Breite Synthesizer-Bässe, eine knarzende Kick-Drum, triolische Hi-Hats und Autotune-Gesang. All das zu einem Ganzen vermengt ergibt eine Erfolgs-Formel, die gegenwärtig die Charts dominiert und sich New-School-Rap tauft. Lang lebe der Zeitgeist! Wenn „Hell“, das 13. Studioalbum der Die Ärzte, mit „EVJMF“ einsteigt, kann man sich durchaus einen Moment lang irritiert fragen, ob man sich in eine der großen Deutschrap-Playlisten verirrt hat, die diese Leitmotive prominent zur Schau stellen. Aber spielen die nicht eigentlich Punk-Rock? Tatsächlich, der zeitgenössische Opener des ersten Die Ärzte-Albums seit achteinhalb Jahren täuscht mit seinem Modus Mio-Sound geschickt darüber hinweg, dass die Welt für „die beste Band der Welt“ still zu stehen scheint. „Hell“ ist nämlich so sehr Die Ärzte, wie ein Album nur Die Ärzte sein kann – auch trotz seines irreführenden Eröffnungsstücks.
Von der Schande der Welt und dem Glück der Ärzte
Einmal das Schlechte vorweg: Dass Die Ärzte Trends hinterherhinken – immerhin beträgt der Altersdurchschnitt der drei Mitglieder mittlerweile 55 Jahre (ok, boomer) – offenbart sich unangenehm deutlich im Nummer 1-Song „True Romance“. Zum Glück bleibt der Text der Hit-Single – Alexa-Witze waren schon 2017 lange auserzählt – der einzige verunglückte Versuch sich dem Zeitgeist anzubiedern. Ja, es gibt – Gott sei Dank – keine „Das Internet ist Neuland“-Witze auf dem ersten relevanten deutschsprachigen Rock-Album der 2020er-Jahre, auch wenn man es den Protagonisten doch zutrauen würde!
Da können wir nahezu von Glück sprechen, dass die Probleme der Welt auch knapp drei Dekaden nach der Die Ärzte-Wiedervereinigung noch dieselben sind, sich höchstens zugespitzt haben. Nazis: Sind noch immer da. Der liberale Kapitalismus leider auch. Ok, vielleicht gibt es ein paar mehr Verschwörungsidioten und die Klimakrise hat sich mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein gedrängt. Neu sind beide Problemzonen aber keineswegs. Wenn Bela B, Farin Urlaub und Rod sich in „Polyester“ deshalb über monotonen Repetitionen Umweltverschmutzung annehmen, auf „Fexxo Cigol“ Verschwörungsschwurbler*innen Hopps nehmen und sich für „Liebe Gegen Rechts“ sowie „Woodburger“ dem Allheilmittel Liebe bedienen, dann hat das zwar Bezüge zur Gegenwart, ist ansonsten jedoch zeitlos. Zur Schande der Welt, zum Glück der Ärzte.
Was sich einmal bewährt hat
Die vier genannten Stücke bleiben selbstverständlich nicht die einzigen mit gesamtgesellschaftlichem Bezug: Immerhin vereint „Hell“ gleich 18 Songs unter sich. „Achtung: Bielefeld“ – was ein öder Titel – behandelt das Luxus-Problem „Langeweile“ und kriegt zur Bridge einen ernsten Twist, „Wer Verliert, Hat Schon Verloren“ ermutigt kryptisch weiter für das Gute und gegen Babylon einzustehen und „Ich, Am Strand“ enttarnt die Eindimensionalität von Social-Media-Selbstdarstellungen. Neben der guten alten Gesellschaftsskizze vereint „Hell“ zudem zwei Großbereiche, die ebenfalls kein Ärzte-Neuland darstellen. „Clown Aus Dem Hospiz“ geht der Legende nach, dass gute Kunst tiefes Leid braucht und „Plan B“ skizziert das Rockstarleben als alternativlos. Es gibt außerdem Lieder über Gitarristen und – natürlich – Punk. Ja, BelaFarinRod beschäftigen sich immer noch sehr, sehr gerne mit sich selbst.
Und natürlich liefern Die Ärzte auch 38 Jahre nach ihrer Gründung vielfach das, wofür Fans sie schätzen: Viel Quatsch. „Einmal Ein Bier“ ist eine obskure Erzählung in Songform, „Alle Auf Brille“ ein breitbeiniger Oi-Punker mit Schwachsinns-Text und „Thor“ eine Abrechnung mit ungesunden Ernährungsweisen. Neu und innovativ ist das alles nicht. Freude bereitet es trotzdem. Und auch die Musik bringt viel typische Die Ärzte-Kost: „Das Letzte Lied Des Sommers“ ist „Westerland“ 2.0, „Plan B“ und „Warum Spricht Niemand Über Gitarristen?“ sind typische Ärzte-Punk-Rocker und „Liebe Gegen Rechts“ ein Irish-Punk-Tanzflächen-Hit. Nahezu durchgängig bewegen sich die 18 Songs dabei jedoch auf einem so hohen Niveau, dass man der Band die kaum zu erkennende Fortentwicklung gerne verzeiht. Neue Zielgruppen müssen sich die drei ja eh nicht mehr erspielen.
