Eigentlich soll um 21:45 Uhr Schluss sein. Doch das Publikum ruft laut “Zugabe”, obwohl es sie strenggenommen schon gab. Mieze fragt, ob noch Zeit wäre. Dann einige Absprachen. Und ganz spontan entsteht ein völlig ungeplanter 17. Song auf der Setlist.
Zeitsprung, 19 Jahre zuvor: 2006 läuft auf jeder Party – ob im Club oder in heimischen Gefilden – der “Tanz der Moleküle”. Dieses deutsche Kleinod, das durch seine Mitsing-Melodie und die zuckersüßen Lyrics einen Zeitgeist trifft. In den Charts kommt es über Platz 19 nicht hinaus, dafür hält es sich fast ein Jahr hartnäckig in den Top 100 und wird für viele von Durchlauf zu Durchlauf nur noch besser. Ein Stück 00er. Ein Song, der sich so nach Damals anfühlt und einen in unbeschwerte Augenblicke zurückbeamt. Mia. haben mit ihrer ersten Single zu ihrem dritten Album einen unsterblichen Hit kreiert, bei dem sich die Indie-Kids mit den Pop-Liebhaber*innen gleichermaßen zusammentaten.
Sowieso ist die Band rund um Mieze Katz nie ganz Mainstream und nie ganz Underground. Das Berliner Quartett braucht seine Jahre, um richtig warmzulaufen. Die Crowd wächst peu à peu, nach der Gründung 1997 und dem Debütwerk “Hieb & Stichfest” in 2002 gibt es die erste breite Aufmerksamkeit durch die Teilnahme am ESC-Vorentscheid 2004 mit “Hungriges Herz”. Man verliert gegen Max Mutzke, der durch Stefan Raab ein unaufhaltsames Medienecho erlebt, allerdings altert der Mia.-Beitrag sehr, sehr viel besser und gehört heute neben den “Molekülen” zur Elite der goldenen 00er-Deutsch-Pop-Ära.
Irgendwo zwischen 2raumwohnung, Wir sind Helden und Juli machen sie Elektro-Pop mit viel Synthie und sanften Rock-Zutaten. Einen Sound, den man zumindest damals recht gut vom Rest unterscheiden kann. Mia. sind schon ein wenig anders, etwas verspielt, schräg, dancig. Ein gutes Jahrzehnt lang gibt es regelmäßig Hits, bis ungefähr ab 2013 das Interesse spürbar weniger wird. Irgendwie passt’s plötzlich nicht mehr so ganz, Deutsch ist längst nicht mehr Ausnahme und Coolness, die Konkurrenz irrsinnig groß. So wird der Output weniger, die Pausen zwischen den Alben länger – und auf einmal sind Mia. gefühlt weg.
Doch so wie bei anderen 00er-Acts braucht es eben etwas Abkühlung und Abstand, bis man auf einmal zu den Retro-Künstler*innen zählt, die man frenetisch romantisiert und mit ihnen gern zurückschaut. Mieze Katz ist dank ihrer diesjährigen Teilnahme bei “Sing meinen Song” wieder im Gespräch – sie und ihre Band bekommen Props für ihr Zutun zur Entwicklung der deutschsprachigen Welle, die nun schon über zwei Dekaden anhält. Eher irritierende Entscheidungen wie die Teilnahme als DSDS-Jurorin, sollte man besser ignorieren – Schnee von gestern. Stattdessen sind Mia. zurück auf den Bühnen, Mieze selbst wagt im Mai 2025 gar ein Soloalbum mit zig Gäst*innen der Szene und die mit der Band gealterten Fans kommen gerne zurück zum Mitfeiern.
Im Dortmunder Junkyard steht am 29.8., einem Freitag, einer der letzten Open-Air-Gigs der Location in 2025 an. Band und Venue sind ein hervorragendes Match, wird hier in einem verborgen gelegenen Hinterhof Müllhaldenschrott stylisch zusammengewürfelt und daraus ein optisch sehr starker Event-Ort geboten. Rostige Autos, ein abgewrackter Bus, schäbige Container und Club Mate in der Hand ergeben hier ein charmantes Bild. Während des Einlasses gibt es schon gegen 19:30 Uhr den Support. Das Duo Frame the Moon aus Köln spielt die gewohnte halbe Stunde, tut sich jedoch mit dem eher verträumten Indie-Pop keinen allzu großen Gefallen. Fast die gesamte Zeit regnet es durch, sodass die Vorband wenig gewürdigt wird. Ist musikalisch ok, aber dann doch nicht mitreißend genug, um für Mia. gebührend einzuheizen.
Stattdessen gibt es aber zur besten deutschen Sendezeit um 20:18 Uhr den Hauptact. Übrigens: Selten bekommt man 2025 noch einen so namhaften Artist für rund 36 Euro zu sehen – fettes Kompliment an dieser Stelle für den Ticketpreis, der sich auch anfühlt wie damals. Eigentlich spielen die Vier 16 Songs – übrigens hat Mieze gerade erst eine 4 an ihrem Handgelenk tätowiert bekommen, die stellvertretend für die Band steht – runden das Package für Dortmund aber spontan auf 17 auf. Die Frontfrau erwähnt mehrfach, fast schon etwas Mantra-like, dass wir alle im Moment sein sollen, sie die Stimmung schon mittags beim Betreten der Location intensiv fand und sie im Einklang mit dem Publikum sein will. Wirkt an einigen Stellen etwas drüber, aber “dit is Berlin, wa!?”.
