Deep Purple – Whoosh!

Deep Purple - Whoosh!

Graue Schleier am Himmel, ein regnerischer Tag im Herbst: Mein 13-jähriges Ich schaut verklärt und gelangweilt durch das Zimmer. Über diverse Fußballposter an den grünen Wänden, Schokoladentafelpapier und dreckiger Kleidung auf dem Parkett schweift mein Blick herüber in die Ecke. Er bleibt an der alten Klampfe hängen, die mein Vater mir zu meinem 11. Geburtstag geschenkt hat. 

Staub bleibt an meinem Zeigefinger haften, während ich mit ihm gedankenversunken den haselnussbraunen Gitarrenhals entlang fahre. Ich greife zu und das Holz schmiegt sich wohltuend kühl in meine Hand als ob es die letzten zwei Jahre nur auf diesen Moment gewartet hätte. Ich mustere die sechs Saiten, die sich über das stellenweise zermackte Griffbrett ziehen und schlage sie an; natürlich total verstimmt. Meine anfängliche Euphorie ebbt ebenso schnell ab, wie sie aufgekommen ist. Ein Stimmgerät habe ich nicht. Nicht einmal die Tonhöhen der einzelnen Saiten sind mir geläufig. Gerade will ich die alte Gitarre wieder für die nächsten paar Jahre in die Ecke verbannen, als mir eine Melodie durch den Kopf schießt: Vier Töne, das muss doch auch mit einer Saite klappen! Ich fahre mit dem Zeigefinger der linken Hand entlang der dicksten Saite und zupfe mit der Rechten die Töne durch bis ich mit freudiger Erregung feststelle, dass zwischen Fußballpostern, Schokoladenpapier und dreckiger Kleidung auf dem Fußboden das wohl bekannteste Gitarrenriff überhaupt erklingt: „Smoke on the Water“ von Deep Purple.

Deep Purple – mehr als Schall und Rauch 

Genau wie ich verbinden unzählige Musikbegeisterte auf der Welt das berühmte Gitarrenriff aus „Smoke on the Water“ mit ihren ersten Schritten an der Gitarre und somit auch mit den englischen Rock-Legenden von Deep Purple. Allerdings verdanken wir den Briten mehr als nur den einen Hit nebst Eintrag ins Guinnes Buch der Rekorde als „lauteste Popgruppe der Welt“ von 1975. 1968 gegründet, erschufen Deep Purple ihren eigenen Stil, indem sie das verzerrte und impulsive Gitarrenspiel Ritchie Blackmoores mit dem virtuosen, klassisch angehauchten Spiel Jon Lords an der Hammond-Orgel zu verbinden wussten. Heute gelten sie als Pioniere des Hard Rock („Smoke on the Water“, „Highway Star“) und mehrerer in den 70er und 80er Jahren aufkommenden Subgenres der Sparte Metal („Fireball“, „Burn“). 

50 Jahre Rock(Band)geschichte

Die Besetzung der Band hat in 50 Jahren Band-Historie zwangsläufig oft gewechselt. Neben den drei Konstanten, Ian Gillan (Gesang), Roger Glover (Bass) und Ian Pace (Schlagzeug) veränderte sich durch treibende Kräfte wie Gitarrist Ritchie Blackmoore (1968-1975, 1984-1993 Bandmitglied) und Keyboarder Jon Lord (1968 – 2002 Bandmitglied) auch immer wieder ihr Stil. Das für Deep Purple charakteristische Wechselspiel der Keys und Gitarreneinsätze bekam mit den neuen Bandmitgliedern Don Airey und Steve Morse ein neues Klangpanorama. Morse spielt technisch versierter als früher Blackmoore, dafür zurückhaltender und weniger verzerrt, während Airey an den Tasten vor allem frischen Wind ins Songwriting brachte. 

„inFinite“ – Kein Ende in Sicht 

Nach 19 Studioalben stellt sich eine nicht abzusprechende Erfahrung und Professionalität ein, könnte man meinen. So auch beim 2016 schon mit allen Wassern des Rockbusiness gewaschenen Quintett. Das 20. Studioalbum „inFinite“ entstand innerhalb von 28 Tagen. Trotz dieser enormen Leistung starteten Deep Purple im Mai 2017 hoch betagt ihreAbschiedstournée „The Long Goodbye Tour“. Die langjährigen Fans zeigten sich wehmütig, erschienen jedoch zahlreich, um ihre Helden ein letztes Mal auf der Bühne zu sehen. Mit jedem Konzert festigte sich allerdings die Hoffnung, dass die Musiker doch noch einmal Blut geleckt hatten, besonders als 2018 immer noch nicht Schluss war. Gitarrist Steve Morse ließ dann 2019 die Bombe platzen und ein Jahr später, im Frühjahr 2020, kündigte die berühmte Rockband ihr 21. Studioalbum offiziell an. 

Whoosh! 

Deep Purple schaffen mit ihrem neuen Album den Spagat zwischen einem bunten Cluster aus Rockeinflüssen der letzten 50 Jahre und moderner Popmusik. Die Vergänglichkeit und Schnelllebigkeit der Existenz ist kurz und prägnant im Titel „Whoosh!“ (und schon ist fast alles vorbei) lautmalerisch dargestellt. Fünf Größen der Hard Rock-Geschichte lassen es nach vielen Wintern zum Ende hin noch einmal so richtig krachen. 

