Der erste Sieg nach 44 Jahren! Der Eurovision Song Contest 2020 findet in der Niederlande statt. Am 19.05. um 1:16 nach deutscher Zeit steht fest, dass Schweden nicht genug Punkte durchs Televoting erhält und stattdessen Duncan Laurence mit 492 Punkten und seiner hochemotionalen modernen Ballade „Arcade“ gewinnt. Damit haben wir mal wieder richtig getippt – bereits beim Vorchecking aller Songs im April war für uns klar, dass die Niederlande es machen wird. Somit erzielt unser Nachbarland bereits den fünften Sieg und erreicht damit den dritten Platz im Ranking der meisten Siege neben Luxemburg, Frankreich und Großbritannien hinter Irland und Schweden.
Deutschland hingegen hat es sich dort gemütlich gemacht, wo es sich meistens aufhält: am Ende der Rangliste! Nach dem Überraschungserfolg und einem fulminanten Platz vier von Michael Schulte im letzten Jahr belegen S!sters mit ihrem Power-Pop „Sister“ den 24. von 26 möglichen Plätze. Insgesamt 32 Punkte waren drin: acht Punkte aus Weißrussland und Dänemark, sechs aus der Schweiz, fünf aus Litauen, drei aus Australien und zwei aus Irland. Punkte von den Zuschauern? Keine. Ja richtig, null. Zero. Ein Schicksal, das sie seit der neuen Punktewertung auch mit Österreich 2017 und Tschechien 2016 teilen dürfen.
Alle Platzierungen und Punktzahlen im Überblick:
- Niederlande: „Arcade“, Duncan Laurence (231 Jury-Punkte, 261 Zuschauer-Punkte, 492 gesamt)
- Italien: „Soldi“, Mahmood (212 Jury, 253 Zuschauer, 465 gesamt)
- Russland: „Scream“, Sergey Lazarev (125 Jury, 244 Zuschauer, 369 gesamt)
- Schweiz: „She Got Me“, Luca Hänni (148 Jury, 212 Zuschauer, 360 gesamt)
- Norwegen: „Spirit in the Sky“, KEiiNO (47 Jury, 291 Zuschauer, 338 gesamt)
- Schweden: „Too Late for Love“, John Lundvik (239 Jury, 93 Zuschauer, 332 gesamt)
- Aserbaidschan: „Truth“, Chingiz (197 Jury, 100 Zuschauer, 297 gesamt)
- Nordmazedonien: „Proud“, Tamara Todevska (237 Jury, 58 Zuschauer, 295 gesamt)
- Australien: „Zero Gravity“, Kate Miller-Heidke (154 Jury, 131 Zuschauer, 285 gesamt)
- Island: „Hatrid mun sigra“, Hatari (48 Jury, 186 Zuschauer, 234 gesamt)
- Tschechien: „Friend of a Friend“, Lake Malawi (150 Jury, sieben Zuschauer, 157 gesamt)
- Dänemark: „Love is Forever“, Leonora (69 Jury, 51 Zuschauer, 120 gesamt)
- Slowernien: „Sebi“, Zala Kralj & Gasper Santl (46 Jury, 59 Zuschauer, 105 gesamt)
- Frankreich: „Roi“, Bilal Hassani (67 Jury, 38 Zuschauer, 105 gesamt)
- Zypern: „Replay“, Tamta (69 Jury, 32 Zuschauer, 101 gesamt)
- Malta: „Chameleon“, Michela (75 Jury, 20 Zuschauer, 95 gesamt)
- Serbien: „Kruna“, Nevena Bozovic (38 Jury, 54 Zuschauer, 92 gesamt)
