Julia Engelmann, Mercatorhalle Duisburg, 07.10.2018

Julia Engelmann Duisburg

Die zwei Seiten einer Medaille erlebt Julia Engelmann wahrscheinlich täglich in Form ihres Erfolgs. Das Konto füllt sich, die Fangemeinde wächst, man wird in wichtige Talkshows eingeladen und präsentiert auf sämtlichen deutschsprachigen Bühnen selbstgeschriebene Texte. Könnte schlechter für eine 26-jährige aussehen. Andererseits dehnt sich auch die Masse der Leute aus, die sie unglaublich nervig finden, ihre in lyrischem Versmaß gehaltenen Worthülsen nicht ertragen können und nun, dank eines Tonträgers namens „Poesiealbum“, den Teufel in Person in ihr sehen. Der Grat ist eben ein schmaler. minutenmusik will dem ganzen Diskussionskrieg mal auf die Spur gehen und überzeugt sich selbst. Die Mercatorhalle in Duisburg gibt am 7.10. dafür den passenden Rahmen.

Der schicke und noch recht frisch-restaurierte Saal gibt der Veranstaltung ein gehobeneres Ambiente und füllt sich dank fester Sitzplätze auch erst kurz vorm Startschuss. 1200 Menschen sind bereit. Mit nicht mal fünf Minuten Verspätung beginnt die Veranstaltung recht pünktlich. Ihre zwei Begleitmusiker dürfen als erstes auf die Bretter und starten mit einem atmosphärischen Intro. Atmosphäre ist eh das Wort, das einem dem Abend über wohl am häufigsten in den Sinn kommt. Dazu trägt auch das grandiose Bühnenbild bei, das eine Dachterrasse darstellt, wie wir kurze Zeit später erfahren. Passend dazu zeigen mit Lichtern bespickte Vorhänge einen Nachthimmel, davor eine in schwarzweiß gehaltene, comicartige Skyline irgendeiner Großstadt. Auf der Bühne stehen mehrere Instrumente in unterschiedlichen Ecken und werden im gleichen, kindlich gezeichneten Stil von Blumen und Einhörnern dekoriert. Nach wenigen Takten stellt sich Julia in einem schwarzen Kleid, Sneakers und einer mit paillettenbesetzten Jacke vor, auf der ein Song von ihr zitiert wird.

„Herzlich willkommen im Jetzt“ spiegelt als Opener wider, worum es an diesem Abend gehen sollte. Ja, Julia Engelmann ist absolut keine gute Sängerin. Mehrmals sind Töne nicht so ganz in der Mitte. Das kann man sich jedoch bereits denken, wenn man sich nur vorstellt, dass sie singt. Stattdessen sorgen aber die Bühnenausstattung mit passenden, warmen Farbtönen und Leuchtkegeln dafür, dass bereits ab dem ersten Lied das Publikum zur Ruhe kehrt, probiert nicht mit Taschen zu rascheln, nicht redet und gespannt dem folgt, was da gerade passiert. Und tatsächlich passiert hier in ausgiebigen 150 Minuten viel mehr, als zunächst vermutet werden darf. Die mit zwei Personen eher überschaubaren Bandmitglieder lassen ein Akustikset erwarten, spielen aber jeweils so viele Instrumente ein, dass dank Looptechnik das Gefühl aufkommt, eine dicke Gruppe am Start zu haben. Egal ob Drums, Klavier und Percussion auf der einen Seite oder mehreren Gitarren, Soundeffekten und Synthesizer auf der anderen – warum sollten das nicht zwei Personen im Griff haben? Julia übt sich neben dem Gesang auch an der großen Trommel, am Drumcomputer und sitzt sogar einmal selbst am Klavier.

Das Programm zeigt, dass Dichtkunst keinesfalls mehr dem entspricht, wogegen Schulkinder einen Groll entwickeln. Stattdessen bietet die in Bremen aufgewachsene und nun in Berlin lebende Künstlerin einen stilvollen Mix an vorgetragener Lyrik, leichten Popsongs und vortrefflichen Moderationen. Julia ist auch in ihrem noch recht jungen Alter bereits mehrmalige Spiegel-Bestsellerlisten-Anführerin und macht den Job nicht erst seit gestern. Ihre Erfahrungen als Poetry-Slammerin und Schauspielerin scheinen ihr den Weg gepflastert zu haben, sodass sie ohne erkennbare Anstrengung eine Show dieser Länge trägt. Langeweile? Fehlanzeige. Stattdessen lockert sie mit intelligentem Wortwitz und persönlichen Anekdoten die oftmals etwas schwermütige Stimmung auf, die ihre Texte beinhalten. Aber eben das macht es so gut! Wer das dürftige „Poesiealbum“ im letzten Jahr auf Platte gehört hat, weiß, dass das musikalisch alles eher mau ist und in die überdrüssige, überfrachtete deutsche Singer/Songwriter-Ecke abdriftet, die kein Mensch braucht – live hingegen passt zumindest der Großteil wirklich gut ins Bild.