Bei gut abgenommenem Sound groovt das fast ausverkaufte Junkyard lächelnd mit. Das Durchschnittsalter ist um die 40, schließlich sind die großen Erfolge ja auch schon eine ganze Weile her. Tanzwütig ist man dennoch. Auf der Leinwand steht der Bandname in stilisierten Lettern, oberhalb der Bühne gibt es einige Male gut getimte Flammen, auf der Bühne natürlich viele Laser und Lichter sowie emporsteigende Seifenblasen und innerhalb der Gruppe eine vertraute Dynamik. Neben Mieze greift auch Schlagzeuger Gunnar einige Male zum Mikro und wirkt dabei sympathisch-souverän. Sowieso spielen die Instrumentalisten echt gut und sorgen für einen vollmundigen Klang.
Mieze ist besonders zum Anfang der Show stimmlich sehr nah an den Studioversionen. Ihre Vocals haben eben doch einen recht hohen Wiedererkennungswert, ebenso ihre knalligen Outfits. Locker fünf-, sechsmal wechselt sie ihre Überzieher – Jacken, Hoodie, Body. Hier geht einiges. Zu dem letzten fetten Hit “Fallschirm” hat sie eine Art Blouson-Mantel an, der durch starke Windmaschinen hochfliegt und dem Song auch optisch die passende Färbung verleiht. Außerdem werden Regenbogen-Fahnen geschwungen, Shirts mit dem Print “Liebe” präsentiert und auf jeden Fall viele good Vibes versprüht.
Allerdings springt musikalisch nicht ganz der Funke über. Das hat eigentlich zwei Gründe. Auf der einen Seite gibt es auf der HellSehen-Tour, gar nicht so wenige Titel aus den letzten zehn Jahren, von denen zumindest die breite Masse nicht mehr viel mitbekommen hat. Zwar werden alle sieben Bandalben sowie das Soloprojekt berücksichtigt, jedoch der Fokus etwas zu stark auf wenig erfolgreiche Momente gelegt. Klar, man muss nicht immer nur Best of liefern, aber nach einer doch recht langen Pause freut sich die Crowd erkennbar mehr über die alten Sachen als über Neues. Bei den üblichen Verdächtigen wird laut mitgesungen, mit dem Handy gefilmt, die Arme in die Luft geworfen – bei manch anderen wird der Schnack zwischen den Gäst*innen doch hörbar lauter. Mieze selbst freut sich vor allen Dingen über den Chor bei “Dafür oder dagegen”, es scheint aber mehr ihr Augenblick zu sein als der der Besucher*innen.
Der zweite Aspekt, warum es nicht ganz so kickt, wie es könnte, sind die zum Teil sehr anders arrangierten Classics. Die Stimmung geht sofort hoch, wenn “Hungriges Herz”, “Mein Freund”, “Mausen”, “Kreisel” und “Tanz der Moleküle” angespielt werden, jedoch schlagen mehrere der Hits ganz schöne Umwege ein. Mieze singt gern mal andere Melodielinien, die Band verpackt vor allen Dingen “Kreisel” und “Mein Freund” in so alternative Gewänder, dass sie eigentlich schon einem anderen Genre angehören. Ja, auch das kann man natürlich so machen, ist aber ebenfalls fürs Retro-Feeling, auf das hier viele Fans zu setzen scheinen, etwas hinderlich. Ärgerlicher ist jedoch, dass auf “Zirkus”, “Uhlala”, “Engel” und “Ökostrom” gänzlich verzichtet werden muss, was bei sowieso nicht ganz so vielen Charterfolgen schon ein wenig schmerzt. Aus dem erfolgreichsten Album “Zirkus” gibt es gerade einmal den “Tanz der Moleküle”, was echt schade ist.
Und eigentlich wäre sogar “Alles neu” ausgeblieben. Weil Dortmund jedoch nach 90 Minuten Show noch nicht genug hat, laut klatscht und “Zugabe” ruft und man theoretisch noch eine Viertelstunde lang bis zur Sperrstunde um 22 Uhr spielen dürfte, überlegt das Quartett spontan, was man noch machen könnte. Ein Fan in der ersten Reihe, dessen Nichte für Mieze ein Armband gebastelt hat, wünscht sich “Alles neu”. Mieze wirft die Idee in den Raum, die Band stimmt zu und viele im Publikum bejahen zujubelnd – und es ist die beste Entscheidung, die an dem Abend getroffen wird. Ohne Vorbereitung wird die allererste Single wieder ausgegraben und steigt plötzlich zum Energie-Highlight auf. Losgelöst wird wild auf und vor der Bühne gehüpft und der Liebling mit viel Intuition so lässig geschmettert, dass das Glücksgefühl noch größer ist als bei der eigentlichen Zugabe, den “Molekülen”, die etwas ungelenk durch den vermeintlich letzten Song “Sonne” wieder abklingen. Doch “Alles neu” rettet. Das gehört sowas von auf die feste Setlist, Leute! Bombe explodiert.
Mia. sind charismatisch, 00er-Feeling, speziell und immer noch stabil. Auch wenn der Gig in Dortmund nicht ganz das Potenzial entfaltet, was er andeutet, so geht das Publikum dennoch mit einem wohligen Gefühl, einem zappeligen Fuß und Ohrwürmern ins Bett. Das Positron hat sich entladen.
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Foto von Christopher Filipecki
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