Für jüngere Menschen in Deutschland fühlte sich Krieg wohl noch nie so nah an wie jetzt. Auch wenn wir von einem so erstrebenswerten Ziel wie Weltfrieden leider immer zu weit entfernt waren, ist doch die aktuelle Lage wahnsinnig bedrohlich. “Das betrifft mich nicht” zählte noch nie, nun haben es aber wohl auch die Allerletzten irgendwie begriffen. Galya Bisengalieva vertont ihre ganz eigenen Eindrücke von Geschehnissen und Entscheidungen, die man niemals begreifen wird. Dabei dreht es sich um ihre Heimat Kasachstan. Eine äußerst emotionale Ausgangssituation also.
Galya wurde in Kasachstan geboren, studierte in London an der Royal Academy of Music und lebt dort auch bis heute, ist sie nämlich tatsächlich die Leitung des London Contemporary Orchestras. Als Violinistin ist sie weltweit gefragt. Sie war Teil diverser Filmsoundtracks, unter anderem von dem Horrorfilm “Suspiria” sowie von dem Oscar-nominierten “Der seidene Faden”, aber noch mehr von dem Oscar-Gewinner “Im Westen nichts Neues”. Gibt weitaus erfolglosere Werdegänge.
Doch innerlich kann es natürlich oft auch ganz anders aussehen. Fame hin oder her. Seit 2018 veröffentlicht Galya Bisengalieva ihre eigenen Solowerke, bei denen sie sich komplett freientfaltet und auch gern mit Hörgewohnheiten bricht. Kleine Herausforderungen für sie selbst, aber auch für diejenigen, die sie konsumieren. Gerade erschien ihr zweites Album, das zweifelsohne einer Therapie gleicht.
Polygon schimpft sich der 33-minütige Gruseltrip, dem man auch ganz ohne Backgroundwissen schon anmerkt, dass dem Projekt wenig Freude innewohnt. Hoffnung gibt es, die stirbt ja bekanntlich nie. Aber Freude? Dafür ist die Geschichte doch viel, viel zu ernst, zu erdrückend und unerklärlich. Im Fokus steht das Gelände Semipalatinsk. Dieses befindet sich in der kasachischen Steppe auf einer Anhöhe von rund 300 Metern, einige Gebirge erreichen aber bis zu 1200 Metern an Höhe. Das Gebiet ist 18.000 Quadratkilometer groß. Ja, Kasachstan ist generell ein flächenmäßig arg großes Land und dafür mit nicht mal 19 Millionen Menschen relativ dünn besiedelt. Genügend Platz also, um völlig freizudrehen und das Gelände für Atomwaffentests zu nutzen.
Da dreht sich doch direkt der Magen um. Zwischen 1949 und 1989 wurden hier fast 500 (!) nukleare Bombentests durchgeführt, um militärisch gewappnet zu sein. Das entspricht somit circa einer Bombe pro Monat. Selbstredend entwickelte sich daraus eine erhebliche Strahlenbelastung der Atmosphäre, die selbst 20 Jahre nach der letzten Sprengung noch 400-mal höher ist als der empfohlene Maximalwert. Ein Großteil der Menschen, die in umliegenden Wohnorten leben, hat Krebs, werden jedoch von der Regierung nicht als Opfer der Tests anerkannt. Heute ist das Gebiet zwar Sperrgebiet, wird aber kaum kontrolliert, sodass es nahezu für jede*n offensteht.
Mit genau diesem Gefühl gehen wir nun in die gute halbe Stunde von Galya Bisengalieva, die zwar längst ihr Land hinter sich gelassen hat, aber sich weiterhin intensiv mit dessen Historie auseinandersetzt. Die sieben instrumentalen Tracks auf Polygon sind kein Easy Listening, als Entspannungsmusik auch meist ungeeignet, da sie eben eher unwohle Gänsehaut erzeugen. Aber sie sind dafür spannend.
Beginnt sie im Opener “Alash-Kala” eher im haunting Filmstil wird es zum Ende raus bei “Balapan” teils extrem elektronisch, fast schon technoartig. Es werden also einzelne Atmosphären geschaffen, die einen auf eine Gedankenreise mitnehmen, herausfordern und wie Storytelling ohne Worte wirken. Zum Start ist das Ganze wie ein Einkehren in eine verlassene, trockene Stadt. Man schaut nervös, aber neugierig umher. Dann fühlen sich die klirrenden, mit Loop-Effekten verschrobenen Streicher in “Saryzhal” an, als ob man in einer Zeitschleuse feststeckt. Immer wieder kracht und zischt es. Ab und zu hat es einen Hauch Schönheit und Wärme, bis dann wiederum im Titeltrack “Polygon” alles im wahnsinnig ungemütlichen Horrorszenario gipfelt. Genau hinhören! Habt ihr auch das Gefühl, hier gibt es Hilferufe? “Chagan” fühlt sich an wie der Moment danach. Fast schon betäubend.
Es überrascht, dass es selten knallend oder gar richtig laut wird. Die LP präsentiert eher Soundwaben, die wie ein Gang durchs Gelände heute wirken. Natürlich kann man diese irre Fahrt zwischen Ambient und experimenteller Klassik durch Polygon unternehmen, indem man sich immer wieder sagt, dass es sich ja um Musik und die Vergangenheit dreht. Über 30 Jahre her, ich bin super safe. Fakten beweisen aber, dass von den geschätzten 13.000 Atombomben, die gegenwärtig existieren, über ein Drittel in Russland lagern, fast ein weiteres Drittel in den USA. Gedanken kappen und verdrängen oder die Angst zulassen? Galya gibt Anstöße, ihr wählt, wie weit ihr sie mitspielt. Mutiges, verstörendes Werk.
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