Elisabeth de Musical, Maaspoort Venlo (NL), 10.07.2025

elisabeth niederlande 2025

Es gibt Musicals, die man sehr mag und es gibt Lieblingsmusicals. Die Stücke, die man irgendwann mal live gesehen hat und von denen man noch Jahre später spricht. Erlebnisse, die einen dazu bringen, Fan des Genres zu werden. Elisabeth ist seit seiner Uraufführung 1992 in Wien nicht nur das erfolgreichste auf Deutsch geschriebene Musical, sondern sicherlich auch das beliebteste. Die Fangemeinde ist unübersichtlich groß. Komplett zu recht. Zwar kommt der Publikumsmagnet von Michael Kunze und Sylvester Levay immer wieder zurück auf die Bühnen, wird jedoch durch unterschiedliche Inszenierungen oft unterm Wert gekauft. Die aktuell in Deutschland, Österreich und Schweiz laufende Tourproduktion zur Schönbrunn-Version zeigt das besonders deutlich. Doch parallel dazu läuft seit diesem Frühjahr bei unseren Nachbar*innen in der Niederlande eine neue Interpretation, die nicht nur sämtliche Elisabeth-Produktionen im Turbo überholt – sondern womöglich das Beste ist, was man überhaupt in der Musicalgattung sehen kann. Es klingt völlig pathetisch und überzogen: Aber Elisabeth de Musical ist eine einzige Offenbarung.

Alles ist perfekt. Alles. An dieser Stelle könnte diese Rezension schon enden. Ihr könnt euch das Weiterlesen sparen und stattdessen recherchieren, in welcher niederländischen Stadt ihr Elisabeth de Musical sehen könnt. 21 sind es insgesamt zwischen März und Oktober, über 170 Shows, ungefähr die Hälfte ist somit abgehakt. Wir besuchen am 10.7., einem Donnerstag, die zweite von sechs Vorstellungen im stylischen, hotelartigen Mehrzweckeventgebäude Maaspoort in Venlo. Könnte für so manchen von euch bis Sonntag knapp werden, aber es gibt noch genügend weitere Chancen. Zum Glück. 12 Nominierungen bei den niederländischen Musical Awards 2025 gab es, sechs davon konnten gewonnen werden – hat man die Inszenierung gesehen, fragt man sich wirklich, wer bei den restlichen sechs Kategorien für andere Optionen abgestimmt hat, denn dass man das Stück überhaupt in irgendeinem Bewertungskriterium schlägt, scheint absurd.

Füllen wir diese kaum zu bändigende Begeisterung mit etwas Leben. Elisabeth de Musical macht das, was man als Musicalfan möchte, wenn man nach sehr langer Zeit einen der persönlichen Favoriten wiedersieht: Es fühlt sich genau so an, wie man es möchte und es im Langzeitgedächtnis abgespeichert hat. Gleichzeitig ist es aber keine Wiederholung, sondern eine Weiterentwicklung. Es hat eigene Ansätze, die aber nicht dafür da sind, um zu provozieren, zu irritieren oder etwas komplett bescheuert abdriften zu lassen, sondern um dem eigentlichen Plot mehr Tiefe zu geben. Es hat keinen geringeren Anspruch als Perfektion, es gibt sich nicht damit zufrieden, dass manches sehr gut und anderes dafür nur okay ist. Es zieht gnadenlos durch, es verlangt dem Publikum emotional alles ab. Es ist eine einzig logische Konsequenz.

Inhaltlich orientiert sich die niederländische Neuinszenierung von Frank van Laecke am Originalstück. Keine Kürzungen wie bei der Schönbrunn-Version, weder in den Songs noch in den Dialogen. Mit einer Spielzeit von rund 140 Minuten, getrennt durch eine 20-minütige Pause gibt es die volle Ladung Elisabeth, wie man sie braucht. Jedoch traut sich die Interpretation, dem traurigen, depressiven und von Enttäuschungen geplagten Leben der österreichischen Kaiserin sehr viel mehr Raum zu geben. Sämtliche Familienfreundlichkeit ist gestrichen. Kompromisse gibt es oft genug. Jetzt geht’s an die Substanz. Der Tod ist ein Gegenentwurf zum Irdischen. Er trägt einen langen roten Ledermantel, hat perloxid-gefärbte Haare und viel Augenmakeup. Er raucht Zigarette und bläst den Qualm in die Gesichter seiner Opfer. Elisabeth steht im Fokus der Gesellschaft, alle bilden sich ihre Meinung. Meistens ist es eine negative. Sie selbst sucht einen Ausweg und findet ihn im Konsum von Drogen. Sie kriecht über den Boden, sie bricht Stück für Stück zusammen. Zusehends.

