„Ich bin nicht mehr in der Pubertät, eigentlich unfassbar. Das war ja keine Phase, das war ja mein Charakter“, hangelte sich Felix Brummer 2012, damals in seinen frühen 20ern, sprechsingend von Wort zu Wort. „Ritalin/Medikinet“ hieß der zugehörige Song, er befand sich auf dem Debütalbum seiner Band Kraftklub, wandte sich zurück an die von ADHS durchtriebene Jugend. Ebensolche Posen und Narrative, typisch für gerade aus ihren Teeniejahren Herausgewachsene. Die Texte der Chemnitzer ließen diese immer zu, boten individuelle Gefühle in universelle Formen verpackt, freigelassene Projektionsflächen. Eine Dekade später sind Kraftklub zu einer der größten Musikgruppen des Landes aufgestiegen und es steht das nunmehr vierte Album „Kargo“ an. Das zeigt eine Band, die über die Jahre würdevoll von ihrem Jüngling-Image weg gealtert ist und sich ihrer Trademarks und Stärken sicher erscheint.
Brummer, sein Bruder und ihre drei Kollegen Schumann, Israel und Marschk sind nun nicht mehr in ihren frühen 20ern, sondern durchleben gerade die besten Jahre ihrer 30er. Musiker*innen, die auch in fortgeschrittenerem Alter an wohlbekannten Erzählungen festhalten und damit Erfolg haben, gibt es zwar – Blink-182 etwa -, spannender wird die ganze Angelegenheit aber, wenn die Zeit an Text und Thematik nicht spurlos vorbei geht ohne deren Charakter anzufressen. Auf „Kargo“ trifft das zu. Der Tenor ist grundlegend ernster, nur noch selten ironie- oder sarkasmusbehaftet, so richtig quatschig wird es nie. Ein großer Schritt für eine Band, die einst ein ganzes Stück einem gestohlenem Fahrrad (oder doch einer geklauten Frau?) widmete, über den engeren Freundeskreis, die „Gang“, textete und beiläufig auch Mal Frida Gold disste.
Augenfällig ist dieser Alterungsprozess vielerorts, so auch zum Einstieg: Huldigte die „Band mit dem K“ sich 2017 an erster Stelle noch selbst, so rechnet Brummer nun zuallererst mit sich selbst ab und stellt in Frage, ob er überhaupt zurecht „Teil dieser Band“ ist. Diese kritische Haltung ist kennzeichnend. An anderer Stelle blickt Brummer auf das „Wir sind mehr“-Konzert vom 03. September 2018 zurück, initiiert damals als Widerstand gegen rechtsextreme Ausschreitungen in Chemnitz von der Band selbst. Was bleibt eigentlich langfristig von einem solchen Symbol, wenn lokale Aktivist*innen zukünftig doch weiterhin auf sich alleine gestellt bleiben? Und wie tückisch ist die heile-Welt Euphorie eines solchen Events? Noch strikter geht die Band auf „Der Zeit bist du egal“ mit sich ins Gericht, einem antreibenden Lied über zurückliegende Fehltritte (etwa: „Texte wie ‚Dein Lied‘ und all die anderen schlechten Zeilen“) und den fehlenden Mut sich aufrichtig für diese zu entschuldigen. Und da ist er plötzlich auch wieder, der altbekannte Sarkasmus. Solche kleine Auszeiten vom Altern gibt es immer mal wieder, sie sind aber rar gesät.
In den Songs selbst ist eine neue Sicherheit über die Grenzen des eigenen Schaffens und die Möglichkeit diese zu verschieben spürbar. Fest steht: Die Rollenverteilung zwischen Brummer und Zweitstimme Karl Schumann steht weniger denn je fest. Schumann übernimmt mehr Gesangsparts, singt gelegentlich gar ganze Songs („Wittenberg ist nicht Paris“) und spielt mit, autotuned, verzerrt seine raspelige Stimme. „Angst“ verspürt er dabei merklich keine, auch wenn er einem im gleichnamigen Stück in dauerhafter Rotation einen unverschämten Ohrwurm in die Gehörgänge legt. Doch auch Brummer hat seinem Soloausflug als Kummer entnommen, sich nebst seinem Strophen-Parts zunehmend an Hooks zu wagen, gar an solche von offensichtlichen Hits wie „Fahr mit mir (4×4)“. Gleich drei Mal leihen Kraftklub zudem anderen Menschen ihr Mikrofon. Für „So Schön“ etwa wettern sie mit den Brummer-Schwestern von Blond gegen zur Schau gestellte und kapitalisierte Schönheitsideale. Diese neue Offenheit tut den Songs gut, schafft vorher nicht-existente Möglichkeitsräume.
Viele Eckpfeiler des typischen Kraftklub-Sounds – die Uff-Tscha-Disco-Beats oder die Indie-Gitarren zum Beispiel – bleiben währenddessen bestehen. Deren Ränder aber schleift die Band ab. Oft klingen die Gitarren daher mehr nach Post-Rock als nach School of ’05. Und vielerorts erscheinen die Produktionen ausgereifter, durchdachter. „Kargo“ ist demnach zwar keine Neufindung, aber doch ein Produkt einer Nachjustierung. Würdevoll.
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Kraftklub live 2022:
10.11.2022 – Kiel, Wunderino Arena
11.11.2022 – Rostock, Stadthalle
12.11.2022 – Lingen, Emsland Arena – AUSVERKAUFT
14.11.2022 – Hamburg, Sporthalle – AUSVERKAUFT
15.11.2022 – Braunschweig, VW Halle
17.11.2022 – München, Zenith – Zusatzshow
18.11.2022 – München, Zenith – AUSVERKAUFT
19.11.2022 – Wien, Stadthalle
21.11.2022 – Düsseldorf, Mitsubishi Electric Halle – AUSVERKAUFT
22.11.2022 – Münster, Halle Münsterland – AUSVERKAUFT
25.11.2022 – Stuttgart, Schleyer-Halle
26.11.2022 – Zürich, Halle 622 – AUSVERKAUFT
28.11.2022 – Köln Palladium – Zusatzshow – AUSVERKAUFT
29.11.2022 – Köln, Palladium – AUSVERKAUFT
01.12.2022 – Berlin, Max-Schmeling-Halle – AUSVERKAUFT
02.12.2022 – Leipzig, Quarterback Immobilien Arena – AUSVERKAUFT
03.12.2022 – Frankfurt am Main, Festhalle – AUSVERKAUFT
04.12.2022 – Erfurt, Messe
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