- Albanien: „Ktheju Tokes“, Jonida Maliqi (43 Jury, 47 Zuschauer, 90 gesamt)
- Estland: „Storm“, Victor Crone (38 Jury, 48 Zuschauer, 86 gesamt)
- San Marino: „Say Na Na Na“, Serhat (16 Jury, 65 Zuschauer, 81 gesamt)
- Griechenland: „Better Love“, Katerine Duska (47 Jury, 24 Zuschauer, 71 gesamt)
- Spanien: „La venda“, Miki (sieben Jury, 53 Zuschauer, 60 gesamt)
- Israel: „Home“, Kobi Marimi (zwölf Jury, 35 Zuschauer, 47 gesamt)
- Deutschland: „Sister“, S!sters (32 Jury, null Zuschauer, 32 gesamt)
- Weißrussland: „Like It“, ZENA (18 Jury, 13 Zuschauer, 31 gesamt)
- Großbritannien: „Bigger Than Us“, Michael Rice (13 Jury, drei Zuschauer, 16 gesamt)
NACHLESE ZUR SHOW:
Seit 2016 ist vieles anders. Das eigentliche Highlight des Eurovision Song Contest ist und bleibt die Punktevergabe. Die funktioniert zwar weiterhin im Douze Points-System, allerdings werden nicht mehr von den jeweiligen Landesvertretern die Punkte acht, zehn und zwölf vorgelesen. Stattdessen liest man lediglich nur noch den Favoriten vor – und zwar den, der fünfköpfigen Fachjury. Die bestand in Deutschland in diesem Jahr aus den Sängerinnen und Sängern Michael Schulte, Annett Louisan, Nicola Rost (Laing), Nico Santos und dem Managing Director Joe Chialo. Es bleibt bis heute fraglich, ob Sänger ihre Konkurrenten beurteilen und bewerten sollten. Diese fünf Namen sind immerhin 50% der Stimmen aus Deutschland. Letztendlich machen Künstler aber im Normalfall die Musik, die ihnen selbst zusagt und danach vergeben sie wahrscheinlich auch ihre Punkte. Das ist wenig objektiv und zu viel Geschmacksache. Besser wären Musikjournalisten, Produzenten, Songwriter, … aber nun gut, darum soll es jetzt nicht gehen. Viel interessanter ist, dass nach den 41 Ländern, die beim 64. ESC unter dem Motto Dare to Dream ihre Jurypunkte verteilt haben, das Telefonvoting folgte, das abermals für überraschende Fakten gesorgt hat.
Früher wurden Jury- und Telefonvoting zusammengerechnet. Seit mittlerweile vier Durchgängen wird transparent gezeigt, wem die Jury ihre Punkte gibt und welches Land bei welchen Zuschauern in den jeweiligen Ländern besonders beliebt ist – und die Meinungen könnten kaum weiter auseinandergehen. Wäre es nur nach den Jurys gegangen, hätte Schweden zum siebten Mal gewonnen. Mit 239 Punkten lag John Lundvik und sein Soul-Gospel-Pop „Too Late for Love“ knapp vor Nordmazedonien und der Niederlande. Moment mal… Nordmazedonien? Wo kommen die denn plötzlich her? Eine sehr berechtigte Frage. Ein Song, der selbst nach zehn Durchläufen nicht im Kopf bleibt, steht auf dem Siegertreppchen auf Platz zwei? Ein absolutes Faszinosum, das sich aber zum Glück dank der Zuschauer schnell umkehren sollte.