Auf der Bühne sieht man ein großes Museum. Mehrere Bilderrahmen sind an den dunkelgrauen Wänden platziert. Dazwischen große Pfeiler. Es ist ein Museum, das zwar völlig intakt wirkt, dem aber gleichzeitig sämtliches Leben ausgehaucht wurde. In den Bilderrahmen erscheinen im Laufe des Zweiakters Bilder der echten Sissi, aber auch Visuals zu Orten, an denen die Handlung gerade spielt. Gen Ende sieht man einen Sturm und viele Wolken, die ein Unwetter anpreisen. Nebel verstärkt den Eindruck, dass die Apokalypse naht. In der Mitte der Bühne steht ein Betonsarg, auf dem getanzt, geschlafen, diskutiert und gespeist wird.

Man könnte nun ein hundertseitiges Buch darüber schreiben, welche Einfälle der Inszenierung erwähnenswert sind. Das Tau, mit dem Der Tod den Sohn von Elisabeth, Prinz Rudolf, näher an sich bindet. Die Selbstverletzung von Lucheni. Das Am-Boden-Liegen von Rudolf zum Beginn seines Solos “Was ik jouw spiegel maar” (“Wenn ich dein Spiegel wär'”). Das atemberaubende Licht, das bei “Elisabeth, doe open liefste” (“Elisabeth, mach auf, mein Engel”) aus dem Atelier plötzlich ein Schloss bastelt, ohne nur irgendetwas umzubauen. Sowieso wirkt das Bühnenbild zigfach anders – lediglich durch das Licht und einige Requisiten. Für eine Tourproduktion, die in mehreren Städten nicht mal eine Woche gastiert, ist der Aufwand irrsinnig groß. Dennoch ist das Setting nicht so opulent, wie man es vielleicht aus den ganz alten Shows kennt, aber dafür effektiver. Ein Beweis dafür, dass es nicht viel benötigt, aber das Richtige. Bei den Kostümen orientiert man sich stilsicher an den bekannten Gewändern. Optisch hervorstechend ist hier wohl das weiße Galakleid zum Ende des ersten Aktes. Der Moment, in dem Pia Douwes erstmalig zu sehen ist.

Gleichzeitig der Moment, in dem es Szenenapplaus und Jubelrufe gibt. Pia Douwes, wahrscheinlich eine der fünf bekanntesten Darstellerinnen des Kontinents, ist mittlerweile 61 Jahre alt. Sie spielte die Uraufführung in Wien in den frühen 90ern, sie spielte die Deutschlandpremiere ein Jahrzehnt später. Es gibt verdammt wenige Menschen, die man so eng mit einer konkreten Rolle verbindet. Immer und immer wieder wird darum gebettelt, dass sie wieder die Elisabeth spielt. Dass sie schon längst der Rolle entwachsen ist? Egal. Nicht zum ersten Mal wird die ikonische Hauptrolle von zwei Darstellerinnen gespielt, um die doch recht große Schere zwischen Figur und faktischem Alter der Darstellerin authentischer zu transportieren. Wenn Stars dieser Größenordnung in ihrer Paraderolle zu sehen sind, ist das hinsichtlich Ticketverkauf natürlich ein Selbstläufer: Alle wollen hin! Aber gleichzeitig ist die Erwartungshaltung so hoch, dass der Fall wahnsinnig tief sein kann.

Kann. Aber Pia Douwes wäre nicht Pia Douwes, wenn sie nicht auch nach über drei Dekaden eine völlig herausstechende Performance der Elisabeth bietet. Dabei muss man sich ein wenig in Geduld üben: Es dauert bis zum letzten Song des ersten Aktes, bis man sie sieht. Doch schon in der Stunde davor gibt es mit Danique Dusée eine würdige Mitspielerin. Ja, es benötigt wahrhaftigen Mut und Selbstbewusstsein, gegen Pia Douwes als Elisabeth antreten zu wollen. Noch mehr braucht es Talent, um dagegen nicht abzustinken. Doch Dusée macht das nicht nur sehr gut, sondern außergewöhnlich gut. Mit vollster Hingabe lässt sie sich von dem Tod dominieren. Im perfekten Timing bewegt sie sich wie eine Marionette auf und ab, wirft sich auf den Boden, ist mit ganzem Körpereinsatz bei der Sache. Doch spätestens zu “Mijn leven is van mij” (“Ich gehör’ nur mir”) gibt es eine sensationelle Leistung zu hören. Als wären diverse Titel des Komponisten-Duos nicht sowieso schon schwer genug, trauen sich mehrere Darsteller*innen immer wieder noch höhere Töne einzubauen oder noch herausforderndere Runs zu singen. Dusée schafft das Unglaubliche: Sie lässt sich von Douwes nicht die Butter vom Brot nehmen, sondern ist neben ihr ein genauso großer Stern an dem eh schon funkelnden Musicalabend.

