Erinnert ihr euch noch an VIVA Plus? Erinnert ihr euch überhaupt noch an VIVA? Das war ein Musiksender im deutschen Fernsehen, quasi YouTube ohne Selbstbestimmung. Da liefen 25 Jahre lang Videoclips, die besonders für ein jüngeres Publikum maßgeblich den Verkauf an Singles und Alben in Deutschland ankurbelten oder ihn bremsten. Auf dem Ableger VIVA Plus, der zunächst Viva Zwei hieß, entwickelte sich „Get The Clip“ zum absoluten Dauerbrenner. Hier konnten zwischen 2002 und 2007 die Zuschauer*innen durch Anrufe und SMS auswählen, welches Video als nächstes gezeigt werden sollte. Die Wahl fiel alle paar Minuten auf Evanescence.
Oft zählt eben: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort! Amy Lee und Ben Moody schienen den Zeitgeist dermaßen perfekt getroffen zu haben, sodass die Debütsingle „Bring Me To Life“ einerseits durch ihren Einsatz in dem unterirdischen Comicfilm Daredevil bereits gepusht, andererseits aber durch ihren neuwirkenden Sound dermaßen viele Fans fand, dass das dazugehörige Album „Fallen“ (2003) irrsinnige 17 Millionen Mal verkauft wurde und eigentlich kein Teenager der 2000er um die Platte herumkam.
Und das war sogar gut so. Ob man generell mit dem mystischen Mix aus Metal, Gothic, Hardrock und Pop etwas angefangen konnte, ist das eine – dass die LP aber ausnahmslos gute Hits mit noch besseren Melodien bereithielt, ist das andere. Von Null auf 100 preschte das Paar und ihre wechselnden Instrumentalisten in alle Gehörgänge und machten den gar nicht so wirklich neuen Klang – immerhin waren ähnliche europäische Bands wie Nightwish oder Within Temptation bereits am Werkeln – salonfähig und massentauglich. Zusätzlich waren zu dem Zeitpunkt im Vergleich zu heute die Singlecharts auch noch an unterschiedlichen Musikgenres interessiert, aber das nur am Rande.
Jedenfalls liefen „Bring Me To Life“, „Going Under“, „Everybody’s Fool“ und ganz besonders die Ballade „My Immortal“ auf Heavy Rotation und machten die Leute aus Little Rock über Nacht unerwartet zu Weltstars. Die Veröffentlichung von „Fallen“ ist diesen Monat genau 18 Jahre her – was ist seitdem passiert? Leider wenig bis gar nichts.
Die einen hatten es befürchtet, die anderen dann aber bewiesen bekommen: schon nach wenigen Monaten des Hocherfolgs trennten sich Amy Lee und Ben Moody und seitdem bewegen sich Evanescence auf einer Fläche, die der Größe einer Eisscholle für drei Pinguine gleichkommt. Mit dem Nachfolger „The Open Door“ (2006) ließen sich Teile noch stimmig wiederholen, auf „Evanescence“ (2011) wurde laut eigenen Angaben der Band experimentiert, aber auch in einem äußerst überschaubaren Rahmen. 2017 folgte mit „Synthesis“ eine Art Best-of mit ganz passablen orchestralen Neuaufnahmen beliebter Tracks und nun ist mit The Bitter Truth der Name Programm.
Vier Studioalben in 18 Jahren ist für eine Band, die mit ihrem ersten Werk auf einem großen Label dermaßen punkten konnte, ein wirklich schwacher Output. Andererseits scheint aber auch die Geschichte auserzählt. The Bitter Truth ist in der Tat bittere Wahrheit, nämlich dass man sich mit dem ersten Longplayer nach fast zehn Jahren Leerlauf entschieden zu wenig weiterentwickelt hat. Die zwölf Songs mögen Hardcorefans-Herzen abholen, aber dann war’s das auch schon. Mindestens zweidrittel der Titel erinnern an den Moment, indem man von Evanescence überrascht, überrollt und völlig mitgerissen wurde. Aber man wird lediglich daran erinnert und keinesfalls neu dazu aufgefordert, richtig hinzuhören. Stattdessen ist der Drang, alte Klassiker zu spielen entschieden größer.
