HMLTD – West of Eden

HMLTD

Ein düsterer Bass dröhnt. Eine männliche, tiefe Stimme stellt mit Nachdruck fest: „Three Years ago I said ‚The West is dying right underneath my nose and I’ll be so glad when it finally goes.‘ I hate to say I told you so: The West is dead.“ Es folgt eine knapp dreiminütige Abrechnung mit den verwerflichen Lebensweisen der westlichen Kulturen in allerfeinster Post-Punk-Manier. Keine großartigen Gefühlsausbrüche, lediglich auf den Punkt gebrachte, finstere Aussichten. Um dieser einführenden Stimmung des Debütalbums von HMLTD noch einen interdisziplinären Hintergrund hinzuzufügen, sollte man sich unbedingt den dazugehörigen Essay des Frontmanns Henry Spychalski durchlesen. Anstelle einfach einen ersten Eindruck des eigenen Sounds hinterlassen zu wollen, entwickelt das britische Quintett nämlich den beeindruckenden Anspruch, ein ganzes Konzeptalbum auf die Beine zu stellen. Und obwohl dieses Vorhaben natürlich definitiv in die Hose gehen konnte, halten die folgenden 14 Songs das Versprechen des athmosphärischen Openers „The West Is Dead“. Was folgt, ist schlicht ein Meisterwerk, das einem akkurat vertonten Manifest über toxische Männlichkeit, die Gefahr des Patriarchats und einen möglichen Hoffnungsschimmer am Horizont gleicht.

Grandezza am Schlund der Apokalypse

„West of Eden“ basiert auf der Grundidee des Romans „East of Eden“ (dt: „Jenseits von Eden“) von John Steinbeck. In diesem zog der Autor Vergleiche zwischen der biblischen Geschichte Kains und den USA. Kain wurde schließlich von Gott nach Nod, also östlich von Eden verbannt, nachdem er seinen Bruder Abel aus Neid umgebracht hatte. HMLTD verpflanzen ihr verfluchtes Land der Verbannung nun aber in den Westen. Spychalski und seine Kumpanen sind sich sicher: Nach all den Sünden, nach all dem Prunk und Luxus wird auch der Westen in naher Zukunft stürzen, wie jedes Imperium zuvor. Daher dient niemand geringeres als Kain als Erzählstimme des Albums, führt stellvertretend für die gesamte toxische Männlichkeit durch Gräben von Aggressionen, unterdrückten Gefühlen und purer Egozentrik. Dabei bleibt es aber nicht durchgehend so düster post-punkig wie zu Beginn. Stattdessen berichtet „West of Eden“ einem rasenden Reporter gleich von den unterschiedlichsten Szenerien aus, jedem Kapitel seinen ganz eigenen Soundtrack. Da finden große Bläserreigen oder Chöre genau so Platz wie Disco-Ausflüge und  tiefe Bässe. Spychalskis zwischen kieksender Empörung und croonender Gleichgültigkeit schwankendem Gestus wohnt währenddessen die unangepasste Opulenz großer Erzähler*innen wie David Bowie, Robert Smith und Ezra Furman inne.

Dekonstruktion in all ihren Facetten

Da mimt Spychalski gerade noch den lässig-souligen Entertainer („Loaded“) mit elektronisch-poppigem Beat und Alternative-Gitarren im Rücken, damit das Interlude „The Ballad of Calamity James“ Western- und Americana-Epik den Teppich ausrollt. Diese hält dann zwar auch in der aufpeitschenden 80s-Referenz „To The Door“ Einzug, wird jedoch durch Industrial-Störgeräusche unerwartet in Szene gesetzt. Ähnlich abgedrehte Stilwechsel warten auf Albumlänge hinter jeder Ecke auf das lyrische Ich, das sich – ganz Objekt geworden – von den Unsicherheiten und Erniedrigungen der postmodernen Gesellschaft zerreißen lassen muss. Wirklich sicher ist in dieser Analogie kaum etwas, wie auch das Musical-esque „Satan, Luella & I“ beweist: Der Moralkompass will einfach nicht ausschlagen und auch das einzige Liebeslied „Mikey’s Song“ ist – Spoiler! – nicht mit einem glücklichen Ende versehen. Wenn so abstrus unterschiedliche Songs wie das verzerrte „Why“ mit seiner japanischen Strophe über das Leben in Tokyo und „Death Drive“ mit seinem aggressiven, alles zestörenden Unterton gleichwertig Teil eines großen Mosaiks werden, wird die enorme Vielschichtigkeit der tonalen und inhaltlichen Aussagekraft nur allzu deutlich.

In der Mitte von all dem prangen mit „Joanna“ und „Where’s Joanna?“ zwei Songs über das Weibliche im Männlichen, über instabile Geschlechterrollen, über Repression und Unterdrückung. Vom ersten, eher luftigen Piano-Stück zum wild um sich schlagenden zweiten Teil liegen musikalisch Welten, inhaltlich ist vor allem eins passiert: Der männliche Protagonist hat seine feminine Seite und damit einen Teil seiner selbst verbannt; etwas, das laut HMLTD nur zu katastrophalen Ergebnissen führen kann. Zur Unterstreichung dieser These wurde „Joanna“ aus Mondegreens, also Verhörern der Lyrics anderer Songs des Albums, zusammengesetzt. Songwriting-Kunst der absoluten Extraklasse! Doch trotz all dieser düster gefärbten Zeilen und Akkorde findet „West of Eden“ einen überraschend hoffnungsvollen Schluss. „The world is ours, and the world is a blank slate“ heißt es da zunächst und auch wenn der Closer dann wiederum feststellt „The world is ending and it’s fine“, wird einem gar nicht mehr so unwohl bei dem Gedanken. Wie auch immer die Zukunft aussehen mag – HMLTD geben mit ihrem Debütalbum einen künstlerischen Rundumschlug zur Lage der westlichen Gesellschaft und ihrer Überheblichkeit ab, der ab jetzt am besten in jedem Großraumbüro, politischen Kongress, Fahrstuhl oder öffentlichen Toilettenraum bis zum Erbrechen gespielt werden sollte. Aber auch wenn es beim „Preaching to the Converted“ bleiben sollte: Das neue Jahrzehnt könnte mit dieser Platte die Geburt einer ganz wichtigen Künstlerstimme miterlebt haben.

Das Album „West of Eden“ kannst du hier kaufen. *

Und so hört sich das an:

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HMLTD live 2020:

  • 28.02. Urban Spree, Berlin
  • 29.02. Slot, Hamburg

Rechte am Albumcover liegen bei Lucky Number Music / Rough Trade.

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