mehr für ihre Sache ein: Coldplay verzichten wegen der hohen CO2-Emissionen auf das Touren, Joaquin Phoenix nutzt seine Oscar-Übergabe zum großen Statement, The 1975 nehmen einen Spoken-Word-Song mit Greta Thunberg auf – und Meat Loaf bezichtigt eben diese der puren Gehirnwäsche. Inmitten dieser großen Debatte nimmt die interdisziplinäre Künstlerin Grimes eine außergewöhnliche Rolle ein: „Miss Anthropocene“ fungiert als Konzeptalbum aus der Sicht der gleichnamigen Göttin der Klimakrise, deren Name sich aus „Misanthrop“ für Menschenfeind und dem „Anthropozän“, der aktuellen Ära der Welt, die hauptsächlich vom Schaffen der Menschen geprägt ist, zusammensetzt. Mit diesem Alter Ego feiert Grimes das Ableben der Menschheit und lädt zum Tanzen auf den Ruinen der alles zerstörenden Spezies ein.

Die 10 Gebote der Postmoderne

Wie schon auf ihren bisherigen vier Meisterwerken, spielt „Miss Anthropocene“ in einer gänzlich anderen Liga, lässt die Grenzen der irdischen Musik hinter sich. Wohl auch nur deswegen erscheint niemand anderes der Rolle dieser Gottesfigur derart gewachsen wie Grimes, diese Kanadierin mit der piepsenden Stimme, die ihre künstlerische Vision über Artworks, Videos und Bühnenshows nahezu komplett in Eigenregie durchführt. Blasphemievorwürfe ersticken bereits die malerischen Synthies des Openers „So Heavy I Fell Through The Earth“ im Keim, wenn Claire Elise Boucher, wie Grimes mit irdischem Namen heißt, als elektronische Gegenthese zum Menschen irgendwo zwischen Enya und Björk von ihrem Sturz durch die Erde erzählt, während sich alle Synthies um sie herum auflösen. „Miss Anthropocene“ klappert auch in den folgenden neun Akten verschiedene Perspektiven auf den Verfall der menschlichen Spezies ab, übertrifft sich dabei stets selbst.

Jenseits von Greta und Trump

„Darkseid“ statuiert mit elektronischer Distanz „We don’t move our bodies any more“, überlässt die in Mandarin gesungenen Strophen PAN und verfrachtet Die Antwoord in Quarantäne. Als starker Kontrast stellt sich das Grimes’che Verständnis von Understatement im Akkustik-Song „Delete Forever“ dar, der mit poppiger Melancholie auch kleinen verfremdeten Streichern ihren Beitrag zum Klimawandel zugesteht. Immer wieder reitet die Göttin aber auch auf den vier Synthies der Apokalypse in den Abgrund, mit denen Grimes ihren Posten als wichtigste Electro-Musikerin der 10er-Jahre ja damals überhaupt erkämpft hatte. Die können wie im martialischen „Violence“ geradlinig in die Hacken treten, in „Before the Fever“ der Aufforderung „This is the Sound of the End of the World / Dance with me to the End of the Night“ mit einem romantischen Walzer nachkommen, aber auch der märchenhaften, von Vogelzwitschern und Flöten getragenen Welt des Closers „IDORU“ die nötige Sphären ermöglichen.

Um das überdimensionale Erlebnis vollkommen zu machen, treibt Grimes ihren künstlerischen Ausdruck wieder und wieder an die Spitze. „New Gods“ schwebt erhaben im luftleeren Raum, das lyrische Ich quält sich in „My Name is Dark“ vor drängenden Soundwände durch die Nacht, „You’ll miss me when I’m not around“ dürfte mit dem lässig vorgetragenen Einstieg „I shot myself yesterday“ und dem Indie-Sound in jeder Slacker-Playlist eine gute Figur machen.

Zum Album veröffentlichte Grimes ein Gedicht (lest es hier) aus der Sicht der Göttin der Klimakrise, in dem es unter anderem heißt: „Be who you are, embrace your demise, For you are the architect of it.“ Sätze, die in die Magengrube schlagen, die die Verbindung der zwischen Melancholie und Eskapismus schwankenden Sounds und der teils quälend hohen Stimme von Grimes aber auch erklären. „Miss Anthropocene“ rüttelt auf, eckt an, widerspricht den kulturell verankerten ästhetischen Vorstellungen von Schönheit auf allen Ebenen. Und genau mit diesen Mitteln kann auch das fünfte Album der Kanadierin einen bedeutenden Anteil zu der aktuellen Debatte beitragen. Denn wo andere noch um die Vernunft der Gegner*innen buhlen, kann Grimes über all dies nur schmunzeln. Vielleicht haben wir es ja auch einfach nicht anders verdient. In den menschenleeren Gassen der Post-Apokalypse werden sich die verfremdeten Klänge dieses Meisterwerks jedenfalls mindestens genau so wohl fühlen wie bei den Homo Sapiens.

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