Abenteuerland, Capitol Theater Düsseldorf, 22.10.2023

abenteuerland düsseldorf 2023

Eine Musicalweltpremiere gibt es in Deutschland nicht alle Tage. Meistens wird geschaut, was am Londoner West End oder New Yorker Broadway die letzten Jahre richtig abgefeiert wurde, um es daraufhin zu uns zu holen. Meist ist Hamburg dann the place to be. Stücke, die in deutschsprachigen Ländern entstanden sind und richtig große Erfolge mit bleibendem Eindruck feiern durften, gibt es wenige. „Elisabeth“, „Tanz der Vampire“, dann hört es schnell auf. Mit Abenteuerland wird somit ganz schön was gewagt. Einerseits geht man dafür ins nicht unbedingt für Musicals bekannte Düsseldorf, andererseits entscheidet man sich – der Name lässt es vermuten – für ein Jukebox-Musical mit den Songs von Pur.

Pur gehören seit mindestens drei, fast schon vier Dekaden zu den größten deutschen Bands. Besonders die 90s sind das Jahrzehnt der in Baden-Württemberg gegründeten Truppe. Bis heute werden große Arenen ausverkauft. Gerne übrigens in NRW, wie Frontmann Hartmut Engler sagt. Auch wenn Pur seit Beginn an immer ein wenig mit Häme umgehen mussten, so ist die Fanbase wirklich riesig und treu. Und wer den berühmten Party-Mix nicht mal unfreiwillig mitsingen kann, muss auf einem anderen Kontinent leben.

Material hat sich in rund 40 Jahren mehr als angehäuft. Eines der markantesten Pur-Merkmale ist wohl der Hang zu einer recht eigenwilligen Metaphorik. Die mag manchmal ein wenig irritierend daherkommen, trifft aber oft emotional einen ganz sensiblen Nerv. Viele Geschichten der Songs spielen in fantastischen Welten. Doch, was deutschsprachigen Pop-Rock angeht, hat die Band schon einige große Bretter geliefert. Viele Hits? Lyrics mit Fantasie? Emotionen? Das ruft doch förmlich nur nach Musical.

Pur sind mit ihrem, nach dem erfolgreichsten Album benannten Abenteuerland nicht die Ersten, denen ein eigenes Musical gewidmet wird. Nutzt ein Musical bereits komponierte Titel, um um sie herum eine Geschichte zu spinnen, spricht man von einem Jukebox-Musical. Das unterscheidet sich im Kern am Ende aber in zwei Kategorien: Musicals, die die Geschichte der Originalinterpret*innen zeigen – z.B. „Tina“, „Buddy“ oder auch das hier entstandene „Hinterm Horizont“ mit UdoLindenberg-Titeln. Bekannter und gängiger sind aber eher die Stücke, in denen eine fiktive Story im Mittelpunkt steht und Musik eines Acts eingebunden wird. „Saturday Night Fever“, „Mamma Mia“, „We Will Rock You“, das aus Deutschland kommende „Ich war noch niemals in New York“ – da gibt’s so einiges.

Abenteuerland, das am Sonntag, dem 22.10.23 im Düsseldorfer Capitol Theater Weltpremiere feiert – berühmte Gäst*innen auf den Sitzen sind u.a. die Pur-Band selbst, Sky du Mont, Max Giesinger und Lars Tönsfeuerborn -, entscheidet sich für die zweite Kategorie. Zwar tauchen vereinzelt kleine Easter-Eggs aus der Biografie Purs auf, aber die eigentliche Geschichte hat mit der Band nur sehr wenig gemein. Vielleicht gab es dahingehend zu wenig zu erzählen, es war der Gruppe doch zu persönlich oder man ging davon aus, dass das Interesse schließlich nicht groß genug an einer Pur-Bio sein könnte. Doch genau das spannende „Nicht wissen, was passiert“-Gefühl holt zur ersten offiziellen Vorführung nach fast zwei Wochen Preview-Shows 1100 Besucher*innen in die Landeshauptstadt. In dem wirklich schönen Theater liefen über viele Jahre wechselnde Produktionen, einiges auch außerhalb des Musical-Genres. Um etwas zu finden, was über einen längeren Zeitraum als ein paar wenige Wochen dort zu besuchen war, muss man schon etwas in den Erinnerungen kramen. Im Kopf blieben aber wohl die Uraufführungen von „Miami Nights“ und „Kein Pardon – Das Musical“ sowie die Deutschlandpremiere von „Shrek – Das Musical“.

