Aktuell kann man noch für einige Monate “& Julia” in Hamburg sehen, das besonders wohl die Millennials unter uns begeistert. Ein Großteil des Jukebox-Musicals setzt sich aus Songs der späten 90s und frühen 00s zusammen – alle geschrieben von Max Martin, dem wohl krassesten, lebenden Pop-Komponisten überhaupt. Mit dabei sind “Larger Than Life”, “Show Me The Meaning Of Being Lonely” und der Party-Classic “I Want It That Way” von den Backstreet Boys, die sich alle auf ihrem erfolgreichsten Album Millennium befinden. Das feierte strenggenommen schon im Mai 2024 25-jähriges, aber wir sind da jetzt nicht so und lassen die Marketingkampagne durchgehen: 2025 heißt es Millennium 2.0.
Boybands sind irgendwie kein Ding mehr, oder? Damals gab es kein Entkommen vor diversen zusammengecasteten Bands, bei denen jedes Mitglied für einen bestimmten Prototyp Mann – oft sogar eher Junge – stand. Angefangen mit New Kids On The Block wurde es mit Take That in der ersten Hälfte der 90s schon überdimensional, mit den Backstreet Boys aber dann weltweit perfektioniert. Keine Boyband kann solche Zahlen vorlegen – ganze 130 Millionen verkaufte Tonträger verzeichnet das Quintett, das 1993 in Orlando von Lou Pearlman gesichtet und zusammengesteckt wurde. Ja, richtig. Das ist dieser Ekel-Typ aus der bekannten Netflix-Doku. Doch darum geht’s gerade nicht. Stattdessen muss man nochmal erwähnen, mit welcher Selbstverständlichkeit Nick, Brian, Howie, Kevin und AJ ihre Konkurrenz wie *NSYNC, O-Town, Natural und später auch US5 auf die hinteren Plätze verwiesen. Das lag neben der ansehnlichen Optik auch an den Tanzskills, noch mehr an den starken Vocals, am allermeisten aber an der unglaublichen Hitdichte.
Eine Retroparty ohne einen BSB-Banger ist möglich, aber zwecklos. Sind wir doch mal ehrlich. Kein geiler Nostalgie-Block kommt ohne mindestens einen der wirklich grandios komponierten und genauso grandios gesungenen Songs aus, die jede*r mitsingen kann und auch bei allen irgendwie ein schönes Gefühl auslösen. Vier Alben und ungefähr fünf Jahre lang hielt der Überhype an, der übrigens in Deutschland startete. Die USA selbst kam erst zum dritten Album, dem bereits erwähnten Millennium dazu, was sich folgend auch noch viel besser verkaufte als die beiden Vorgänger, die eher nur in Europa vertrieben wurden, aber safe genauso stark performt hätten, hätte man’s sofort mit beiden Kontinenten versucht. Nach dem 2000 erschienenen “Black & Blue” gab es eine über vierjährige Kreativpause. Mit “Never Gone” konnte man 2005 noch mit “Incomplete” einen Hit auf dem bekannten Niveau landen, danach lief das Interesse aber ein wenig aus. Fans zu alt, Mitglieder zu alt, Sound zu oldfashioned, keine neue Zielgruppe gefunden. Die vier noch folgenden LPs blieben nahezu unbeachtet, Singles sind oft ohne Medienecho veröffentlicht worden. Das letzte neue Material erschien 2019.
Doch das ist eigentlich alles völlig egal. Der Output der ersten Longplayer ist dermaßen ausreichend, dass die Backstreet Boys damit ohne großen Aufwand, ohne große Varianz easy bis an ihr Lebensende auftreten könnten und alle Besucher*innen zufrieden wären. Kaum jemand unter ihnen ist unter 30, einige eher schon fast 50 so wie die Fünf selbst – Kevin ist mit 54 der älteste, Nick mit 45 der jüngste. Der war beim Start einfach mal absurde 13. Umso länger haben aber alle was davon und können zu dem sofort erkennbaren Synthie-Bubblegum-Pop mit ordentlich groovigem Klangteppich einfach richtig steil gehen.
