Justin Timberlake – Everything I Thought It Was

justin timberlake everything i thought it was cover

Real Talk: Mit positivem Gossip über sich hat Justin Timberlake in den letzten Jahren selten auf sich aufmerksam gemacht. Stattdessen kamen mehrere Sexismus-Vorwürfe auf, die zwar alle mit Situationen aus den 2000ern zusammenhingen, als man das leider noch ohne große Konsequenz durfte, aber auch die Ereignisse, die durch die Memoiren von Britney Spears ans Tageslicht kamen, waren jetzt nicht die, die man über seinen Lieblingsstar hören möchte.

Und nun wirkt es so, als ob genau diese kleine Autobiografie dem Vorhaben des 2000er-Megastars einen ziemlich fetten Strich durch die Rechnung zieht. Seine wirklich überragenden Hits im vorletzten Jahrzehnt machten den 43-jährigen zum coolsten Ex-Boygroup-Mitglied ever – doch seit seinem vierten Album, dem zweiten Teil der „The 20/20 Experience“, mangelt es erheblich an guten Songs. Fallen einem aus früheren Zeiten massig Titel ein, die den Zeitgeist von Damals perfekt wiedergeben, hat es in den 10ern eigentlich nur „Can’t Stop The Feeling“ langfristig ins Ohr geschafft – und der war dazu noch ein Beitrag zu einem Film.

Es wird also Zeit, mal wieder da anzuknüpfen, wo man mal war. Ja, wirklich zurecht war, denn Justin Timberlake war einfach der Inbegriff von perfektem R’n’B mit Pop-Hooks. Die Quintessenz dessen, was in dem Kopf seines Produzenten Timbaland herumschwirrte. Nach zwei Alben mit mittelmäßiger Qualität – was im Vergleich zu den Brettern „Justified“ und „FutureSex/LoveSounds“ einer schweren Enttäuschung gleicht – möchte man nun mit Everything I Thought It Was zurück in die richtige Spur. Doch leider scheint der Zug auch ein drittes Mal abgefahren zu sein, denn auch 2024 ist der Output so durchschnittlich, dass es doch ganz schön ärgert.

Es gibt einfach Artists, von denen man mehr will. Von denen man Songs erwartet, die einen für Monate nicht loslassen. Die aus der Masse herausstechen und selbst in der Gegenwart globale Banger werden. Ein The Weeknd oder eine Taylor Swift schaffen so etwas ja auch, warum also ein Justin Timberlake nicht mehr? Timbaland ist erneut bei mehreren Liedern neben Justin himself der Hauptproduzent, dreimal mischt sogar Calvin Harris mit. Und tatsächlich gibt es eine kleine Auswahl, die sich wirklich lohnt, angehört zu werden. Die ist aber eben überschaubar. Der Teil, der gnadenlos ohne Eindruck an einen vorbeirauscht, hingegen viel zu groß.

Mit 18 Songs (!) und fast 77 Minuten (!!) Spiellänge strotzt Timberlake jeglichen Trends und haut einfach raus. Dass das auf Papier erstmal glücklich macht, geschenkt, denn schon bei „The 20/20 Experience“, die sich auf zwei Tonträger aufteilte und insgesamt sogar 25 Songs innerhalb eines Jahres abwarf, wusste man, dass viel wollen ungleich viel haben bedeutet. Laut eigener Aussage hatte Justin zu Everything I Thought It Was 100 Ideen – wenn das hier die 18 besten sind, ist das aber echt low.

Wer sich in wenigen Momenten ein Bild davon machen möchte, wie die Platte mit Überlänge klingt, braucht eigentlich nur den Opener „Memphis“ hören. Reduzierter Down-Beat mit leicht ohrenbetäubenden Spielereien dazwischen, Justins Stimme ins leicht Unechte, Roboterartige verändert und dazu kaum Melodie. Das kann man machen, voll ok – wenn es ein Akzent wäre und irgendwo mitten im Album auftaucht. Aber als Eröffnung für ein Comeback ist das einfach schrecklich unbefriedigend und regt so gar nicht zur Neugier an.