Düsseldorf ist also zurück im Game. Weltpremiere mit einem Stück voller Songs, die wirklich jede*r kennt und einen Platz in der deutschen Pop-Geschichte einnehmen. Hervorragende Voraussetzungen. Doch leider kippt’s an dieser Stelle. Eine Kurve nach unten entsteht, die über ein halbes Jahr ansteigende Vorfreude weicht dem Gefühl des Erlebens – und das ist fast durchweg eine richtige Enttäuschung. Abenteuerland hatte gute Voraussetzungen, hat’s aber final wirklich gegen die Wand gefahren.

Worum geht’s denn nun eigentlich? Schließlich ist die Story ein entscheidender Anteil. Here we go: Familie Schirmer ist ein Drei-Generationen-Haushalt. Oma Lena – ihr wisst Bescheid – ist nach dem Tod ihres Mannes im vergangenen Jahr einsam und möchte, dass ihr Leben nicht schon auserzählt ist. Zwischen Vater Robert und Mutter Petra kriselt es ganz schön, Petras Geburtstag wird zum wiederholten Male von mehreren vergessen. Wertschätzung sieht in ihren Augen eindeutig anders aus. Tochter Anna wird in der Schule ordentlich gemobbt und ist unglücklich verliebt. Sohn Alex steckt in den Abi-Vorbereitungen, kämpft mit den Strapazen seiner Liebeleien und träumt davon, mit seinem besten Freund Tom und der gemeinsamen Band durchzusteigen.

Das klingt erstmal ganz solide. Allerdings gerät Abenteuerland in der Umsetzung schon nach wenigen Minuten ordentlich ins Straucheln. Das große Problem: Wirklich gut ist gar nichts. Es ist zwar auch wenig richtig schlecht, aber dass das Stück eben in keiner Kategorie etwas wirklich Gehaltvolles bietet, macht es ganz schön schwierig. Bleiben wir zunächst bei der Story, die es erschreckenderweise nicht über einen sehr beliebigen, unterdurchschnittlichen Sonntagabendfilm hinausschafft. Man probiert zwar mit einer Großmutter, die Onlinedating versucht, unglaublich modern zu sein, macht es dann aber mit Sprüchen wie „Abgespaced! Du bist ja eine richtige Online-Oma“ total zunichte. Eine Mutter, die keine Lust mehr darauf hat, nur Mutter zu sein, ist natürlich ein guter Ansatz, aber auch locker zehn Jahre zu spät. Sowieso bekommt man den Spagat zwischen „Wir müssen auf jeden Fall einem Ü50-Publikum gefallen“ und „Wir zeigen aber auch viele U20-Protagonist*innen“ gar nicht hin.

Da gibt es auf der einen Seite arg gestellte Schulszenen, bei denen sich ein Anglizismus an den nächsten reiht, um voll 2023 zu sein, dann aber nur wenige Sekunden später auf der anderen Seite den guten Pur-Song „Herzbeben“, der lyrisch zero mit dem matcht, wie die Schüler*innen sich unterhalten. Auch eine Schulband, die „Ich lieb‘ dich (egal wie das klingt)“ als total geilen Text bewertet – nochmal zur Sicherheit: Wir mögen den Song! -, der unbedingt für den Bandcontest genutzt werden muss, ist wahnsinnig unauthentisch und einfach nicht harmonisch mit dem, was sonst gerade passiert.

