Vieles, was in der hiesigen wie internationalen Hip-Hop-Landschaft veröffentlicht wird, bezeichnet sich 2020 gerne mal selbst als „zu wild“ oder „way too lit“. Gemeint ist dabei meist keine mutige, gar experimentelle Herangehensweise an das eigene Genre, sondern viel mehr das erfolgsorientierte Kopieren von Formeln, die sich in der Vergangenheit bereits bewährt haben. Auch Jahre nach Drakes Jahrhundert-Hit Hotline Bling ist nicht abzusehen, wie lange Mainstream-RapperInnen rund um den Globus noch mit Afro-Drums unterspielte Trap-Gesänge als „der eigenen Zeit voraus *Feuer-Emoji*“ ankündigen werden. Ja, um den wirklich zu wilden Scheiß zu finden, muss man meist etwas weiter über den Tellerrand blicken – weit hinaus in die ungezähmte Prärie des Untergrund-Raps. Dahin, wo Zugänglichkeit noch immer der Feind einer ordentlichen Subkultur und Easy-Listening ein Schimpfwort für abzulehnende Whack-MCs ist. Einer der dabei zu entdeckenden Exoten ist die New Yorker Rapperin Junglepussy. Ihr drittes Studio-Album „JP4“ ist immerhin weit davon entfernt ein leicht bekömmlicher Snack für zwischendurch zu sein.
Zu wild…
Epische Bass-Lines und minimalistische Drum-Sets, dreckige Störgeräusche und lupenreine Trap-Produktionen, poppige Song-Strukturen und zweiminütige Rap-Parts: Selten hat mich ein Album so verwirrt und zugleich begeistert wie „JP4“. Shayna McHayle, wie Junglepussy abseits des Rapperinnentums heißt, scheint sich auf ihrem neusten Werk konsequent darum zu bemühen, mit den Erwartungen ihrer Zuhörerschaft zu brechen. Immer dann, wenn man glaubt das musikalische Konzept der Platte durchschaut zu haben, zieht die New Yorkerin eine neue musikalische Facette auf. Der Opener „Bad News“ verspricht mit seinen sphärischen Gesängen und einer musikalisch dazu passenden, epischen Aufmachung eine inhaltliche Tragweite, die die Rapperin durch Spoken Word-Zeilen wie „When your friend hits your phone asking if you’re okay and you’re absolutely not, what do you say?“ unterstützt. Nur wenige Sekunden später bringt JP auf „Main Attraction“ roughe Rap-Zeilen über poppigen Melodien, nur um eine Anspielstation später auf „Telepathy“ über einen Beat aus quietschenden Störgeräuschen und minimalistischen Tribal-Drums sexuell aufgeladene Zeilen zu spitten. Genauso rasant wie unvorhersehbar wechselt die 28-jährige Rapperin auf „JP4“ zwischen bewusst anstrengenden Raps und wohlwollend eingängigen Melodien. Dabei versucht sie sich, wie beispielsweise auf dem krawalligen „What you want“, auf solch sperrigen Instrumentals, dass man nicht recht weiß, ob ihr Vortrag nun bewusst aus oder im Takt ist.
Der vielschichtige „I Can’t Wait“ verkörpert vermutlich am ehesten die wilde Mischung der Platte. So wird der Track von einem immer langsamer werdenden Rap-Part eröffnet, der von Sekunde zu Sekunde mehr dem Instrumental hinterher zu rennen scheint und nach rund einer Minute in einen überzeichnet fröhlichen Refrain umschwingt. Über ein kurzes Zwischenstück, einen weiteren Rap-Part sowie einen von sphärischem Gesang dominierten C-Teil gelangt der Song schließlich in ein Piano-Outro. „JP4“ in a nutshell!
…und dennoch zielgerichtet?
So zerrissen Junglepussy musikalisch auftritt, so klar scheint sie sich inhaltlich gefunden zu haben. Auf ihrem dritten Studio-Album bewegt sich die Rapperin lyrisch mal mehr („Cooking up like mama food, shook you up like spiders do“) mal weniger subtil („Look like anime and fuck like animal“) im Bereich der Erotik, lässt aber durchaus auch Platz für das zwischenmenschliche Gespiele abseits vom Körperlichen („What a waist of toothpaste, brushing my teeths only to smile in your face“). Stets bleibt sie als Frau dabei die dominante Instanz und geht durch die Repräsentation weiblicher Sexualität ähnliche Wege wie ihre prominenten Kolleginnen Cardi B und Megan Thee Stallion. Dabei kreiert JP sowohl durch den kryptischen und bildsprachlichen „Spiders“ als auch durch den textlich durchaus offensiven „Stamina“ das Bild einer selbstbestimmten und freiheitsliebenden jungen Frau.
Verklingt der letzte Song von „JP4“, so fühle ich mich zwar selbst nach mehrmaligem Hören noch erschlagen vom wilden, teilweise sehr sperrigen Mix, den Junglepussy in den 29 Minuten der Platte auftischt, das Verlangen danach das Album nach kurzer Verschnaufpause erneut zu starten bleibt dennoch. Die vielen Irrungen und Wirrungen, die die Rapperin mit ihrem neuen Werk bietet, sorgen zwar dafür, dass der Einstieg in ihre musikalische Welt Zeit braucht, bieten gleichzeitig aber auch immer wieder neue, zuvor nicht bemerkte Kleinigkeiten zum Entdecken. Ein Album das viel verlangt, letztlich aber ohne jeden Zweifel das Prädikat „zu wild“ verdient hat.
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