Wenn man Musical-Normalos fragt, welche Produktionen die erfolgreichsten Deutschlands sind, kommen mit Sicherheit die nie totzukriegenden Dauerbrenner “Starlight Express”, “Der König der Löwen” oder “Tanz der Vampire”, womöglich noch ein Klassiker wie “Das Phantom der Oper” oder “Cats”. Was jedoch sehr häufig vergessen wird, sind die Stücke, die keinen festen Spielort haben, aber dennoch fast immer an einem mal etwas größeren, oft aber auch kleineren Theater zu sehen sind. Der kleine Horrorladen ist unter den Reisenden wohl der mit dem umfangreichsten Jetset-Leben.
1986 erschien Der kleine Horrorladen in Form eines Films und wurde schnell zum kultigen Musicalstreifen, der geschickt die Waage zwischen Horrorkomödie, Rock’n’Roll- und Pop-Hits sowie leichtem Trash mit viel Herzblut hielt. Besonders in der Besetzung mit Rick Moranis, Ellen Greene und Bill Murray in einer Nebenrolle hatte man Schauspieler*innen, die ihre Figuren äußerst liebenswert gestalteten. Bis heute hat die unglaublich schräge Story um die fleischfressende, oder sagen wir eher menschenfressende Pflanze Audrey II viele Fans und stellt eine tolle, untypische Alternative zu den kitschigen 80s-Tanzromanzen wie “Dirty Dancing”, “Footloose” oder “Flashdance” dar.
Doch jener Film basiert eigentlich auf einem Musical, das vier Jahre zuvor in New York Premiere feierte und auch dort schnell nicht von allen, aber doch von vielen Beifall erfuhr. Die Musik kam aus der Hand von Alan Menken (u.a. “Arielle, die Meerjungfrau”, “Pocahontas”, “Hercules”, “Der Glöckner von Notre Dame” und “Die Schöne und das Biest”), das Libretto von Howard Ashman (schrieb u.a. die Texte für die Songs in “Arielle, die Meerjungfrau”, “Aladdin” und “Die Schöne und das Biest”), die beide noch ganz am Anfang ihrer Karriere standen und hier somit besonders viel Kreativität fließen ließen. Aber auch sie haben sich die Handlung nicht ausgedacht, sondern größtenteils von dem Low-Budget-Movie “Kleiner Laden voller Schrecken” aus 1960 abgeguckt. Bevor der Kopf platzt: Erst Film, dann Musical, das auf Film beruht, dann Verfilmung des Musicals. Jetzt ham wa’s.
Kurzer Geschichtsexkurs, doch nun zurück ins Hier und Jetzt: Der kleine Horrorladen läuft allein 2024 an rund zehn deutschsprachigen Theatern und hat aktuell auch mal wieder in London ein Revival. Auch wenn man natürlich stets für Neues offen bleiben sollte, so darf man parallel dazu aber auch die alten Favoriten abfeiern, schließlich tun Dinge, die man ewig kennt und ewig liebt, immer wieder gut. Und wären so viele Produktionen gleichzeitig rentabel, wenn niemand vorbeischaut? Ebendrum.
Die Burg Wilhelmstein in Würselen wurde im späten 13. Jahrhundert errichtet. Ihre Ruine ist jährlich zwischen Mai und September ein perfekter Ort für äußerst heimelig wirkende Konzerte, Comedyveranstaltungen, Kinovorstellungen, aber eben auch Theater- und Musicalstücke. Allein das Schreiten durch das Eingangstor gleicht einem kleinen Zeitsprung und macht ein richtig wohliges Gefühl. Beobachtet man die Menschen, die am 6.6., einem Donnerstag, bei trockenem, wenn auch nicht ganz warmem Wetter teils mit Sitzkissen unterm Arm gen Bühne stampfen, fällt auf, dass sich die allermeisten hier kennen. Nicht nur die über 600 Besuchenden, nein, man kennt auch die Mitarbeitenden und begrüßt sie beim Vornamen. Schön. Gegen 20 Uhr wird sich mit kühlem Getränk und Pommes hingesetzt. Kurz darauf wird seitens der Veranstalter*innen herzlich begrüßt, diversen Sponsor*innen gedankt, ohne die eine Produktion dieser Größenordnung nicht möglich wäre und nochmal darauf hingewiesen, dass Bild- und Tonaufnahmen aus rechtlichen Gründen nicht gestattet sind – bei der Zugabe schaue man da aber nicht so genau hin und würde sich im Nachhinein sehr über ein paar Posts auf Social Media freuen. Erster Schmunzler also, bevor die Darsteller*innen die Bühne übernehmen.