Nach 41 Jury-Punktevergaben sollte das Telefonvoting auf neuer Art verkündet werden. Es wurde sich nach dem aktuellen Punktezwischenstand gerichtet und hinten angefangen. Wie viele Punkte konnte der aktuelle Platz 26, Spanien, noch dazu verdienen? Danach Platz 25, 24… so wechselte sich also schlagartig das Bild. Seit Monaten galt der norwegische Beitrag der Band KEiiNO als „der Eurovision-artigste Eurovision-Song seit Jahren“. Dass mit ohrwurmartigem Eurodance-Pop mit nationalen Elementen bei sogenannten Fachjurys nicht viel gerissen werden kann, überrascht leider wenig. Umso schöner ist es, dass dafür die Fans, wegen denen der Wettbewerb überhaupt so lange existiert, den Beitrag genauso gewürdigt haben, wie sie es in den sozialen Medien taten – Platz eins im Telefonvoting mit 291 Punkten und damit 30 Punkten Abstand zum zweiten Platz, darunter auch die Höchstpunktzahl aus Deutschland. Das genügte, um Norwegen von dem traurigen Platz 15 bei den Jurys auf den vorerst ersten und schließlich finalen Platz fünf zu hieven. Gleiches wusste letztes Jahr auch Siegerin Netta für sich zu nutzen – sie gewann nur durch die Zuschauer. Nordmazedonien kostete das Verfahren hingegen so einiges: Platz zwölf bei den Zuschauern und somit am Ende nur noch der achte Platz. Völlig außergewöhnlich schaffte auch nur Schweden es knapp in die Top 10 der Leute an den Bildschirmen und landete schließlich auf der sechs.
Ähnlich wie letztes Jahr gingen gleich mehrere Favoriten in die finale Runde. Neben dem Juryliebling Schweden und den äußerst beliebten Norwegern standen die Sterne auch für Russland nicht schlecht. Sergey Lazarev trat zum zweiten Mal an und erlangte schließlich den gleichen Platz wie vor drei Jahren: den Dritten! Italien ging ebenfalls als großer Tipp ins Rennen, wollte mit einer coolen R’n’B-Trap-Nummer überzeugen und konnte das auch. Seit der Rückkehr des Landes in den Wettbewerb im Jahr 2010 war von neun Teilnahmen gleich sieben Mal die Top 10 drin – zum Sieg reichte es auch dieses Mal wieder nicht, aber immerhin für einen verdienten zweiten Platz. Die deutsche Fachjury sah Italien sogar als Gewinner. Der typische „Sei du selbst“-Beitrag kam 2019 aus Frankreich und ließ ebenfalls schon Wochen vor dem Wettbewerb aufhorchen – allerdings schaffte es Bilal Hassani nur mit der Performance und seiner politischen Aussage Spuren zu hinterlassen. Sein Song setzte zu wenig Akzente und ergab nur einen mittelprächtigen Platz 14. Zwei Favoriten aus der Kuriositätenecke waren Australien und Island. Kate Miller-Heidke wollte ihr „Zero Gravity“ auch optisch auf den Punkt bringen, was definitiv funktionierte. Ob man allerdings Operngesang, Technobeat, Dubstep, schwereloses Hin- und Herbaumeln auf Stelzen und Weltkugeln auf Leinwänden verbinden sollte, bleibt dahingestellt. Wahrscheinlich schoss sie doch ein wenig übers Ziel hinaus und kam deswegen nur auf Rang neun. Direkt dahinter ließen sich die Industrial-Kollegen Hatari aus Island mit ihrer SM-Feuershow nieder.
Wo wir doch grade bei Hatari wären: die alleinige Provokation mit dem Auftritt sollte wohl nicht genügen. Die Künstler kündigten bereits nach ihrem Sieg im nationalen Vorentscheid an, dass sie die Show als Statementplattform nutzen wollten, was sie auch kurz vor Schluss taten. Als die Band ihre Punkte fürs Telefonvoting bekam, wurden Palästinaschals und -plakate hochgehalten. Eine mutige Aktion, die lautes Buhen hervorbrachte und womöglich noch Konsequenzen mit sich zieht.
Den größten Skandal des Abends brachte jedoch keiner der Teilnehmer hervor. Dafür musste eine alte Bekannte eingeflogen werden, quasi eine Meisterin des Fachs. Madonna steht seit über 30 Jahren für Trends und bahnbrechende Momente. Einer davon war gestern beim ESC, nämlich der endgültige Abschied des Popthrons. In einer Show, in der Livegesang groß geschrieben wird, schaffte es die vermeintliche „Queen of Pop“ einen ihrer größten Hits, „Like a Prayer“, den sie immerhin genau 30 Jahre performt, tonal völlig gegen die Wand zu fahren. Das einfache Herabsteigen einer Showtreppe genügte, um Madonna außer Atem zu bringen. Geschätzte 50% der Töne waren falsch. Ein elendiges Schauspiel für über 200 Millionen Zuschauer an den Bildschirmen. Dank Autotune erklang ihr zweiter Song „Future“, der in der Show Weltpremiere feierte, angenehmer, aber dafür kompositorisch völlig belanglos. Ein Auftritt, der einem Geschäftsmann aus Israel über eine Million kostet und einer Madonna sehr viel gute Publicity für ihr im nächsten Monat erscheinendes Album „Madame X“. Satz mit X und so.
