Ab und an muss man sein Eigenheim mal renovieren, damit es gemütlich bleibt, nicht langweilig wird und erst recht nicht verrottet. In manchen Fällen reißt man die Hütte gleich ganz ab und fängt nochmal neu an. Die Drei von Silly sind Fachmänner in der Thematik. Die mehr als 40 Jahre umfassende Bandgeschichte hat schon so einige Schlenker gemacht – und auch 2021 ist eine ausgewechselte Tapete an den rauen Wänden.
Zweifelsohne gehören Ritchie Barton, Uwe Hassbecker und Jäcki Reznicek zu den bekanntesten und größten Rockmusikern der damaligen DDR. In den 80ern enterten gut ein Dutzend Titel die Jahrescharts unseres ehemaligen Nachbarlandes, das so ähnlich und doch so anders war wie die Bundesrepublik. Eigentlich sollte nach der Wende auch der Westen in Angriff genommen werden, man war bereits hier und dort mal aufgetreten. Doch ein Schicksalsschlag sondergleichen machte dem Plan einen Strich durch die Rechnung: die eigenwillige, markante und unvergleichliche Frontfrau und Sängerin Tamara Danz erlag mit gerade einmal 43 Jahren ihrem Krebsleiden.
Daraufhin folgte eine lange Zeit der Suche. Eine Suche nach sich selbst und nach dem richtigen Ersatz, den man leider nicht wirklich fand. Dennoch einigte man sich auf eine annehmbare Alternative in Form von Anna Loos, die zwischen 2006 und 2018 schließlich die Gallionsfigur mimt, mit der Band drei Top-5-Alben aufnimmt, aber durch ihre Dominanz auch ganz schön aneckt.
Die Fassade bröckelt und bevor das Silly-Haus dem Einsturz zu nahekommt, entscheidet man sich für eine erneute Umstrukturierung. Immer mal wieder waren auch andere Gastsängerinnen am Start und gaben den Tamara-Classics eine andere Note. Eine von ihnen, AnNa R. – bekannt geworden als Sängerin der Bands Rosenstolz und Gleis 8 – blieb im Kopf. Ebenso Julia Neigel, die man schon Jahrzehnte kannte, aber nie bisher richtig zusammenarbeitete. 2019 stehen beide erstmalig gemeinsam an den Mikros und stimmen sogar Fans von Damals zufrieden.
Nun ist jedoch erneute Feuertaufe. Die Live-Tour vor zwei Jahren lief erfolgreich und nostalgisch. Sie zeigte, dass mit zwei kontrastierenden Stimmen viele Nuancen des breitspektralen Silly-Universums präsentiert werden können. Doch wie funktioniert das Ganze im Studio? Instandbesetzt ist nicht nur Motto der Band, sich immer wieder neu aufzurichten, Dinge auszutauschen und Wände geradezurücken, sondern eben auch der Titel des neuen Albums – dem ersten mit AnNa R. und Julia Neigel.
Die gelaufene Tour war ein Best Of mit einem zu 80% festen Programm, ergänzt durch Albumhighlights, die jeweils nur auf einem Konzert gespielt wurden. Der Ruf nach Aufnahmen von jener Tour war groß, allerdings konnten sich Ritchie, Jäcki und Uwe damit nur halb zufriedengeben, gab es immerhin von den drei Alben zuvor auch jeweils Live-Veröffentlichungen. Stattdessen ist Instandbesetzt nun ein Hybrid aus zwei, vielleicht sogar drei Konzepten – einerseits ein paar große Hits, die man auch als kleinster Silly-Fan kennen muss, ergänzt durch Albumtitel, die es nie als Single schafften, aber die Band prägen oder von Zuhörer*innen gefeiert wurden, andererseits abgerundet durch drei neukomponierte Titel.
Herausgekommen ist eine 13 Tracks umfassende Platte, bei der man auch um 20 Songs nicht traurig gewesen wäre. Möglichkeiten gab es genug. Von dem klassischen „Greatest Hits“-Gedanken muss man sich schnell freimachen, denn „Mont Klamott“ und „Bataillon D’Amour“ – die zwei größten Hits – sucht man hier vergebens. Auch „Hurensöhne“ hat es nicht geschafft. Stattdessen können „Wo bist du“ und „Verlorne Kinder“ nun mit der Stimme von AnNa R. genossen werden. „Halloween in Ostberlin“, „Puppe Otto“, „So ‘ne kleine Frau“, „Bye Bye“ überraschen hingegen auf der Playlist.