Im Speziellen der Einstieg ist eine Fehlzündung: nach einem zunächst atmosphärischen, spannenden Intro („Artifact/The Turn“) machen „Broken Pieces Shine“ und „The Game Is Over“ ordentlich was falsch. Leicht elektronische Soundwaben erwecken zunächst positive Assoziationen, doch dann brüllt sich Amy Lee gegen Gitarren und Drumsets dermaßen überzogen die Stimmbänder aus dem Hals, dass es einfach penetriert statt angenehm stimuliert. Mehrere Hooks, die eben auch einen Anteil der Songs für gewöhnlich ausmachen, bleiben auf ähnlichen Tönen kleben und variieren wenig bis gar nicht. „Yeah Right“ ist mit seinem Electro-New-Wave-Pop erfrischend anders und verliert sich dann ebenfalls in Beliebigkeit. Amy Lee und ihren Kolleg*innen scheint einfach nichts Überzeugendes mehr einzufallen. Das ist uninspiriert und leider langweilig.
Doch wie eine bestellte Erlösung schafft immerhin der Mittelteil ein paar gute Momente: „Feeding The Dark“ ist zwar auch Veränderung im Kleinformat, hält aber das Maß zwischen knallend-rotzigen Instrumentalparts und einem melodisch abholenden Refrain ohne Geschrei. „Wasted On You“ als erste Single war ebenso genau die richtige Wahl, da sowohl Pianointro als auch der Glocken-Electrobeat das zeigen, was die Gruppe schon vor „Fallen“ mal war, nämlich eine Band, die auch vor Industrial-Sounds nicht zurückschreckt und maschinelle, leicht gruselige Klangwelten erschaffen kann. „Better Without You“ ist wieder Schema F, aber immerhin noch ganz catchy.
„Use Your Voice“ hat Gothic-Parts und Zweistimmigkeit. Gut! Trotzdem fehlt dem Song eben was. Das, was leider eigentlich jedem Song fehlt: Verschnaufpausen, das große Orchester und einfach das Händchen für Kompositionen. „Take Over“ ballert dann mal richtig drauf los, was auch wieder für angenehmes Aufhorchen sorgt, um jedoch nach wenigen Sekunden Mut erneut zu verpuffen. Immerhin hat es doch eine intime Ballade auf die Platte geschafft: „Far From Heaven“ ist Evanescence in Reinkultur mit viel Pathos und Drama, nur ohne Neuigkeit und Chartappeal. Schade, auch da ist mehr möglich. Hat man bis dahin noch nicht seinen letzten Schimmer Hoffnung verloren, wiederholen „Part Of Me“ und „Blind Belief“ die Fehler von den Opening-Tracks.
Wo liegt hier genau das Problem? Darin, dass der Sound der Band in 18 Jahren zu wenig an Veränderung gewann? Darin, dass die Musik nicht mehr zeitgemäß ist? Darin, dass Amy Lee vor zwei Dekaden genau eine zündende Idee hatte, die ansonsten nichts hergibt? Darin, dass das Publikum einfach älter wird und eine gesuchte Nostalgie mit den alten Hits begossen wird statt mit neuen Versuchen? Wahrscheinlich ist es eine Kombination aus allem. So oder so ist The Bitter Truth eine wirklich anstrengende, uninspirierte Dreiviertelstunde Musik, die ohne ihr Erklingen nicht vermisst worden wäre.
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Kurzum: Ein Album ohne Seele… Schade. Ich hatte wesentlich mehr erwartet. Vielleicht ist es auch einfach ein Wink mit dem Zaunpfahl für die Band, es nach fast 27 Jahren endlich gut sein zu lassen.
Hallo Marc! Schwierig… irgendwie wünscht man sich ja doch immer neues Zeug von Bands, die man mal sehr mochte – aber umso schlimmer ist es eben, wenn einem das neue Zeug nicht gefällt. Vielleicht findest du trotzdem ein oder zwei Songs, die dir was geben 🙂 VLG Christopher
Es ist immer sehr interessannt…….entwickelt sich eine Band weiter wird gesagt , dass sie sich besser auf ihre Wurzeln besinnen sollen …..tun sie es , dann sagt man sie sollten sich weiter entwickeln .
Hey Sebastian, guter Aspekt, ja! Ist in der Tat nicht immer so einfach. Ein Stück weit ist es auch Geschmackssache, wie viel Entwicklung man persönlich wünscht. Mir ist es aber leider zu wenig. Schön aber, wenn dir das Album gefällt und du damit Spa0 hast 🙂 lg!