„Es ist zwanzig nach Vier – und ich bin immer noch hier“. Leider trifft das nur wenige Wochen nach der Aufnahme des Songs schon nicht mehr zu. AnNa R. ist nicht mehr hier. Sie ist woanders. Ihre Stimme für immer verklungen.
Der 17.3.2025, ein Montag. Gegen Mittag geht ein Post auf ihrer Instagram-Seite online. Und plötzlich steht die deutsche Musiklandschaft für ein paar Augenblicke still. AnNa R. zählte vielleicht nie zu den Allergrößten, aber zu denen, die stets Respekt für ihre Arbeit und ihr Können bekamen. Gemeinsam mit Peter Plate bildete sie für ziemlich genau zwei Jahrzehnte lang das Duo Rosenstolz. Eine Band, die heutzutage mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr ansatzweise so lang bestehen könnte. Mehrere Alben und mehrere Jahre dauert es, bis man nicht nur über die Runden kommt, sondern wirklich wahrgenommen wird. Vom Underground-Phänomen mit überwiegend queerer Fangemeinde entwickelt man sich zum Rettungsanker des Deutsch-Pop. Rosenstolz sind immer Deutsch, auch in Momenten, in denen es charttechnisch so gar nicht funktioniert. Doch mit ihren großen Erfolgen wie „Liebe ist alles“ oder „Ich bin ich (Wir sind wir)“ und den dazugehörigen Alben füllt man in den 2000ern plötzlich die größten Hallen Deutschlands und wird Kult.
Das ist einige Zeit her. Nach der vorerst als Kreativpause betitelten Trennung probiert sich AnNa R. in ihrer neuen Band Gleis 8 aus. Auch wenn sie hier zwar viel tiefer im Songwriting mitwirkt und die Musik gemeinsam mit ihren Bandkollegen gestaltet, bleibt insbesondere der Wow-Effekt auf den Seiten der Fans und Kritiker*innen aus. Zu seicht, zu formelhaft. Richtig umhauen kann es niemanden, die Erwartungshaltung durch die Rosenstolz-Vergangenheit ist viel zu hoch. Als Gastsängerin bei der Ostrock-Band Silly ist sie zwar für die großen Gefühle in leisen Tönen eine gute Wahl, hat jedoch merkbar von der sehr individuellen, markanten Bühnenpräsenz nur noch wenig übrig. AnNa R. wirkt kränklich, zurückgezogen, in sich gekehrt. Und auch die Stimme erreicht nur mit Mühe hohe Töne.
Dennoch gibt es plötzlich in den zwei jüngsten Jahren eine positive Überraschung. Statt mit Gleis 8 eine dritte LP zu veröffentlichen, werden nach dem freiwilligen Ausstieg von Timo Dorsch die schon fertig geschriebenen Songs etwas angepasst. Sie hat es schon ewig vor, aber nun ist der Moment gekommen: AnNa R. wagt ein Soloprojekt und liefert mit „König:in“ ihr Debüt unter ihrem eigenen Künstlerinnennamen. Das ist zweifellos das Beste, was sie seit der Trennung von Plate veröffentlicht, auch wenn noch Luft nach oben bleibt. Ein paar Titel bleiben aber durch ihre berührenden Vocals, ihre märchenhaften Erzählungen oder durch ihre politische Haltung kleben – und werden auch live aus vielen Ecken gefeiert. Nach einer zwölf Gigs umfassenden Tour im Herbst 2023, die überwiegend ausverkauft meldet, wird um zehn weitere im Frühjahr 2024 verlängert und schließlich mit einer guten Hand voll Auftritten im Sommer abgerundet. AnNa scheint wieder mehr bei sich zu sein, wagt sich sogar an Rosenstolz-Klassiker wie „Herzensschöner“ und „Nur einmal noch“, bei denen Fans von damals vor Aufregung und Rührung Herz und Atem gleichzeitig stocken. Ein nostalgischer Gruß an die ganz große Zeit, eine Versöhnung mit einer eben auch nervenaufreibenden Lebensphase, die viel Energie kostete. Und nun? Eine neue Ära, ein Alterungsprozess. Anders, aber irgendwie schön, weil „immer noch hier“.