Erste Halbzeit

Der Opener „Throw My Bones“ hört sich zunächst nach geradlinigem Hard-Rock an, der einem überraschend poppigen Chorus weicht. Sänger Ian Gillan beweist hier trotz seinen mittlerweile 75 Jahren wieder einmal ein beeindruckendes Stimmvolumen in den hohen Lagen. Zur Mitte des Songs stellt sich Steve Morse dem Hörer mit einem beeindruckenden Gitarrensolo vor. Eines von vielen auf dem Album, in dem er mehr in den Vordergrund tritt als auf vorherigen Platten. Die Struktur des zweiten Tracks ähnelt dem Opener, jedoch ist „Drop the Weapon“ trotz ebenfalls pop-lastigem Chorus weitaus rockiger und rhythmisch verschachtelter. Auch Keyboarder Don Airey tritt in Hauptthema und eigenem Solo an der Hammond-Orgel nun mehr in den Vordergrund. Nach einem wieder etwas musikalisch simpleren Exkurs in „We’re All the Same in the Dark“ mit zwischenzeitlich längerem Instrumental (einem von vielen in „Whoosh!“), folgt eine schnellere im Sechsachtel-Takt schreitende Rockballade („Nothing at All“) in der die beiden Melodieinstrumentalisten Airey und Morse ganz im Stile von Deep Purple zeigen, wie sich perfektes und technisch genaues Gitarren- und Hammond-Wechselspiel anhören kann. Die Akkordfolge indes steigt simpel in gleichmäßigen Schritten abwärts. Der Sound gibt im ganzen das Gefühl eine endlose Wendeltreppe hinabzusteigen. Das Orgelsolo greift dann sehr klassisch klingende Melodiemotive auf, die nochmal verdeutlichen, dass die Rockband durchaus auch Sinn und große Faszination für klassische Komponisten wie Bach oder Beethoven aufbringt. Mit „No need to Shout“ kehrt das Quintett dann wieder in die härtere Rockschiene zurück. Das Orgelsolo wird durch eine Klavierimprovisation ersetzt und Steve Morses Gitarre wieder verzehrter. Der Song bringt ein bisschen mehr Wucht ins Album und setzt rhythmisch aggressivere Impulse als seine Vorgänger. Der Sound wird mit dem Orgelintro des 6. Tracks „Step by Step“ allmählich dramatischer. Der Sechsachtel-Takter erhält ein interessant treibendes Element durch die vorgezogene Schlagzeugbetonung auf der dritten Zählzeit. Wie „Nothing at All“ weist er im Orgelspiel Don Aireys wieder große Verwandtschaft zu klassischer Musik auf. Von der Dramatik von „Step by Step“ schmeißen Deep Purple den Zuhörer dann wieder ins kühle, locker flockig fließende Bluesrock-Gefilde „What the What“. Mangelnde musikalische Vielfalt kann man den Kerlen aus Großbritannien keinesfalls vorwerfen. 

Zweite Halbzeit 

Mit „The Long Way Round“ verändert sich die Form der einzelnen Songs und sie scheinen mehr ineinander überzugehen. Auffallend ist das lange Synthie-Outro. Das alles wirkt zwar sphärisch, aber weniger spontan und jamlastig als in früheren Zeiten bei Songs wie „Child in Time“. Live gespielt dürfte das Outro von „The Long Way Round“ wohl direkt in „The Power of Moon“ übergehen. Hier sticht der Bass von Roger Glover das erste Mal (und leider auch das einzige Mal) so wirklich heraus, der unheilschwangere Einwürfe spielt. Darüber erklingt eine von der Gitarre gedoubelte Keyboardlinie, die jede dritte Achtel betont. Diese Melodie faded am Ende des Songs langsam aus und geht in „Remission Possible“ über, dessen verzehrtes Gitarrenintro allerdings an das Motiv des vorangegangenen „The Power Of Moon“ erinnert. Das Instrumental steigert sich erst in ein weiteres Orgelspektakel von Don Airey, bevor es herabfällt und auf das direkt dranhängende „Man Alive“ mündet. Von halligen Chorklängen begleitet, bauscht sich das Intro auf bis das Gitarrenthema erklingt. Der Song steht wie kein anderer für die Bedeutung des ganzen Albums. Die Vergänglichkeit des Menschen und seine lächerlich kleine Existenz im Vergleich zur unglaublichen Größe des Universums wird klanglich durch viele sphärische Synthie-Klänge zum Ausdruck gebracht. Mit „And the Address“ bekommt der Zuhörer dann wieder Boden unter den Füßen. Straighter Rock zum Mitstampfen wird allerdings auch wieder als komplettes Instrumental serviert. Don Airey und Steve Morse kommen noch einmal vollkommen auf ihre Kosten und Ian Gillan darf vor dem großen Finale seine Stimme schonen. Der letzte Track „Dancing in the Dark“ schließt das Album und behandelt das Thema Tod frohlockend und mit viel Optimismus. Nach angespanntem Synthie-Intro zu Anfang entlädt sich die Spannung wieder im gewohnten Hard Rock-Modus à la Deep Purple. 

Das Album ist von vorne bis hinten durch akurates Songwriting, Spannungsaufbau und Entladung ein ziemlich gut gelungener Fußabdruck des weitläufigen Stils Deep Purples. Es nimmt uns mit auf eine Reise durch Zeit und Raum, vom ersten Griff zur Gitarre im heimischen Kinderzimmer durch 50 Jahre Rockgeschichte in die Gegenwart. 

„Whoosh!“ und vorbei.

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