Doch bevor es so wirkt, als ob wir nur zum Nörgeln hier sind: Everything I Thought It Was hat einige starke Nummern. Sechs, um genau zu sein. Das wäre bei einer LP mit zwölf Songs die Hälfte und solide, bei 18 Songs ist es aber nur noch ein Drittel und somit zu wenig. Doch schon die erste CalvinHarris-Arbeit „F**kin‘ Up The Disco“ macht mit ihren funky Claps und dem 70s-Feeling echt Spaß. Der eigentliche Albumopener, mögen wir an dieser Stelle sagen. Automatisch bewegt man sich beim Hören hin und her und denkt „Jawoll, der Justin kann’s noch“. Ja, kann er. Er zeigt es nur sehr wenig. Wer hier ansetzen mag, kann direkt zur 11 skippen, denn „My Favorite Drug“ setzt erneut den Anker im 70er-Club und hookt noch mehr. Ist jetzt keine Sound-Revolution, wie man sie in den 2000ern von ihm wahrnahm, aber geil ist es dennoch.

Denn das ist doch das, was wir wollen, oder? Dass Justin Timberlake einfach richtig heftig einen abfackelt. Dass die Hütte und die Hüfte brennen. Dass der Beat und der markante Kopfstimmgesang durch den Körper fahren. Das darf auch mal mit träumerischen Melodien wie in „Flame“ funktionieren oder kuschelnd ums Eck kommen wie in der Vorabsingle „Selfish“. Bei der ebenso sehr starken zweiten Single „Drown“, die definitiv „Cry Me A River“-Flashbacks auslöst, wird es auch richtig warm in den unteren Gegenden. Stark. Letzter Anspieltipp: Der etwas reduziertere Funk-Track „No Angels“.

Und der Rest ist irgendwie unnötig, überflüssig, sich wiederholend oder gähnend langweilig. Viel zu oft verliert sich der Sänger in seinen Fantasien über Intimitäten mit seiner Angebeteten oder in seinen nicht so richtig authentisch wirkenden Selbstzweifeln. „Technicolor“ kommt in über sieben Minuten nie zum Punkt, die *NSYNC-Kooperation „Paradise“ – Hand aufs Herz: Wer hat bemerkt, dass *NSYNC im September ihre erste Single nach über 20 Jahren veröffentlicht haben? Ok, danke – wirkt wie eine Single-B-Seite, die irgendwo noch in der Schublade lag. „Infinity Sex“ hat zwar Sex im Namen, ist aber so hot wie eine noch tiefgefrorene Pizza Hawaii. Ansonsten macht es aber – nennen wir es Spaß – wild durch die Songs zu klicken und sich mehrfach nicht sicher zu sein, ob der nicht gerade schon mal lief („Conditions“, „Imagination“, „Liar“, „Sanctified“) – wie gesagt, 18 aus 100? Well…

Everything I Thought It Was mag für die Ultras nach sechs Jahren auf dem Trockenen ein schönes Album sein. Für die, die Justin in den 2000ern vergötterten, könnten ein paar, aber halt nur vereinzelte Titel interessant sein und für einige Durchläufe in der Playlist reichen. Für diejenigen, die aber auf den nächsten Knaller warten, der wirklich für mehrere Generationen weltweite Relevanz hat, scheinen drei Alben in Folge über eine Spanne von mehr als einem Jahrzehnt nicht auszureichen. Dazu braucht es dann doch ein Ticket für die im Sommer stattfindenden Konzerte. Die Momente für das Gespräch nach der Show heißen dann eben zum wiederholten Male „SexyBack“, „Rock Your Body“, „Like I Love You“, „Senorita“, „Cry Me A River“, „LoveStoned“, „My Love“ oder „Summer Love“.

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