Ansonsten hangelt man sich in der Geschichte – ACHTUNG: Hier folgen inhaltliche Spoiler -, die wirklich sehr viel will und alles probiert hineinzuquetschen, fast durchweg nur an Klischees und ordentlich Drama ab. Die gemobbte Tochter, die sich probiert zu suizidieren. Das wird dann auf Metaebene von einer Freundin mit „Ich habe dir die Nummer gegen Kummer herausgesucht“ kommentiert, was zwar zeigt, dass Rücksicht auf psychische Erkrankungen genommen wird, aber wie ein Check auf der To-Do-List und holprig erzählt wirkt. Anderes Beispiel: Der beste Kumpel, der schwul und in seinen Besten verknallt ist, es sich irgendwann sogar traut zu sagen, einen Korb kassiert und dann einfach wieder doch nur Best Buddy ist, ohne nachhaltige Veränderung im Ablauf. Schwuler Charakter? Ok, haben wir auch. Check. Das nennt man dann „Pink Washing“, wenn ein Charakter nur dafür da ist, dass er eben da ist, es aber im Wesentlichen heteronormativ bleibt. Dann gibt es ungewollte Schwangerschaften, an allen Ecken ganz viel Unwohlsein, was sich aber alles in Soap-Manier wahnsinnig schnell auflöst, um bloß das Publikum mit Happy End zu entlassen. Hier wären viel weniger Charaktere, dafür aber einfach mehr Tiefe, mehr Realität und mehr wirkliches Bewusstsein für die Gegenwart so, so viel gehaltvoller gewesen.

Bühnentechnisch ist Abenteuerland ok. Die Kulissen wechseln einige Male, es wird auf mehreren Ebenen gespielt. Ein paar witzige Überraschungen werden durch Visuals auf mehreren Leinwänden geliefert, wie ein an den Wänden des Theaters vorbeirauschender Zug oder lustige Zugverspätungen auf Anzeigetafeln. Allerdings vergisst man in der Romcom oft den Comedy-Part. Es gibt Gags, die aber meist nur für Schmunzler genügen. Vielleicht kennen einige von euch das Musical „Wahnsinn“ mit der Musik von Wolfgang Petry, das ebenfalls verzwickte Familienkonstellationen zeigt, aber ganz besonders im Humoranteil entschieden besser funktioniert. Die restlichen Requisiten sind nicht schlecht, aber auch nicht wahnsinnig spektakulär. Ein rührender wie gleichzeitig auch optisch netter Moment wartet gen Ende auf die Besucher*innen. Im Mittelpunkt: Ein Motorrad.

Das Beste an Abenteuerland ist, wie man es nun schon erwartet hat, die Musik. Mit 30 Songs von Pur – darunter alles Bekannte, aber auch Fan- und Bandlieblinge – wird in der Quantität ordentlich serviert. Die Songs haben in den Melodien und in den Lyrics meist wirklich was zu bieten und erzählen eine Geschichte. Diese sind aber im Setting manchmal dermaßen weit voneinander entfernt – logisch, haben Pur ja keine Konzept-Discographie -, dass es sowieso schwierig wird, von A nach B zu leiten. Aber über die Story haben wir uns bereits ausgelassen. Stattdessen zeigt sich während des zweimal 70 Minuten langen Musicals, dass Hartmut Engler eben über lange Zeit wirklich einer der besten deutschsprachigen, männlichen Sänger war und es nicht so easy ist, die Songs für so viele Stimmen zu arrangieren. Und so misslingt auch das ziemlich häufig. In den Tonarten hält man sich grob ans Original, wenn überhaupt geht man mal einen halben oder ganzen Ton hoch oder herunter. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass es für einige Frauen zu tief wird, oktaviert zu hoch, für einige Männer genauso.