„Hell“
Auch die Veröffentlichung von „Hell“ umgibt Ärzte-typischer Wahnsinn. Die knapp einstündige Platte – das Songwriting dominiert übrigens Urlaub – erscheint auf exakt 181 Gramm schwerem Vinyl samt Buch. Die digitale Version verzichtet zugunsten der Streaming-Optimierung auf den ein oder anderen Übergang und ist etwas cleaner. Ein Fachmagazin-Interview dort, ein reichweitenstarkes Tageszeitung-Feature da und einfach mal nebenbei die Tagesthemen einläuten: Auch die Presse- und Promo-Arbeit der unumstritten witzigsten großen Rockband Deutschlands nährt sich von Größenwahn und Quatsch. Das zugehörige Produkt – „Hell“ – wird dem schlussendlich ebenfalls gerecht und gibt ein ausdrucksstarkes Zeugnis von dem Charakter, der Die Ärzte zu einer derart erfolgreichen Band macht. Kritiker raufen sich da vor Verzweiflung die Haare. Doch die Ärzte können darüber nur lachen.
Hier kannst du dir das Album kaufen.*
Und so hört sich das an:
Die Ärzte live 2021:
30.10.2021 – BERLIN Max-Schmeling-Halle (verlegt vom 18.12.2020)
31.10.2021 – BERLIN Max-Schmeling-Halle (verlegt vom 19.12.2020)
02.11.2021 – FRANKFURT/M. Festhalle (verlegt vom 08.12.2020)
03.11.2021 – FRANKFURT/M. Festhalle (verlegt vom 09.12.2020)
09.11.2021 – HANNOVER TUI Arena (verlegt vom 07.11.2020)
10.11.2021 – HANNOVER TUI Arena (verlegt vom 08.11.2020)
11.11.2021 – BREMEN ÖVB Arena (verlegt vom 15.11.2020)
15.11.2021 – LEIPZIG Arena (verlegt vom 10.11.2020)
16.11.2021 – LEIPZIG Arena (verlegt vom 11.11.2020)
18.11.2021 – KÖLN Lanxess Arena (verlegt vom 13.11.2020)
26.11.2021 – CHEMNITZ Messe Chemnitz (verlegt vom 13.12.2020)
28.11.2021 – ERFURT Messe (verlegt vom 05.12.2020)
30.11.2021 – DORTMUND Westfalenhalle 1 (verlegt vom 01.12.2020)
01.12.2021 – DORTMUND Westfalenhalle 1 (verlegt vom 02.12.2020)
02.12.2021 – DORTMUND Westfalenhalle 1 (verlegt vom 03.12.2020)
05.12.2021 – HAMBURG Barclaycard Arena (verlegt vom 24.11.2020)
06.12.2021 – HAMBURG Barclaycard Arena (verlegt vom 25.11.2020)
08.12.2021 – STUTTGART Schleyer-Halle (verlegt vom 20.11.2020)
09.12.2021 – STUTTGART Schleyer-Halle (verlegt vom 21.11.2020)
11.12.2021 – BAD HOFGASTEIN Sound & Snow (AT) (verlegt vom 11.12.2020)
14.12.2021 – ZÜRICH Hallenstadion (CH) (verlegt vom 21.12.2020)
15.12.2021 – ZÜRICH Hallenstadion (CH) (verlegt vom 22.12.2020)
17.12.2021 – WIEN Wiener Stadthalle (AT) (verlegt vom 17.11.2020)
18.12.2021- WIEN Wiener Stadthalle (AT) (verlegt vom 18.11.2020)
20.12.2021 – MÜNCHEN Olympiahalle (verlegt vom 15.12.2020)
21.12.2021 – MÜNCHEN Olympiahalle (verlegt vom 16.12.2020)
Die Rechte für das Cover liegen bei Hot Action Records.
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Naja, also alleine Zeit mit seinem Handy zu verbringen ist zwar kein neues Phänomen, aber im Jahr 2020 doch ein Thema das wieder auch für im Lockdown festsitzende Real-Life-Fans an Aktualität gewonnen hat. Also wenn Farin so ein Lied schreibt, dann weil es ihn beschäftigt, kann ja sein dass manche Themen bei manchen Menschen, nicht unbedingt nur auf Boomer beschränkt, mit etwas Verzögerung in deren Leben eintritt.
Farin ist der letzte Typ der versuchen würde sich irgendwo anzubiedern, das weiß man wenn man sich etwas mehr mit der Band beschäftigt hat.
Ich muss da jetzt an coole Hipster denken die schon dies und das machten bevor es cool war, und darüber urteilen, was zeitgemäß sei und was als “soooo 2016” geächtet gehöre. Wenn True Romance nicht nach wie vor für viele relatable wäre, wäre es nicht auf Platz 1 gelandet, ganz einfach. Wenn dich der Song nicht abgeholt hat, weil du deine Alexa-Witze-Phase vor 2017 ausgelebt hast, dann ist das so. Aber Farin deshalb nen Anbiederungsversuch zu unterstellen ist etwas voreilig.
Moin Stefan, danke für dein Feedback! Ich bezog mich nicht auf die generelle inhaltliche Ausrichtung des Songs, sondern auf den “Kernwitz”, der nunmal voll auf dieses Alexa-Ding setzt. Genau das haben Adam Angst 2018 schon gemacht und Von Wegen Lisbeth erst 2019 – um mal zwei deutschsprachige Bands als Beispiel zu nennen. Aber: Genau wie jeder Musikgeschmack ist auch Humor am Ende immer subjektiv. Ich finde den Verweis ausgelutscht, das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass du den Joke nicht lustig finden kannst. 🙂 Liebe Grüße Jonas