Buchreview: Hendrik Bolz – Nullerjahre

Buchreview: In seinem Literaturdebüt "Nullerjahre" lässt Hendrik Bolz seine ostdeutsche Jugend Revue passieren. Ein wahrlich relevantes Werk!

Eine angenehme Erfahrung ist es nicht „Nullerjahre“ zu lesen, das Literaturdebüt von Zugezogen Maskulin Rapper Hendrik Bolz über seine Jugend im ostdeutschen Küstenstädtchen Stralsund. „Woke“, „aware“ und „inclusive“ ist dort tatsächlich wenig. Trotzdem sollte jede*r einmal einen Blick in das Buch werfen, denn der beschriebene Alltag – so trist und übergriffig er auch ist – war traurige Realität, die noch bis ins Jetzt hinein wirkt.

Es braucht nicht viele Seiten, da wird „Nullerjahre“ schmutzig. Missglückte Toilettengänge, Mobbing, erste Masturbationsversuche, rassistische und schwulenfeindliche Sprache – Bolz beziehungsweise die von ihm beschriebenen Figuren lassen nichts aus. Er nimmt mit in eine Zeit des wirtschaftlichen Abstiegs, die ostdeutschen Nachwende-„Nullerjahre“, und erzählt akribisch Episode für Episode von der prägenden Zeit zwischen dem Alter von fünf und zwanzig Jahren. Dass am Ende der Entwicklung ein Mann steht, der mit seinem Rapkollegen für kluge, sozialkritische Rap-Musik bekannt ist, das ist zwischenzeitlich nur schwer vorstellbar. Etwa wenn Neonazis als die Coolen beschrieben werden, zu denen der junge Bolz und seine männlichen Freunde emporschauen. Einmal nur so gefürchtet sein! Oder wenn Bolz in Gedanken und Taten gewaltvolle Übergriffe heroisiert: Gewalt als ein legitimer und auch der einzig pragmatische Lösungsansatz, als Zeitvertreib. Doch, so unangenehm sie auch sind, all diese Details, all die Erlebnisse sind prägend und damit für die Geschichte essentiell. Du bist ein Abbild der Lernprozesse deiner Vergangenheit könnte ein Fazit sein.

Gelernt hat Bolz vieles – auch wenn er im Buch zumeist nur verdrängt. Panikattacken zum Beispiel, die drückt er immer wieder aus seinem Bewusstsein. Wirklich schockierend sollte Bolz Vergangenheit außerdem auch für Fans seiner Musik nicht sein – immerhin sind jugendliche Drogenexzesse immer wieder auch dort Thema, immerhin existiert ein in Wort und Musik monumentales Stück wie „Plattenbau O.S.T.“. Viele der in letzterem gezeichneten Bilder sind wiederum auch in „Nullerjahre“ präsent: Das Bier auf Ex, das Klauen, das junge-Bäume-Abbrechen, das Gasziehen, die Engelstrompeten. All das erstreckt sich nun auf knapp 330 Seiten und ist nicht auf drei Minuten dreißig verknappt. Mehr und ausführliche Geschichten gibt es daher und sprachlich vor allem lange Aufzählungsketten und Wort-Repetitionen.

All das ist kein rein therapeutisches Abhandeln der eigenen Sozialisation, sondern gleichsam politisch. Genau das begründet die Relevanz von „Nullerjahre“. Dass sich das Nazitum als akzeptierte Subkultur anbieten darf und dadurch von Heranwachsenden als spannend erachtet werden kann, das hängt offensichtlich zu großem Maße von der Politik und deren Agenda ab – wie Bolz in einem Einschub betont. Immer wieder flankiert er solche politischen Momente mit von Fakten untermauerten Einwürfen. Auch das Umfeld und dessen Umgang mit derlei Menschen werden behandelt. Die Duldung und das Wegschauen der Zivilbevölkerung personifiziert Bolz mehrfach als mürrische, passive Rentner*innen, die Gewalt, Drogenexzesse und andere Straftaten beobachten, nie aber auch nur aktiv einschreiten oder kommentieren. Unterschwellig sind außerdem die Weitergabe von Sexismen und Geschlechterbildern immer wieder Thema. Der junge Hendrik nämlich ist nach außen hin hart wie Stein, im Hintergrund plagen ihn aber die bereits angesprochenen Ängste und Panikattacken.

„Nullerjahre“ also ist ein mehrdimensionales, autobiographisches Stück Literatur über das Aufwachsen in der ehemaligen DDR, über Gewalt und Drogen, Nazivorherrschaft, mentale Gesundheit und Geschlechterrollen. Angenehm sind die Geschichten und Worte, die dort stattfinden, nicht. Einfach die Augen zu schließen – das zeigt die Vergangenheit und auch das Buch – jedoch ist keine Option. Selbst wenn das Hinschauen schmerzt.

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So hört sich die Musik von Hendrik Bolz an:

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Foto von Jonas Horn.

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