Doch lange wird es nicht mehr dauern. Zwar wird mit großem Optimismus im Oktober 2024 für genau ein Jahr später eine gleich 25 Konzerte umfassende neue Tour mit dem Namen Mut zur Liebe angekündigt, die es allerdings letztendlich nicht mehr geben wird. Am 16.3. diesen Jahres wird AnNa R. in ihrer Wohnung in Berlin-Friedrichshain tot aufgefunden. Ein Freund wählte den Notruf, weil sie sich ungewöhnlich lange nicht meldete. Seine Befürchtung wurde wahr. AnNa R. stirbt unerwartet mit gerade einmal 55 Jahren allein zuhause. Die Deutsch-Pop-Szene und die immer noch unüberschaubar riesige Rosenstolz-Gemeinde zeigt sich tief berührt und schockiert. Viele kondolieren und pilgern zur von Peter Plate aufgestellten Gedenkstätte am Theater des Westens. Sogar die Tagesthemen berichten. Es ist ein Stück nationale Musikgeschichte, die beendet wird. Kein riesiges Stück, aber ein beachtliches. Eins, das queeren Menschen ein Zuhause gab, als es sonst in der Musik keines gab. Viele vergötterten es abgrundtief, einige fanden’s wahnsinnig belanglos und nervig. Besonders im Nachhinein huldigen viele aber dem Mut, der Ausdauer und Eigenwilligkeit.
AnNa R. stirbt laut Berichten weder an Fremd- noch an Selbstverschulden. Man spricht von Folgen mehrerer Erkrankungen. Ihr langjähriger Ehemann Nilo Neunhofen, der bei mehreren Rosenstolz-Videos Regie führte, stirbt zwei Jahre vor ihr. Einige Momente in der Öffentlichkeit wirken im Nachhinein voller Traurigkeit. Als ob Ruhm und Erfolg wieder mal nicht für das Wesentliche gesorgt hätten, sondern es nur für Oberflächlichkeiten im Leben leichter machten.
Mut zur Liebe, das klang schon wie ein potenzieller Albumtitel. Um rechtzeitig zur Tour im Herbst ’25 fertig zu werden, nahm AnNa R. im letzten Winter zehn Songs auf, die auf den nächsten Longplayer sollten. Dort sind sie nun auch gelandet. Selbst wenn die Sängerin mit der unverkennbaren Stimmfarbe nicht mehr an den Produktionsprozessen teilhaben konnte, so sind die fertig erarbeiteten Titel alle von ihr und dem Gleis–8-Drummer Manne Uhlig geschrieben und von ihr eingesungen wurden. Keine fragwürdigen KI-Outputs, keine Masche, um nochmal mit kruden Notizkritzeleien Kohle zu machen – Mut zur Liebe ist AnNa R.s Vermächtnis. Die letzten von ihr autorisierten Songs, das sowieso geplante nächste Album, ein Nachruf. Eine Stimme, die nun noch einmal etwas Neues singt, obwohl sie es leider gar nicht mehr kann.
Die Sache an sich ist bereits Gänsehaut. Musik von einer Künstlerin, die selbst nicht mehr lebt, aber in den zehn Aufnahmen so lebendig wirkt. Hat man sich mit der bittersüßen Tatsache angefreundet und erste angenehme, wie melancholische Schauder überwunden, geht es dann um die Inhalte. Der Vorgänger „König:in“ war ein solider Longplayer mit einigen Highlights, aber auch einigem Füllmaterial. Und leider verhält es sich mit Mut zur Liebe ähnlich. Es würde nicht der Wahrheit entsprechen, den hier vorgelegten rund 37 Minuten plötzlich eine absolute Meisterklasse zuzuordnen, weil sich erneut die Qualität stark in zwei Lager spaltet: Beliebig und uninteressant auf der einen Seite, enorm emotional und treffsicher auf der anderen.