Auffälligstes Merkmal, wenn man das Millennium mal wieder durchzockt: Mann, ist das gut gealtert! Selbstredend klingt die gute Dreiviertelstunde nicht so, wie man Pop heutzutage produziert, aber dennoch klingt sie besonders in der Produktion absolut erstklassig. Das ist vielschichtiger, als man es vielleicht abgespeichert hat. Jede Strophe besitzt quasi mehr Hooks als sehr viele Veröffentlichungen der Gegenwart im Refrain. Die Dichte an griffigen Melodien, die im Kopf bleiben, ist gefühlt endlos. Dazu kommen gleich mehrere Parts, die man zwar bei Karaoke-Partys immer versucht mitzusingen, aber in den Höhen, wenn man denn keine ausgebildete Stimme hat, nur schwer packt. Mehrstimmigkeit und extrem cheesige, aber manchmal auch süße Love-Lyrics runden das Package ab.
Doch was bietet denn nun das Re-Issue zum 25+1-Jubiläum? Wer sich für die CD-Veröffentlichung entscheidet – und Hand aufs Herz: Wenn, dann so! – bekommt zwei Tonträger, wovon der erste das klassische Album im remasterten Sound bereithält, der schön voll klingt, der zweite hingegen liefert 55 Minuten Bonusstuff. Lohnt der Kauf, wenn man das Original kennt und liebt? Joa, kann man wohl machen, muss man aber auch nicht.
Hat man sich durch das ursprüngliche Album eine riesige Ladung Endorphine geholt, kann der Tag eigentlich gar nicht mehr schlecht werden. Mehr als die Hälfte stammt aus der Feder des bereits erwähnten Max Martin. Wie Raketen fliegen die hymnenartigen Refrains auf einen zu. Auf das futuristisch-energiegeladene “Larger Than Life” als Opening folgt “I Want It That Way”, die erfolgreichste Single der Gruppe, die sich fast neun Millionen Mal verkaufte. Nach sehr dramatischen, aber auch echt berührenden Tönen in “Show Me The Meaning Of Being Lonely” erwartet einen in “It’s Gotta Be You” ein treibender Dance-Pop-Track, der in einigen Teilen an “Everybody (Backstreet’s Back)” erinnert. In “I Need You Tonight” dürfen Nick-Anhänger*innen ihren Favo vier Minuten anschmachten, darf er auf dem Album als einziger komplett solo ran. Kitsch, wie man ihn 2000 noch präsentieren durfte. Von den nicht ausgekoppelten Tracks ist “Don’t Want You Back” bis heute das absolute Brett – eine Break-Up-Nummer, die so viel Selfconfident auslöst, dass man mit erhobenem Hauptes den Mittelfinger zeigt und dabei auf die Akzente zackig die Hüfte in die Seite schmeißt und sassy post.
Auch “Don’t Wanna Lose You Now” sowie “The One” ziehen solide und wohltuend mit, bis es dann für drei Songs einen kleinen, aber wirklich nur kleinen Hänger gibt. “Back To Your Heart”, “Spanish Eyes” und das Lowlight “No One Else Comes Close” dümpeln ein wenig zu beliebig vor sich her, unterscheiden sich untereinander auch nicht so stark, daraufhin kommt aber mit der Andacht an die eigene Mama in “The Perfect Fan” ein wirklich fantastischer Schlussakkord. Insgesamt ist Millennium zweifelsfrei eines der stärksten Pop-Werke, die es zu dem Zeitpunkt in den Regalen gab. Zwei Drittel des Materials pendelt sich irgendwo zwischen 8 und 10 von 10 ein, das ist schon arg viel. Aber das weiß die Generation Y schon ewig – was ist nun mit der zweiten Hälfte des Birthday-Gifts?