Was war nun mit Deutschland wieder los? In den letzten zehn Jahren reichte es zwar einmal für den Sieg und auch drei Mal für die Top 10, aber eben auch fünf Mal für eine Platzierung mit einer zwei vorne. Es ist offensichtlich, dass wahrscheinlich niemand den deutschen Beitrag wirklich am schlechtesten fand. Die null Punkte von den Zuschauern bedeuten nicht automatisch, dass keiner für uns angerufen hat. Aber schnell wird vergessen, dass aus jedem Land nur zehn Teilnehmer Punkte bekommen – die restlichen 15, für die abgestimmt werden darf, gehen leer aus. Genau das hat Deutschland immer noch nicht ganz verstanden. Ein okayes Lied mit guter Gesangsleistung ist nicht genug. Es muss knallen, es muss ins Ohr gehen, schocken, unterhalten, fesseln. Ganz nett ist und bleibt Gift! Mit großer Sicherheit werden S!sters bei vielen Ländern im Mittelfeld gelandet sein – und Mittelfeld bedeutet eben eiskalt null Punkte. Trotzdem wären, wenn man die rein musikalische Qualität betrachtet, durchaus noch drei oder vier Plätze nach oben angemessen gewesen. Das Schlusslicht belegte apropos Großbritannien, die in den letzten zehn Jahren keinen einzigen einstelligen Platz schafften.
Peter Urban zeigte in seinen Kommentaren gehäuft die Verwunderung über die Punktzahl und kam deswegen erneut äußerst authentisch, spontan und witzig rüber. Die Moderation blieb ähnlich wie in den Semifinals farblos, war aber immerhin etwas enthusiastischer. Schön hingegen war das große Aufeinandertreffen von ESC-Kultstars: neben der letzten Siegerin Netta gaben sich außerdem Conchita Wurst (Gewinnerin 2014), Mans Zelmerlöw (Gewinner 2015), Eleni Foureira (Zweiter Platz 2018), Verka Serduchka (Zweiter Platz 2007) und Gali Atari (Gewinnerin für Israel 1979) äußerst Mühe, gegenseitig ihre Hits zu covern – wenn auch Playback. Obendrauf folgte noch Izhar Cohen, der israelische Sieger 1978, als Punkteverkünder. Da schlugen Fanherzen höher.
Nach genau vier Stunden stand dann aber endlich fest, dass die Niederlande, die seit längerer Zeit bei den Buchmachern auf der Pole stand, gewinnen sollte. Duncan Laurence zeigte, dass unserer Nachbar im Westen mit emotionalen und etwas alternativeren Liedern irgendwann mal gewinnen musste. Da genügte sogar ein dritter Platz bei der Jury und ein zweiter bei den Zuschauern, um insgesamt über die Konkurrenz hinauszuschießen. Mit „Calm After the Storm“ sah es 2014 schon sehr gut aus – ein Song, der bis heute im Radio läuft. „Arcade“ hatte noch eine Spur mehr Tiefgang und die nötige Gänsehaut, gepaart mit einer sehr persönlichen Thematik. Grandioser Gesang, wenig Tamtam, ganz viel Atmosphäre. Wohin’s wohl gehen wird in weniger als 365 Tagen? Amsterdam, Den Haag, Rotterdam? Wir werden berichten und gratulieren von Herzen.
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Und so sah der Siegerauftritt aus:
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