Viele Acts, für die die Musik und nicht das Drumherum im Vordergrund steht, haben es mindestens einmal in ihrem Leben ausprobiert: Auf der Straße mit ihrer Arbeit Geld zu verdienen. Wir kennen es ja alle, wenn wir durch die wuseligen Innenstädte flanieren und an mehreren Ecken jemand meist mit Instrument mal besser, mal schlechter musiziert, oft noch dabei singt. Außer der Kelly Family gibt es aber wohl keine Band, die man sowohl schon in U-Bahn-Stationen als auch in den größten Stadien des Landes hören konnte. Einer unter ihnen, Jimmy Kelly, hat sogar regelmäßig zwischen beiden Möglichkeiten geswitcht.
Als Ende 2016 das Comeback der bekanntesten Musikerfamilie Deutschlands angekündigt wurde, gab es innerhalb kürzester Zeit einen Hype sondergleichen. Letztendlich wurde zwischen 2017 und 2022 nahezu durchgängig getourt und Platten produziert. Doch ein Comeback benötigt vorher zwangsläufig eine Auszeit. Die nahm sich die Band rund 13 Jahre. Diese Zeit war für alle Member eine Art Spielwiese, in der jede*r für sich neue Erfahrungen sammeln und etwas ausprobieren konnte, was mit der Band nicht ging. Jimmy entschied sich für “Back to the roots”. Dahin, wo alles begann, nämlich auf der Straße. Mit Gitarre und Mundharmonika im Gepäck zog er erneut durch die Länder und genoss es, nicht überall direkt erkannt zu werden. Dafür lernte er auf dem Weg unzählige andere talentierte Bohemians kennen, die seine Leidenschaft teilten und mit der er fortan gemeinsam Open-Air oder in urigen Kneipen auftrat.
Einige davon begleiten Jimmy Kelly nun auch 2023. Allerdings hat er die Straße gegen Theater und Konzertsäle getauscht. Seit der Kelly–Family-Rückkehr haben sämtliche Soloprojekte einen richtigen Push erhalten, sodass Jimmy problemlos eine 18 Gigs umfassende Tour spielen und jede*r der musikalischen Talente, die er im Gepäck hat – das sind nämlich gleich zwölf inklusive seiner Ehefrau – auch entsprechend bezahlen kann. Charme der Fußgängerzone weg, dafür aber eben den einen oder anderen Euro mehr in der Tasche. Kann man niemandem verübeln.
Der 14. Halt ist das Düsseldorfer Capitol Theater. Ein Ort, an dem für gewöhnlich Musicals oder Comedy gezeigt werden. Viele Fans besitzen ihre Tickets bereits drei Jahre. Kurz vor der Pandemie startete nämlich der Vorverkauf, der Rest ist Geschichte. Aber am 20.5., einem Samstag, ist das mindestens zu 95 Prozent weiblich gelesene Publikum bereit für einen Kelly, der einfach Bock hat, endlos zu zocken. Nach einem 20-minütigen Vorprogramm des sehr hippieartigen Folk-Duos Lina Bó, die während des Einlasses spielen, geht es um 20:07 Uhr mit dem Hauptact los.
Und wie schon erwähnt: Der hat Laune. Und zwar richtig. Auch wenn nach 65 Minuten eine Pause für gute 20 Minuten das Konzert unterbricht, gibt es danach einen gleich 100-minütigen zweiten Act. Jimmy Kelly zieht gnadenlos durch. Optisch ist er wie immer stilvoll in einer Weste mit Hemd gekleidet, aber innerlich brodelt der irische Pub-Entertainer. Wenn eins klar ist, dann die Tatsache, dass wenn Jimmy sich spontan dazu entscheiden würde, einen Pub zu eröffnen und den mit Musik und Bier zu unterhalten, es mit uneingeschränkter Sicherheit sehr gut funktionieren wird.
Dabei ist das fast dreistündige Programm, bei dem der 52-jährige von teils internationalen Musiker*innen, teils aber auch von Leuten aus der Region unterstützt wird, nicht unbedingt jedermanns Sache und auch gar nicht immer so massenkompatibel. In der Art des Auftretens haben sich nämlich die 13 Menschen auf der Bühne auf keinen Fall abgesprochen. Da sehen zwei aus wie aus einer Jazz-Bar in New Orleans, ein anderer wie ein Zirkusdompteur, eine nach queer-feministischer Band mit Kampfansage. Jedes Mitglied zeigt eher Individualität und vertuscht erst gar nicht, dass hier wild zusammengewürfelt wurde. Das ist einigen bestimmt zu uneinheitlich, zu chaotisch und auch an einigen Stellen so improvisiert, dass mal eine Nummer nicht ganz glatt läuft. Aber das Konzept nennt sich eben Jimmy Kelly & The Street Orchestra – und das kommt jede Sekunde durch.
