Erfolgreiche Künstler*innen bzw. Bands spalten die Zuhörerschaft meist in zwei Lager. Die eine Seite bekommt auch nach zig Jahren und Alben nicht genug, die andere bereits bei einem Song schon entschieden zu viel. Im Fall von Pur ist genau diese „Hate it or love it“-Reaktion von Anfang an Tagesordnung – umso erstaunlicher, dass Hartmut Engler, Joe Crawford, Rudi Buttas, Ingo Reidl und ihre immer mal wechselnden Begleitmusiker seit mittlerweile vier Dekaden ihren Hassern strotzen und sich stattdessen auf die positiven Rückmeldungen konzentrieren. Durchhaltevermögen soll belohnt werden.
40 Jahre ist schon eine Hausnummer. Gerade im deutschen Raum sind Formationen, die über neun Millionen Einheiten ihrer Longplayer verkauft haben, rar gesät. Schaut man dann nach denen, die auch noch auf Deutsch singen, wird es nochmal übersichtlicher. Pur waren auch in den Zeiten, in denen das deutsche Wort als No Go in der Popmusik galt, stets in ihrer Muttersprache unterwegs und schämten sich dafür keine einzige Sekunde. Das taten zwar genug andere für sie, aber geschenkt. Seit 1993 geht ausnahmslos jedes Album mindestens bis auf Platz 2 der Albumcharts und wird vergoldet. In Zahlen sind das zehn von 16 LPs. Selbst unter den Livealben und Kompilationen gibt es da keine Ausnahme. Erstmal nachmachen.
Eigentlich sollte die vierte Null mit einem MTV Unplugged gefeiert werden. Das ließ eh außergewöhnlich lange auf sich warten. Mittlerweile darf da ja jeder mitmachen. Pur scheinen aber einen Moment zu lange damit gewartet zu haben: durch das Coronajahr 2020 muss sowohl die Tour als auch die Veröffentlichung der neuarrangierten Nummern verschoben werden. Geburtstage ohne Feierei und Geschenke gelten jedoch nicht. Also wird kurzzeitig umstrukturiert, zurückgeschaut und ein Best of zusammengestellt.
Mit 100% Das Beste Aus 40 Jahren steht ein großes Bündel an Hits im Regal, das leider einen arg plakativen Namen trägt. Umso hübscher ist die Covergestaltung, die einige Symbole aus diversen Zeiten vereint. Final geht es aber selbstverständlich um den Inhalt. Potenzielle Käufer*innen dürfen sich zwischen einer Standard-2-CD und einer limitierten 3-CD-Edition im Buchlook entscheiden. 37 oder 55 Tracks, das ist hier die Frage.
Wie so oft geht es bei Best of-Platten nicht nur um gute Songs an sich, sondern selbstverständlich um Vollständigkeit, Konzept, Notwendigkeit in der Diskographie oder auch um Kaufanreize für Hardcorefans. Tatsächlich handelt es sich erst um die zweite klassische Greatest Hits-Sammlung im Pur-Universum. Zum 20-jährigen gab es ein ähnliches Produkt. Und ja, 20 Jahre später darf man das gerne wiederholen und aufpeppen. Pur haben nach ihrer letzten Werkschau sechs Longplayer und damit genug neues Material veröffentlicht, um erneut zusammenfassen zu dürfen. Das geht also klar durch. Doch wie sieht’s mit den inhaltlichen Hardfacts aus?
Mit 27 Singles in den deutschen Top 100, wovon immerhin sieben die Top 10 sehen durften, wird bereits deutlich, dass Pur nicht die größte Singlesband sind. Besonders schade ist dann, wenn von den 27 Singles gerade 20 den Weg auf die 3-CD- und sogar nur 16 auf die 2-CD-Variante gefunden haben. Da wäre ein lückenloser Rundumschlag bei 55 Songplätzen locker möglich gewesen. Besonders das Fehlen von „Dass es dir leid tut“, „Weil du bei mir bist“ und der Top 10-Single „Halt dich fest“ fallen arg negativ ins Gewicht. Unnötig.