In dem vorab veröffentlichten Ausschnitt aus dem Titelsong kann man bereits einiges ablesen: „Mut zur Liebe“ dient als Opener und bietet inhaltlich zwar genau die richtige Message, nämlich dass Nächstenliebe, das Aufeinander-Zugehen und wertschätzende Worte füreinander vieles bewirken. Völlig wahr. Jedoch wird dafür musikalisch ein sehr seichtes Pop-Rock-Gewand mit leicht zu merkender, aber auch nicht wirklich kreativer Melodielinie gewählt. Die mädchenhafte, etwas naive Haltung mit Kinderlied-Charakter kann dem Erfahrungsschatz, der übermittelt werden soll, irgendwie nicht gerecht werden. Genauso verhält es sich mit dem misslungenen, Schlager-esquen mit xxx im Duett gesungene „Wenn du mich nicht liebst“: „Wenn du mich nicht liebst, naja, dann lieb ich mich halt selbst. Wenn du mir nichts gibst, dann geb‘ ich mir, was ich brauch“ ist wirklich echt sehr lowes Niveau. Auch die Produktion wirkt wie ein sehr einfach gehaltenes 90s-Überbleibsel, das überhaupt nicht mitreißt, sondern einen mit den Fingerspitzen für eine Zehntelsekunde kurz streift.
„Aufstehen“ klingt im Arrangement nach Westernhagen-Deutsch-Rock. Das ist zunächst alles andere als schlecht, aber bleibt auch hier erschreckend uninspiriert. AnNa möchte, dass wenn man sich schon aus seinem Sessel hebt, immerhin etwas zu sagen haben sollte. Wiederholt gibt man ihr selbstverständlich recht, aber auch dieses Bild ist schon x-mal durch den Fleischwolf gedreht worden. Gerade nach dem sehr direkten, ungeschmälerten Politik-Plädoyer „Meer voller Seelen“ vom Vorgängerwerk hätte man damit rechnen können, dass AnNa R. auf Mut zur Liebe gleich mehrfach konkrete Anlässe aus dem Zeitgeschehen vertont und kritisch beäugelt, allerdings bleibt genau der Aspekt 2025 enttäuschend oberflächlich und ungenau.
Im Mittelfeld pendelt sich einerseits „Ich höre nie auf dich“ ein. Die Uptempo-Rockballade hat einige schöne Gitarreneinsätze, liefert aber noch mehr inhaltlich eine schöne Situation, in der zwei Menschen nicht mehr miteinander können, aber auch nach dem Ende der Beziehung mit einem Lächeln zueinander schauen und sich fehlen. Das schon eingangs zitierte „Zwanzig nach Vier“ ist andererseits die düsterste der lauteren Nummern und dreht sich mit ihrem schleppenden Rock-Klangbett, das an Silly erinnert, um das Hochhalten der Fahne nach einer Trennung. Dem Standing, nicht aufzugeben, der Schattenseite den Mittelfinger zu zeigen. Mehrere Zeilen wirken dabei ein halbes Jahr nach AnNas Tod immer äußerst bedrückend, eben weil der Kampf doch schneller verloren war, als anscheinend gewollt.
Mit „Sag mir, wo die Blumen sind“ schleicht sich ein Cover unter die Titel. Kein zufällig gewähltes. Das durch Marlene Dietrich in den frühen 60ern bekannt gewordene Antikriegslied sang AnNa bereits auf der „König:in“-Tour in Kombination mit ihrem „Meer voller Seelen“, was eine sehr intensive Symbiose darstellte. Bei den Liveauftritten gab es einen starken Aufbau in der Instrumentierung – Mandoline, Harfe und mehr -, der hier im Studio fast 1:1 übernommen wurde. Nach zig Coverversionen ist das keine unbedingt notwendige Veröffentlichung, passt jedoch zu ihrer zuletzt öffentlich eingenommenen kritischen Haltung gegenüber der Flüchtlingspolitik und dem Ukraine-Krieg.
Nach vielen kritischen und leicht enttäuschenden Worten ist es nun aber mehr als an der Zeit, sich den sehr positiven Seiten von Mut zur Liebe zuzuwenden. Gleich vier Tracks zeigen auf unterschiedlichem, aber doch ähnlichem Wege die Stärken einer AnNa R.. Mit 2:45 Minuten ist „Wer weiß, wer weiß“ das kürzeste Stück der neuen Platte, schießt aber gleich so viele Pfeile auf einen, dass man sich kaum der Nachdenklichkeit und Schwermut entziehen kann. Die Lagerfeuer-Akustikballade, die ein oft unterschätztes Instrument – nämlich das Akkordeon – geschickt einzusetzen weiß und durch Streicher und mehrstimmigem Gesang noch weiter ausbaut, beschäftigt sich mit der Unsicherheit, die uns jeden Tag umgibt. Sieht man sich wieder? Wenn ja, wie oft überhaupt noch? Welche Probleme, kann ich aus dem Weg räumen? Welche werden bleiben? Wann ist der Moment, in dem wir uns das letzte Mal verabschiedet haben? Fans müssen hier wohl das richtige Weilchen wählen, wann sie sich dem Song stellen können.