Jeder Mensch auf der Stage ist in seinem Gebiet wirklich Profi. Handwerk hat hier eindeutig Vorrang. Nur so kann es klappen, dass man zwischen Folklore, Blues, Rock’n’Roll, Singer/Songwriter und Kelly–Family-Songs wechselt. Die Fans der großen Gruppe kommen mit “I Can’t Stop The Love”, “Nanana” und “Good Neighbor” auf ihre Kosten, allerdings sind die Songs ganz eindeutig in der Unterzahl. Jimmy macht es sich somit nicht zu einfach und sucht sich seine Hits zusammen, die er zuvor mit der Familie spielte – das würde sich noch besser verkaufen, aber wäre auch eher langweilig. Stattdessen gibt es eine volle Ladung Folk-Hits, die mal bekannter sind – zum Beispiel “Cotton Eye Joe”, und nein, das haben Rednex nicht geschrieben – mal eher nur von Insider*innen erkannt werden. Einiges ist auf Deutsch, manches sogar auf Jiddisch (“Tumbalalaika”), manches ganz frisch komponiert (“More Must We Fight”).
Als Special Guest schaut Bruder Joey vorbei. Mit dem wird sich an die Kindheit erinnert und kurzerhand am Mikro improvisiert. Sowieso ist Improvisation ein Merkmal der Show. Nicht alles ist bis ins Detail abgesprochen. Das führt dazu, dass mal ein Song etwas daneben geht und nochmal neu begonnen wird, andererseits erkennt man aber den 13 Musiker*innen an, dass sie untereinander wahnsinnig viel Spaß haben. Hier wechseln sich starke Bläser-Soli mit Banjo und Violine ab, als ob es das Normalste der Welt wäre.
Außerdem ein Pluspunkt: die Klimax. Sind am Anfang alle Besucher*innen noch ein wenig entspannter, gefällt das Jimmy nämlich schnell so gar nicht. “Düsseldorf, was ist mit euch in den letzten drei Jahren passiert? Nur noch TikTok und Netflix sind angesagt!” meckert er etwas ironisch herum und fordert damit die Crowd heraus, lauter mitzuklatschen und enthusiastischer mitzutanzen. Das wird im Laufe des Gigs auch gern angenommen. Wer spätestens nach zwei Stunden immer noch nicht schwitzt, war entweder nicht dabei oder ist frühzeitig gegangen. Besonders beim irischen Traditional “Wearing of the Green” dreht das Capitol etwas durch. Der geheime Star des Abends ist übrigens nicht unbedingt der Frontmann. Stattdessen tritt plötzlich Jimmys Pianist nach vorne, legt für Mitte 60 einen hervorragenden Stepptanz hin und singt kurze Zeit später noch ein wirklich überragendes Solo. Gesanglich wird das nur noch von der Background-Lady aus den USA getoppt, mit der sich das Konzert spontan in einen lauten Gospel wandelt. Mega!
Musikalisch kann man hier nichts nörgeln. Auch der Sound ist von Anfang bis Ende ganz fantastisch, was bei der Menge an Instrumenten keine Selbstverständlichkeit ist. Allerdings würde der Show 20 Minuten kürzer tatsächlich gut tun. Einige Songs werden dermaßen unnötig in die Länge gezogen, im Refrain unzählige Male wiederholt und mehrfach immer wieder aufgegriffen, dass es irgendwann doch etwas die Nerven überstrapaziert. Ein wenig knackiger und aus gut wird sehr gut.
Ansonsten liefern Jimmy Kelly & The Street Orchestra mit einer reinen Spielzeit von fast drei Stunden wirklich äußerst viel für den Eintrittspreis. Das Konzept ist nicht alltäglich, der Sound authentisch, für die unmusikalischen Deutschen auch erfrischend beschwingt und mit einer Prise Fernweh und Urlaubslust gen Westen getränkt.
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Foto von Christopher
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