Neben einem echt stimmigen neuen Cover, das die Band heute in einer ähnlichen Pose und ähnlicher Klamotte zeigt wie damals, gibt es neue Fotos im Booklet plus 13 zusätzliche Titel, was erstmal nicht wenig erscheint. Etwas schade ist jedoch, dass es strenggenommen nur einen wirklich neuen Song gibt. Der Rest sind vier Single-B-Seiten, zwei Demos und sechs Liveaufnahmen eines Auftritts in Indianapolis von der 2000 stattgefundenen “Into The Millennium”-Tour. Keine Frage – es gab schon schlechtere Neuveröffentlichungen von Kultalben, die weniger boten. Aber auch welche, auf denen man mehr Überraschungen bekam.
“My Heart Stays With You” ist auf der “I Want It That Way”-Single mit dabei, “I’ll Be There For You” sogar auf “I Want It That Way” und “Show Me The Meaning Of Being Lonely”, “If You Knew What I Knew” ist der Bonus bei “Larger Than Life” und “You Wrote The Book On Love” ebenfalls von “Show Me The Meaning Of Being Lonely”. Hardcore-Fans, an die sich also Millennium 2.0 richtet, holt das wahrscheinlich nicht so ab. Wer die Songs nicht kennt, könnte sich aber besonders mit dem R’n’B-Soul in “If You Knew What I Knew” und dem smoothen “You Wrote The Book On Love” anfreunden, die beide gerne statt “Spanish Eyes” oder “No One Else Comes Close” aufs Album gedurft hätten. Die als “No Goodbyes” bekannte Version von “I Want It That Way” hat hier nun mit dem Titel “I Want It That Way (Alternate Lyrics)” endlich ein offizielles Release. Seit den 2000ern kursiert die Variante in mittelprächtiger Tonqualität durchs Netz, nun klingt der Track sehr ähnlich zu der Studioversion des Welthits. Background dazu: Eigentlich wollte man “I Want It That Way” in der “No Goodbyes”-Variante veröffentlichen, da der Text hier auch Sinn ergibt und nicht wie bei “I Want It That Way” ziemlicher Bullshit ist – das lag übrigens an Max Martin, der zu dem Zeitpunkt noch nicht gut genug Englisch sprach. Das Label hat die Lyrics überarbeiten lassen, am Ende entschied man sich aber doch für die eingängigere Martin-Version. Das “The Perfect Fan (Demo)” macht seinem Namen alle Ehre und klingt dem Original sehr ähnlich, nur dünner und nicht vollgenug gemischt.
Bei den Liveaufnahmen gibt es die vier Singles des Albums zu hören sowie “Don’t Wanna Lose You Now” und “Don’t Want You Back”. An vielen Stellen kommen die starken Vocals der Fünf durch, die jedoch an anderen wiederum durch die sehr lauten Playbacks untergehen. Hier kommt einiges vom Band, es wird besonders im Chorus eher nur drübergesungen, was daran liegt, dass alle auch körperlich bei den Shows immer richtig reinklotzen durften – irgendwo muss man eben Abstriche machen. Nette Zugabe also, aber auch nicht so groß abweichend von den Studioversionen. Bleibt unterm Strich noch das komplett neu eingesungene “Hey” übrig. Cool wäre gewesen, wenn auch hier ein Track von Max Martin genommen worden wäre. Stattdessen ist “Hey” vor allen Dingen lyrisch eine schöne Umschreibung für den Verlauf einer Beziehung – vom ersten “Hey” bis zum finalen Schlussmachen, bei dem man sich insgeheim wünscht, zurück zum “Hey” zu kehren. Der Song wurde schon im Februar diesen Jahres herausgebracht, verfehlte jedoch leider sämtliche Charts. Sehr nette Halbballade, die nach Backstreet Boys klingt, aber trotzdem sich dem Millennium-Universum nicht ganz fügt. Wahrscheinlich wäre wirklich eine Martin-Nummer der Schlüssel zum runderen Gesamtbild gewesen.
Nevertheless ist Millennium von den Backstreet Boys ein Zeitdokument rund um den Jahrtausendwechsel. Ein Album der Gen Y, der Millennials. Zufall mit derselben Bezeichnung der Generation? We doubt it. Uplifting Powerpop, wie man ihn damals liebte – und der zurecht 25 Jahre überlebte. Geht mal zu ‘nem Konzi der Jungs, macht echt Spaß!
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