Doch tatsächlich erfrischt gerade diese zunächst leicht verwirrende Songauswahl. Statt auf typisch setzt Instandbesetzt eben auf Facettenreichtum. Unkonventionell geht es mit „Unterm Asphalt“ los, bei dem die neuen Gastsängerinnen gar nicht zu Wort kommen, dafür aber die originale Stimme von Tamara. Ein leicht schauderhafter, gruseliger, aber auch intensiver Moment. AnNa R. steht insgesamt viermal solo im Mittelpunkt („Wo bist du“, „So ‘ne kleine Frau“, „Verlorne Kinder“, „Puppe Otto“), Julia Neigel gar fünfmal („Die wilde Mathilde“, „Halloween in Ostberlin“, „Leg mich fest“, „Lautes Schweigen“, „Instandbesetzt“), gemeinsam ergänzen sie sich in „Bye Bye“, „Hamsterrad“ und „Werden und vergehn“.
Kann man hier von Coversongs sprechen? Silly entscheiden sich dazu in den Arrangements sehr, sehr nah am Original zu bleiben. Bei vielen Stücken fällt lediglich beim genauen Hinhören ein Unterschied in der Instrumentierung auf. Natürlich klingt alles voller und neuwertiger, aber trotzdem fast wie eine Kopie. Ob man sich bei Lieblingssongs auf neue Stimmen einlassen kann, ist wohl am Ende Geschmackssache. AnNa R. ist in ihrer Fragilität besonders bei dem unkaputtbaren „Wo bist du“ hervorragend aufgehoben und klingt in der Produktion so schön rund wie schon lange nicht mehr. Auch „Verlorne Kinder“ ist mit ihrer Stimme ein weiterhin politisches wie starkes Stück Musik. Julia Neigel darf ihren Rockstimmumfang im vollen Maße präsentieren, kann aber eigentlich noch mehr als das, was man hier hört. Zwar sind „Die wilde Mathilde“ und „Halloween in Ostberlin“ so sehr Tamara Danz wie nie eine nach ihr, aber wer sich in Neigels Repertoire etwas auskennt, weiß, dass da besonders Live noch mehr geht. Mit „Leg mich fest“ folgt unerwartet die negativste Überraschung auf dem Album. Das einzige Lied, das es aus der Anna–Loos-Ära auf die Platte geschafft hat, fällt im Vergleich zur nicht wirklich guten, aber charakteristischen Sängerin Loos leider durch – da kommt auf dem „Alles Rot“-Longplayer ungefähr die zehnfache Menge an Emotionen rüber. Schade, dass „Bye Bye“ der einzige zweistimmige Moment bleibt – klingt ganz wundervoll und verzaubert in wenigen Augenblicken. Davon hätte es sehr gern mehr geben dürfen. Und ob man „Puppe Otto“ wirklich auf einem derartigen Album braucht, bleibt mal zur Diskussion gestellt.
Spannend bleibt aber auch der Blick auf die drei Neukompositionen. „Hamsterrad“ als Vorabsingle hat jedenfalls die Messlatte fast schon erschreckend niedrig angelegt. Ein äußerst unmelodisches Rockstück, das wahrscheinlich krawallig, laut und aufrüttelnd wirken soll, aber besonders auf kompositorischer Seite nur bieder wirkt. Im kompletten Gegensatz dazu sind jedoch das 100%-Silly-artige „Werden und vergehn“ und auch der Neigel-Solo-Neuling „Lautes Schweigen“ zwei absolute Volltreffer – der eine durch seine metaphorische Tiefe und kreative Bildmalerei, der andere durch seine sehr mitreißende Sogwirkung mit Ohrwurmrefrain. „Hamsterrad“ haken wir mal als Ausrutscher ab.
Final bleibt ein interessantes, teils unkonventionelles, teils nostalgisches, oft gelungenes, aber nicht durchweg hervorragendes erstes Werk, das sich auf Ursprünge zurückbesinnt und mit zwei neuen Gastsängerinnen brilliert, die durch ihre charakteristischen Stimmfarben und ihre Präsenzen großes Potenzial haben, auch längerfristig bei Silly zu wirken. Eine Band mit Geschichte. Eine Geschichte, die eben nicht immer in einer geradlinigen Spur verläuft, aber auch dadurch aufregend bleibt. Ein Reinhören in Instandbesetzt ist für Fans der Kultgruppe, Fans der Sängerinnen und Deutschrock-Hörer*innen der alten Schule empfehlenswert.
Das Album bekommst du hier als Vinyl oder hier digital.*
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