Der in westlichen Kulturen verankerten Vorstellung von Liebe steht das kühle, selbstbewusste Cover von “To Love Is To Live” nahezu diametral entgegen. Im literarischen und kulturellen westlichen Kanon wird Liebe als sinnliches, verletzliches Gefühl zwischen mindestens zwei Personen verstanden, symbolische Entsprechungen durch die Farbe rot, Herzen und Rosen verdeutlicht. Am besten gleich durch alle drei auf einmal – und bloß scharf von anrüchiger Sexualität und Körperlichkeit getrennt. Und dann steht da Jehnny Beth unbekleidet, mit einer zielstrebigen Körpersprache, das Farbschema in schlichtem Schwarz-Weiß und beansprucht den Liebestopos für sich. Nicht nur visuell ist das erste Soloalbum der Savages-Frontfrau ein emanzipatorischer Akt, auch der zugehörige Soundtrack könnte aus einer Sci-Fi-Dystopie entstammen. Beth bringt den Robotern aber das Lieben bei.
“I am naked all the Time”
Schon diese ersten sechs Worte – gesprochen von einer düsteren, verstellten Stimme – definieren das Nacktsein neu. Vom universellen Schamgefühl ist sowohl die erste Intonation vor sphärischen Klängen, als auch die Wiederholung durch Beths tatsächliche Stimme vor dringlichem Klavier einige Galaxien entfernt. Stattdessen rückt der nackte Körper in das Zentrum einer Konnotation von Liebe, die das Selbst mindestens genau so wert schätzt wie den Anderen. Eine Leiblichkeit, die sich prompt in unverblümter Erotik äußert: Das intime Flüstern in “Flower” lädt die homoerotische Atmosphäre bis zum Zerreißen auf, stellt aber auch die eigenen Unsicherheiten vor die pochenden Beats. Auch die körperliche Nähe wird hier fern der Norm inszeniert, vor allem im zarten “We Will Sin Together”, das den Sex mit choralen Elementen als Gemeinschaftsakt zelebriert. Schon hier greift Beth den Albumtitel auf: “To love is to live, to live is to sin”. Als Nonne möchte Jehnny Beth trotz dieser These scheinbar nicht durchgehen, auch wenn “Heroine” sogar “devil” mit “All i want is to touch you on every level” reimt. Die weibliche Sexualität stellt sich hier dem kulturellen Ideal der Passivität und scheint im Kampf nicht nur von Satan persönlich, sondern auch von einer ganzen Armada aus unbesiegbaren Synthies unterstützt zu werden.
Cyborg-Romantik am blechernen Puls
Am Rande dieses proaktiv sinnlichen Leitmotivs durchforstet Jehnny Beth Sound- und Themenwelten, die kaum Berührungspunkte mit der Post-Punk-Maschinerie der Savages haben. Mit einem Faustschlag auf das Mischpult zerscheppert die Künstlerin so “I’m The Man”, dessen kaputt-blecherne Synthies und Bläser zur bösen Stiefschwester von Swifts “The Man” mutieren. In der Todesfantasie “The Rooms” wagt sich Beth hingegen an zarten Jazz, das fordernde “How Could You” schmeißt sich in tosenden Industrial. Für derart ambitionierte Soundsprünge hatte Beth Unterstützung von namhaften Produzent*innen und Songwriter*innen wie Atticus Ross, Flood und Johnny Hostile, aber auch von The-XX-Sängerin Romy Madley Croft. Doch trotz dieser Teamarbeit scheint man dem Menschen hinter der Künstlerin in so intimen Momenten wie “The French Countryside” sehr nah zu sein, ein Umstand, den das große Finale “Human” gleich wieder aushebelt. In Anlehnung an die großen Björk- und Grimes-Narrative statuiert Beth hier: “I used to be human” und wenn sich im Anschluss eine finstere Symphonie über die dunkle-verfremdete Alter-Ego-Stimme erhebt, kann man die Auflösung des Selbst förmlich miterleben. Das Leben und die Liebe, um die Jehnny Beths erstes Soloalbum kreist, haben dem lyrischen Ich einiges abverlangt. Doch das dabei entstandene Manifest treibt auch dem kühlsten Cyborg Schauer der Emotionen über den Rücken. “To Love Is To Live” erhebt sich so als imposantes Debüt, das noch lange nachhallen wird.
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