Jukebox-Musical-Vorteil: Alle kennen und mögen die Songs. Jukebox-Musical-Nachteil: Alle kennen und mögen die Songs. Gerade als Fan geht man natürlich mit einer hohen Erwartungshaltung ans Stück und muss sich dahingehend oft mit reduzierten, viel weniger rockigen Arrangements anfreunden. Besser als die Originalversionen ist hier eigentlich nichts. Das mehrstimmige Opening „Abenteuerland“ mit der gesamten Cast ist noch ganz gut, in dem es eine Chor-Version des 90s-Hits liefert. Größtenteils ist das Musical aber aus Soli und Duetten zusammengestellt, die alle immer ok klingen, aber nie so intensiv wie auf einem Pur-Konzert. Die Texte sind im Kern identisch, werden nur mal in den Pronomen oder im Tempus angepasst, sodass aus „Und sie steht wieder allein vor dem Spiegel“ beispielsweise ein „Ich steh allein vor dem Spiegel“ und aus einem „Ich hab‘ geweint vor Glück“ ein „Ich weine vor Glück“ wird.

Womit wir beim zweiten Hauptproblem neben dem Libretto wären: Die Cast. Premierenabend, also First Cast. Das macht ein wenig Bauchschmerzen, denn gleich mehrfach gibt es während der Aufführung unsaubere oder sogar falsche Töne und nicht korrekt gesungene Harmonien zu hören. Das können sogar Laien erkennen, dass das für eine Produktion dieser Größenordnung nicht ausreicht. Allen voran muss Carolin Soyka als Petra hier dringend aufholen, gibt es in gefühlt keinem ihrer Songs keine falsche Stelle. Auch Regina Venus als Oma ist selten richtig in der Mitte. Positivbeispiele im Gesang sind Hannes Staffler als Vater, der in manchen Momenten oben im Belt richtig schön klangvoll klingt und den Rockaspekt von Pur liefert. Lukas Baeskow als Tom hat einen kurzen, aber dafür schönen Augenblick an einer Akustikgitarre, den er als seinen „Moment to Shine“ nutzt. Kim-David Hammann liefert gewohnt gute Töne, hat dafür aber die undankbarste Rolle. Wer und was genau Mr. X am Ende ist, erschließt sich nicht komplett. Ein Kommentator des Geschehens? Der Tod? Eine Depression? Schwierig. Schauspielerisch ist die gesamte Cast erneut durchschnittlich und gern mal unnötig drüber, statt zurückhaltender. Wirklich sehr positiv erwähnenswert ist, dass man besonders im Alter probiert, divers zu sein, gibt es doch oft in Musicals viel zu selten Rollen für ältere Darsteller*innen. An dieser Stelle ein aufrichtiges Kompliment.

In der Technik gibt es die ersten zehn Minuten ganz schöne Probleme mit den Mikros, das regelt sich dann aber. Typisch Premiere, somit absolut ok. Ab da an ist der Sound in Ordnung. Die sechsköpfige Band spielt gut und wird dem Pur-Sound gerecht. Doch am Ende fällt man das persönliche Urteil wohl nicht anhand der Band-Qualy.

Das Highlight folgt nach der letzten Spielszene: Ein Hit-Medley. Hier darf man wie auf den guten, alten Familienpartys vom Sitz springen, mitklatschen und -grölen und nur die Ohrwürmer feiern. Aber das ist schließlich keine Tribute-Show, sondern immer noch ein Musical. Nice to have, nicht mehr. Abenteuerland tut sich leider in vielerlei Hinsicht keinen Gefallen. Beim Verlassen des Saals kommt man über ein ZDF-20-Uhr-15-Musicalfernsehfilm-Gefühl nicht hinaus. Die tollen Songs, von denen man zurecht Anhänger*in sein kann, sind auf einem Pur-Konzert wesentlich erlebnisintensiver und dürfen bei einem Jukebox-Musical nicht den ausschlaggebenden Faktor spielen, weil sie ja schon vorher gut waren. Stattdessen enttäuschen die konstruierte und enorm altbackene Story sowie die maximal durchschnittliche Cast. Schade.

Und so sieht das aus:

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Foto von Christopher

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