Knapp Zweidrittel der Show sind mit Texten gefüllt. Texte, die es schaffen, Leute mit Wandtattoos in der Küche zu überfordern und Menschen mit Intellekt angenehm zu unterhalten. Natürlich ist das nicht das Tiefste, was Deutschland an Lyrik je gesehen hat. Trotzdem erinnert Frau Engelmann in richtig guten Momenten an eine Judith Holofernes und kreiert Bilder, die treffsicher kommen und mit leichtem Schauer auf der Haut wieder gehen. Wirkliche Highlights zu nennen ist quasi unmöglich. Letztendlich darf jeder selbst entscheiden, ob er mit familiären Themen („Für meine Mutter“), gut beobachteten Anglizismen-Trends („A.K.A. BTW Coconutoil“), dem Moment frischgebackener Liebe („Keine Ahnung, ob das Liebe ist“) oder doch dem Gefühl kurz vor der Trennung am besten fährt („Junges Unglück“). Versprechen tut sie sich kaum. Dafür unterstreichen kleine und dennoch passende Gesten die großen Worte. Die hat sie sich bestimmt nicht alle selbst ausgedacht, but who cares? Wer dann ihren Erfolgsgaranten „One Day/Reckoning Text“ aus dem Jahr 2013 hört und immer noch nicht überzeugt ist, ist hier eh völlig fehl am Platz.

Genau das war aber auch schon auf vorigen Touren zu sehen. Seit Ende September wird das Programm mit einer angenehmen Anzahl an Songs aufgestockt, die sich auf dem Debüt „Poesiealbum“ befinden und live stimmiger erscheinen als im Studio. Die Bildebene, die man als Zuschauer im Publikum zusätzlich erhält, wirkt sich positiv auf die Musik aus. Julia hüpft und tanzt dabei ausgelassen umher und verhält sich so, als ob gerade niemand schaut – was auch zu ihren Texten abermals passt. Die Klimax an dem Abend ist gut gewählt, sodass die Moderationen die Songs und lyrischen Zeilen miteinander verbinden und sich die Stimmung im Raum stets weiter aufheizt. Bei den finalen Titeln „Das Lied“ und „Lass mal ‘ne Nacht drüber tanzen“ stehen alle, klatschen und wippen mit. Besonders gelungen sind die Stücke, die sich eher auf Sprechgesang als auf große Melodiebögen konzentrieren. Im Kopf bleiben die mit zwei Gitarren besetzte Version von ihrer ersten Single „Grapefruit“ (seht HIER einen kleinen Ausschnitt auf unserem Insta-Profil), die zum Ende hin sogar zweistimmig dargeboten wird, das auffordernde und zugleich melancholische „Darf ich bitten“ und das Albumhighlight „Bestandsaufnahme“, das genau so knallt, wie man es sich schon auf Platte gewünscht hätte. Hin und wieder ist bei einigen Zuschauern ein Tränchen zu sehen, die sich anscheinend ein wenig ertappt fühlen. Eben diese empathische Ebene scheint Julia besonders wichtig zu sein, wie sie mehrmals betont. Sie probiert Situationen aus ihrem nahen Umfeld zu verschriftlichen, in der Hoffnung, dass jemand damit was anfangen kann.

Die imaginäre vierte Wand wird in einigen Momenten unterbrochen. Ein kleines Social Media-Video mit dem Publikum kann ja jeder. Die Künstlerin lässt gerne mal hineinrufen und agiert spontan, wie man es aus Comedyshows kennt. Julia gibt aber des Weiteren die Möglichkeit, Fragen zu stellen und kündigt dies sogar einige Zeit vorher an, damit jeder in sich gehen kann und Möglichkeit hat, eine passende Frage zu finden. Auch hier geht sie mit etwas merkwürdigen Einladungen auf private Dachterrassen von Fans souverän um und antwortet sympathisch und dennoch eindeutig ablehnend – gut so! Außerdem spricht sie sich mit Nachdruck für Psychotherapie aus und motiviert dazu, seine Probleme wahrzunehmen und zu besprechen. Auch das kann nicht schaden.

Haten kann ja jeder. Es ist das Leichteste, Gründe zu finden, warum man irgendetwas Erfolgreiches kacke findet. Gerade in der Poetry-Slam-Szene gönnt man Julia Engelmann den Dreck unter dem Fingernagel nicht, weil sie Kunst aus dem Underground dem großen Mainstream verkauft. Wer in sich horcht und mal ehrlich zu sich selbst ist, hätte es mit Sicherheit ihr gleichgetan. Wer möchte nicht sein Hobby zum Beruf machen? Es lohnt sich jedenfalls mal unvoreingenommen, aber dennoch in einer leicht emotionalen Stimmung in eine ihrer Shows zu gehen und mal RICHTIG zuzuhören. Auf eine der Fanfragen, warum sie so schreibt, entgegnet sie: „Ich bin sehr Happy-end-affin“. Und das ist echt ok. Fühlen wir nämlich alle um 21:35. Ein irgendwie magischer Abend.

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Bild von Christopher.

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