Gegen 20:10 Uhr beginnt man mit der ersten von insgesamt 14 geplanten Aufführungen, die noch bis Ende Juni anstehen. Gespielt wird ohne Pause. Platz gibt es nicht ganz so viel, ist die Bühne doch etwas kleiner. Trotzdem hindert das aber niemanden daran, daneben einen Extrabereich für eine vierköpfige Liveband zu lassen, die den groovigen Songs von Beginn an den passenden Rahmen verleihen und durchweg toll spielen. Die Darsteller*innen bestehen aus zehn Personen, wovon einige bis zu fünf Rollen im Wechsel übernehmen, on top warten nochmal genau so viele Statist*innen auf ihre Einsätze. Hinter dem Projekt steckt das Das-Da-Theater, das größte professionelle Privattheater der Region Aachens, das seit 1987 existiert.
Tobias Steffen, der an dem Abend die Hauptrolle Seymour spielt, ist seit mehr als einer Dekade festes Ensemblemitglied. Er mimt den schrägen Pflanzen-Nerd mit einer angenehm zurückhaltenden, eher introvertierten Art, ist nie zu präsent, dafür aber gesanglich mit guter Emotion dabei. Sowieso ist aber die Besetzung durchweg gut. Die drei Musen Crystal, Chiffon und Ronette bekommen ihre Stimmen durch Nina Rehn, Celina Höbel und Johanna Kuhlmann, die oft klare und gut getimte Dreiklänge singen. Hin und wieder gibt es einige ganz schön anspruchsvolle Runs zu hören, die größtenteils auch tonal ziemlich richtig sind und ein anerkennendes Kopfnicken im Zuschauerraum herbeiführen. Timo Aust hat ordentlich zu tun, wechselt er doch mehrfach das Kostüm und die Rolle, bleibt aber final natürlich als völlig durchgeknallter Zahnarzt im Kopf, bei dem er zumindest im Schauspiel durchaus noch einen Zacken mehr aufdrehen dürfte, gesanglich ist aber auch das gelungen. Carina Krämer als Audrey ist für das Mitgefühl zuständig und bekommt dies auch gern und gehäuft in ihrem verträumten wie witzigen “Im Grünen irgendwo”, aber auch im Zusammenspiel mit Tobias Steffen in dem wohl bekanntesten Song “Jetzt hast du Seymour”.
Doch wie es sich gehört, gibt es nur einen wirklichen Star auf der Bühne, und das ist die zwei Meter hohe menschenfressende Pflanze Audrey II, die in drei Entwicklungsstufen zu sehen ist und immer wieder bei ihren Bewegungen und Äußerungen für Staunen, Entsetzen und Überraschungen sorgt. Mit ihr steht und fällt das Stück. Mathias Boeryd, geboren in Schweden, feiert am Das-Da-Theater diese Saison seine Premiere macht in seinen Dialogen in anderen Rollen zunächst aufgrund des Akzents nicht immer die beste Figur, auch wenn er äußerst witzig spielt – sobald er aber für den Gesang der Pflanze zuständig ist, wird klar, dass ihm in dieser Hinsicht hier niemand etwas vormacht. Richtig starke Performance mit ordentlich Blues im Klang. Das hätte man bei einer mittelgroßen Produktion wohl nicht erwartet. Zum Finale wird es zumindest für Fans des Films überraschend düster und ein wenig politisch, hat man sich doch für das No-Happy-End aus dem Musical entschieden. Ein Gedankenanstoß hat aber ja noch nie geschadet und so darf Audrey II einfach noch mehr verschlingen. “Essenszeit”, yum yum.
Das Bühnenbild spielt überwiegend im Blumengeschäft von Mr. Mushnik beziehungsweise davor. Ein paar weitere Szenen finden auf einer kleinen B-Stage daneben statt, die Vorder- und Rückseite besitzt, sodass während mancher Songs die Rückseite mit neuen Requisiten aufgebaut werden kann. Sämtliche Sequenzen sind liebevoll gestaltet, wirken detailliert und einfach herrlich niedlich. Ein paar Mal sieht man jemanden von der Crew, den man nicht sehen sollte, aber das ist neben einigen nicht ganz perfekten Abmischungen bei lauteren Songs, in denen dann doch die Mikrofone im Vergleich zu leise sind, das einzige Manko bei der Premiere – und das ist somit wirklich wenig.
Für Tickets zwischen knapp 30 und 50 Euro ist Der kleine Horrorladen auf der Burg Wilhelmstein mit seinen 90 Minuten richtig gute, super kurzweilige, teils äußerst schwarzhumorige Musicalunterhaltung, die aus ihren Möglichkeiten wirklich das Maximum herausholt. Dank der sehr dankbaren Vorlage, die sowohl in der Story als auch in der Musik wahnsinnig gut gealtert ist, und für eine charaktervolle Bühne mit Familienprogramm – solang die Kinder natürlich nicht zu klein sind – ist das exakt die richtige Wahl und ganz klar eine Empfehlung im Sommer 2024. 2025 kommt übrigens “Frühlings Erwachen”, was man sich schon jetzt vormerken darf.
Und so sieht das aus:
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Foto von Christopher
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