Darf man im zweiten Akt Pia Douwes genießen, legt diese ihr aus der Brust herausgerissenes Herz auf den Tisch. Von Menschen verraten, von der Liebe verbraucht und vom Leben enttäuscht, macht sie ihren Mental Breakdown spürbar. Die rund 25 Minuten zwischen “Er valt een zwarte schaduw” (“Die Schatten werden länger”) und “Schepen in de nacht” (“Boote in der Nacht”) sind so intensiv und eindringlich, dass man in seinem Sessel fast schon Bauchschmerzen bekommt. Opernartige Szenen, die es so selten bis nie in einem Musical gibt, obwohl sie dringend gebraucht werden. Alle paar Sekunden hört man ein Schluchzen, ein Naseschnäuzen und tiefe Seufzer um sich, weil das Gefühl kaum auszuhalten ist und einen wahrhaftig zerfetzt. Die beiden ultimativen Douwes-Highlights gibt es aber mit “Niets, niets, echt niets” (“Nicht, nichts, gar nichts”), zu dem sie an einem großen Gefängnisgitter klettert und wie betrunken taumelt, sowie das rührende, aber komplett ausweglose “Schepen in de nacht” (“Boote in der Nacht”) mit dem – oh, Überraschung – auch herausragenden Guido Gottenbos als Franz-Joseph.

Der 31-jährige Milan van Waardenburg ist der neue Superstar der neuen Musical-Generation. In Deutschland konnte man ihn bereits in “Der Glöckner von Notre Dame”, “Anastasia” und “Die Eiskönigin” sehen, zuletzt spielte er “Les Misérables” in London – und brilliert nun als Tod. Optisch erinnert er an Adam Lambert, spielerisch darf er sich ab sofort mit Uwe Kröger, dem originalen Tod, messen. Als wäre es das Leichteste der Welt, gleitet er in sekundenschnelle zwischen diversen Oktaven hin und her und besitzt auch im Falsett völlige Treffsicherheit. An dieser Stelle sei erwähnt: Dank des super abgenommenen und stark gemischten Tons sowie dem perfekt spielenden 12-köpfigen Orchesters unter der Leitung von Steven van Gool hat man das Gefühl, man hört eine Studioproduktion. Als ob man die ganz alte CD vom damaligen Elisabeth ausgegraben hätte. Unglaublich. Dazu trägt natürlich auch der omnipräsente Lucheni bei, gespielt von William Spaaij, der besonders in schattenspielartigen Posen ein sehr starker Nebendarsteller ist. Als ob das alles nicht schon reicht, setzt Ann van den Broeck als Sophie, die Mutter von Franz-Joseph, noch einen drauf. Manchmal flüstert sie nur, dann beltet sie einschüchternd. Nach “Was ik jouw spiegel maar” (“Wenn ich dein Spiegel wär'”) mit Ronald Jorritsma als Rudolf folgt eine sekundenlange, betroffene Stille im gesamten Saal. Und selbst Kinderdarsteller Max Geevers als junger Rudolf sorgt in seinem Solo “Mama, waar ben je?” (“Mama, wo bist du?”) für Gänsehaut. Was zur Hölle ist hier los? Wo kommen all diese Hyperleute her? Was eine Cast. Ein Szenenbild, das wohl für immer im Kopf bleibt, ist zweifellos der Moment zu “Er valt een zwarte schaduw” (“Die Schatten werden länger”). Ein Augenblick, in dem man sich nicht mal mehr traut, zu atmen.

Wer wegen der Sprachbarriere Angst hat, dem sei an dieser Stelle dringend empfohlen, zumindest die deutsche Fassung gut zu kennen oder alternativ Niederländisch zu verstehen. Zwar kann man auch mit geringen Kenntnissen gut die Hälfte checken, aber Vorkenntnisse schaden bei einem Besuch im benachbarten Ausland aufgrund der Komplexität der Handlung in dem Falle nicht. Und bevor man denkt, wir wurden gekauft, hier nun ein Kritikpunkt: Zweimal (!) wird für zwei Sekunden das Mikrofon von je eine*r Darsteller*in zu spät eingeschaltet. Ja, hart. Das erinnert jedoch kurz daran, dass man hier immer noch eine Livedarbietung sieht und keine geradegerückte, geschnittene Aufnahme. Elisabeth de Musical verdient jeden Ausdruck, der positiv konnotiert ist. Jedes Kompliment, jeden Hype, jeden offenstehenden Mund, jedes heulende Auge, jede Gänsehaut. Für rund 80 Euro – ein Preis, den man mittlerweile in Deutschland bei großen Produktionen für die schlechtesten Plätze zahlt – gibt es hier Broadway-Niveau. Keine Minute zu lang, keine Sekunde trivial. Sauhohe Erwartungen, die noch übertroffen werden. Eine neue Messlatte. Ein Abend, der nachhallt. Ein Abend, von dem man in 20 Jahren noch erzählen wird. Der Grund, warum man Musicals liebt und suchtet. Immer wieder hofft man, beim nächsten Stück wieder das Gefühl von purer Begeisterung zu erleben, doch nach vielen Begeisterungen bleibt es auch immer häufiger aus. Hier wird es jedoch auf die Spitze getrieben. Danke dafür. Ein schlichtweg magisches Ereignis. Eine 11 von 10.

Und so sieht das aus:

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Foto von Christopher

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