In welche Richtung es musikalisch auch hätte noch viel, viel weiter gehen dürfen, beweist das tragende „Ach, wie schön kann Liebe sein“. So viel Aura und Glamour hatte AnNa wirklich ewig nicht mehr. Zu einem tangoartigen Klavier singt sie große Metaphern über das Herauskämpfen aus zu fragilen Beziehungen, in denen sie enttäuscht wurde. Poetisch, divenhaft und mit dunklem Timbre erinnert das fast schon an „Für dich mich dreh“ und andere artsy Chanson-Ausritte in den Rosenstolz-Anfängen. Ganz stark, das live mit Sicherheit ein absolutes Highlight geworden wäre. Direkt im Anschluss geht auch „Die böse Farbe“ auf Moll-Pfaden. Im Übergang vom Sommer zum Herbst wird es tragisch und in der Bridge erneut rosenstolzig. Das hätte in ähnlicher Form einem „Kassengift“ entnommen sein können. Kirchenglocken, dem Tod ins Auge blickend und dem Schicksal erlegen. Welche Farbe nun die böse ist, wird hier nicht gespoilert.
Und doch muss man bis zum Finale durchhalten, um das emotional heftigste Momentum serviert zu kriegen. Die ersten zwei Minuten von „Ich seh dich ohne Blick“ sind so voller großer Gesten, dass es einen taumeln lässt. Als ob AnNa plötzlich wieder Anfang der 2000er mit stylischem Hut und grellem Makeup auf der Bühne steht, das Publikum vor ihr leise wird, die Lichter dunkel, Peter neben ihr am Klavier sitzt und sich so viele dem Wegträumen hingeben. Als ob plötzlich AnNa wieder etwas singt, was man zuvor fühlte, aber nie in Worte verpackt bekommen hat. Ohne Schnörkel, ohne Schnickschnack genügen Piano und Celli. „Du hast dich aufgelöst, bist längst verschwunden, ich wart‘ nicht mehr und teile meine Wunden. Alles ist still und unsichtbar, bist dennoch immer für mich da. Du verschwindest Stück für Stück, es gibt kein Weg zurück, doch ich seh‘ dich ohne Blick. Du entfernst dich Schritt um Schritt, kommst nie zurück, doch ich seh‘ dich ohne Blick, ja, ich seh‘ dich ohne Blick.“ Ein Katapult. Das, weswegen man mal zu AnNa fand. Ein schwarzes Loch, in das man weinend fällt, dann jedoch dank aufgehendem, lautem Instrumental-Part zum Ende hin wieder etwas zerrissen, aber nicht zerstört, verlässt.
Mut zur Liebe ist nicht das beste Album, das man jemals mit ihrer Stimme gehört hat. Dafür muss man weiterhin viel weiter zurück in der Diskografie. Aber das ist ok. Trotzdem ist Mut zur Liebe ein teils etwas ernüchterndes, dann aber auch teils völlig überwältigendes Angebot, um AnNa R. ein letztes Mal mit neuem Material hören zu können. Vieles Hervorstechende dreht sich um Abschied, Verlust und das Konzentrieren auf positive Aspekte, die bei Enden auch immer mitschwingen. Einige Titel haben Potenzial, um noch einige Dekaden Herzen zu heilen. Und das ist das Einzige, was zählt.
„Wenn dir die Welt in Trümmern scheint, werd‘ ich an deiner Seite sein und steh‘ dir bei – so schlaf‘ nun ein“, singt AnNa R. in den letzten Sekunden von „Wer weiß, wer weiß“. Das tut unsagbar weh, gleichzeitig gleicht es einem Kopfstreicheln, für das man dankbar sein kann. „Mach’s gut, mein Herzensschöner“, schön, dass du so vielen Menschen so gut getan hast.
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