Konzeptuell wird auch kaum ein klares Bild deutlich. Hier wird wild durch alle Jahrzehnte und Schaffensepochen gehüpft. CD1 konzentriert sich auf das absolute Hit-auf-Hit-Feuerwerk und liefert Klassiker des Deutsch-Pop-Rock-Schlager (wie man auch immer Pur persönlich einordnen mag) am laufenden Band. „Lena“, „Funkelperlenaugen“, „Abenteuerland“, „Ich lieb‘ dich (egal wie das klingt)“, „Freunde“, „Hör gut zu“, „Indianer“, „Wenn sie diesen Tango hört“, „Wenn du da bist“, „Ein graues Haar“ oder „Herzbeben“ lösen beim bloßen Lesen Ohrwürmer aus und sollten jedem/jeder deutschen Mitbürger*in, der/die jemals eine große Familienfeier, eine Fete im Schützenverein, einen Biergarten, eine Retroparty oder einen Discofoxkurs besucht hat, ein Begriff sein. Das ist auch voll ok und gut so. Große dramatische Emotionsbomben wie „Geweint vor Glück“ verdienen mehr Aufmerksamkeit und gehen zu Unrecht oft im Oeuvre unter. CD2 liefert weitere große Lieder, darunter einige unbekannte, aber gelungene Albumtracks („Verboten schön“), politisch-kritische Hymnen („Neue Brücken“) und weniger erfolgreiche Singles, die wiederentdeckt werden wollen („Walzer für dich“, „Wiedersehen“). Allein für Fanfavoriten wie „Es tut weh“, „Der Dumme“ und den nie totzukriegenden „Party-Mix“ lohnt sich die Deluxe Edition mit Tonträger Nr. 3. Und ja, bei einem derartig großen Repertoire wird man immer persönliche Lieblingstitel suchen und sie nicht finden („Ungeheuer“, „Allein vor dem Spiegel“).
Wie bereits erwähnt, haben Pur eine sehr große Fangemeinde, die wahrscheinlich die komplette Diskographie schon im Regal stehen hat. Für diejenigen, an die sich laut Band die Veröffentlichung richtet, wird allerdings wenig Überraschendes geboten. Drei neue Titel („Keiner will alleine sein“, „Wundertüte“, „Dieser Tage“), wovon sich besonders der erste als Opener mit seiner „Wir müssen in Coronazeiten alle zusammenhalten“-Thematik eher unangenehm hervorhebt, zusätzlich ein neu eingesungener Party-Mix, der dem Original in der Auswahl ähnelt, es aber zumindest nicht 1:1 kopiert, leider jedoch etwas energiearm wirkt und eine Live-Version von „Funkelperlenaugen“ aus 2019. Gerade die Entscheidung, lediglich diese eine Liveaufnahme mit auf die Kompilation zu packen, ist seltsam und ein wenig willkürlich. Eine Band, die besonders durch ihre Bühnenqualität ihre Anhänger weiterhin bei Laune hält, und auf der letzten Greatest Hits mehrfach Live-Songs lieferte, würde sich einen Gefallen tun, wenn sie sich entscheiden würde: eine reine Studioauswahl oder ein ausgewogener Mix. Merkwürdig. Absoluter Fehlgriff ist jedenfalls ein Medley mit Helene Fischer am zweiten Mikrofon. Reißerisch, aber gleichzeitig auch unangenehm. Muss man die Helene-Fanboys wirklich auch noch ins Boot holen?
Gelegenheitshörer, die eine gute Werkschau möchten, sind mit der 2-CD-Edition von 100% Das Beste Aus 40 Jahren gut, aber keinesfalls sehr gut bedient. Bei drei CDs und insgesamt vier Stunden Musik ist der Overkill aber ein wenig vorprogrammiert. Die Entscheidung liegt letztendlich bei einem selbst. Musikalisch hat Pur dank eines hohem Wiedererkennungswertes sowohl durch Gesang als auch durch Sound und einem guten Stück Einzigartigkeit weiterhin Relevanz. Pur sind ein Stück deutsche Musikkultur. Irgendwie gibt es einem doch auch ein hübsches Gefühl, wenn man sieht, dass nicht alles so schnell zu Ende geht, sich Zusammenhalt auszahlt und die Jungs ohne Eskapaden weitermachen.
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