Es muss nicht immer der Sieg sein. Beim Eurovision Song Contest schauen die Jurys recht häufig vordergründig auf die Gesangsleistung und machen es somit so manchem Fanfavoriten schwer. Da steht dann in der finalen Tabelle der Kompromiss zwischen beiden Abstimmungsverfahren auf der 1, das Herz der Gemeinde schlägt aber immer häufiger für den bzw. die Zweit- oder Drittplatzierte*n. Tommy Cash reiht sich 2025 in das „Die verlierenden Gewinner*innen“-Spiel ein und ist diesen Herbst auf großer, europaweiter Tour.
Beispiele, die mit ihm dasselbe Schicksal teilen, gab es in den letzten Jahren zuhauf. Dadi Freyr aus Island (4. Platz, 2021), Käärijä aus Finnland (2. Platz, 2023) oder Baby Lasagna aus Kroatien (2. Platz, 2024) sind nur einige der männlichen Teilnehmer*innen, die zwar nicht die Trophäe mit nach Hause nehmen konnten, deren Songs aber weitaus häufiger auf diversen ESC-Partys laufen als die der Gewinner*innen. Auch „Espresso Macchiato“ wird mit absoluter Sicherheit noch in der nächsten Dekade seinen Kultstatus behalten, während „Wasted Love“ von JJ aus Österreich (1. Platz) und „New Day Will Rise“ von Yuval Raphael aus Israel (2. Platz) eigentlich schon jetzt ausgesorgt haben. Mögen beide in der Show ihren Moment gehabt haben, im Nachgang ist das aber musikalisch dann einfach nicht mehr so entertaining.
Tommy Cash ist in seiner Heimat Estland seit über einer Dekade ein absoluter Star. Zwei Millionen Menschen folgen ihm auf TikTok, fast genauso viele auf Instagram. Mit seinen wirklich superwitzigen Reels begeistert er seit Jahren sein Publikum. Gerne darf’s mal ziemlich naughty zugehen, Ernsthaftigkeit ist im restlichen Leben genug vertreten. Schon vor der Teilnahme am ESC trat der Künstler mit dem markanten Look in Deutschland auf, da sein Humor auch hier richtig gut ankommt. Den allermeisten in der Kantine in Köln, wo seine einzige NRW-Show stattfindet, ist er aber sicherlich erst seit diesem Jahr ein Begriff. „Espresso Macchiato“ war hierzulande in den Charts hinter dem deutschen Beitrag „Baller“ von Abor & Tynna der erfolgreichste Song dieser ESC-Saison und ist ein dermaßen unverschämt genialer Ohrwurm, das er auch jetzt, fünf Monate nach dem Finale in Basel, kaum an Energie verloren hat. Eine fast ausverkaufte Venue scheint dies zu bestätigen. Sowieso gehört dem 33-jährigen Esten mit russischen, ukrainischen und kasachischen Wurzeln ein fetter Applaus, gelang ihm für sein Land die beste Eurovision-Platzierung seit 23 Jahren.
Das sind fette Vorschusslorbeeren. Tommy Cash ist ein cooler Typ, den man auf Anhieb feiert. Doch gerade Content Creator*innen kippen schnell, wenn sie auf der Livebühne plötzlich nicht mehr ihre Filter und Schnitte nutzen können. ESC-Acts haben ähnliche Schwierigkeiten, haben einige von ihnen exakt einen guten Song, eine gute Inszenierungsidee und dann ist auch schon alles gesagt. Und auch, wenn es schmerzt: Auf Tommy Cash trifft beides zu. Zu 100 Prozent. Auf Konzertlänge funktioniert das Phänomen nämlich so gar nicht.
Ohne Support wird es um 19:55 Uhr dunkel. Sein DJ fängt an, sphärische Musik zu spielen. Dann passiert fünf Minuten lang strenggenommen gar nichts, bis es plötzlicher heller wird, der DJ die Crowd begrüßt – und dann als Opening „A Thousand Miles“ von Vanessa Carlton spielt, was für den ersten richtig dicken Lacher sorgt. Wirklich guter Einfall, einen Song zu nehmen, der so campy und 2000er ist, dass er eigentlich so gar nicht zu Tommy Cash passt, aber eben seinen Humor wunderbar widerspiegelt. Das Publikum ölt die Stimmen. Ready for more.
Mit „Espresso Macchiato“ steigt das Hit-Potenzial unmittelbar auf volle Pulle. In dem berühmtberüchtigten blauen Anzug mit der vieeeel zu langen Krawatte, dem „OK“-Post-it an der Brust sowie einem streng gekämmten Mittelschalter und sexy Schnurbi im Gesicht ist der Entertainer bereit für die Domstadt. Das Publikum ist dabei gar nicht so ESC-Klischee, eher Anfang 20 und feierwütig. Einige sogar im selben Outfit wie der Headliner. Nur vereinzelt mischen sich Ü30-Gäst*innen unter. Lautstark wird jede Zeile des genial-knödeligen Italienisch-Englisch-Mixes mitgesungen. Tommy fiel unter anderem wegen seines extrem wilden und schwer nachzumachenden Tanzes auf.
Und schon hier erwartet Köln das erste Downgrade. Von der ikonischen und schwer nachzuahmenden Choreo zeigt der Star nur einige Schritte. Die sind natürlich super, aber so ganz die Durchschlagskraft vom ESC hat es live dann nicht mehr. Dennoch ist die Stimmung im Raum sofort hervorragend. Das soll sich allerdings schnell legen. Von den insgesamt 80 Minuten Gig sind die ersten drei und die letzten fünf richtig gut – alles dazwischen ist es nicht. Ja, das klingt vernichtend, aber Tommy Cash scheint die übertriebene, riesige Inszenierung zu benötigen. Oder eben seine Videoproduktions-Skills. Am Ende scheitert der Auftritt nämlich an so vielen Punkten.
Zunächst einmal gibt es quasi gar keine Showelemente. Keine Leinwand, keine Backgroundtänzer*innen, lediglich den DJ als Backup für einige Zeilen, sein riesiges DJ-Pult und einen Kostümwechsel in der Mitte. Ach ja, und so fünf Liter Wasser. Beide spritzen nämlich alle paar Minuten den Inhalt von Flaschen in die Menge. Unnötig. Die Bildebene, darunter auch die Visuals, machen bei Tommy Cash wirklich enorm viel aus. Hier in Köln ist seine Figur das einzig wirkliche Element. Die ist schon beim bloßen Anblick witzig, bekommt aber im Laufe des Auftritts gar keine weiteren Layer. Wenn man doch ein sehr videoaffiner Act ist, warum zeigt man dann keine Videos? Wenn man Comedy als wesentlichen Bestandteil seiner Kunst benötigt, warum ist der Auftritt dann fast gar nicht lustig?
Einige Male zeigt Tommy skurrile Dance-Moves oder Bewegungen am Mikrofonständer. Da kann man schon schmunzeln. Doch gerade seine Ansprachen nutzen wenig ihre Möglichkeiten. Der gesamte Auftritt erinnert stark an Überraschungsgigs in früheren Großraumdiscotheken. Da kam plötzlich nachts um 1 Cascada und hat eine halbe Stunde performt, um Menschen in Bewegung zu bringen. Immer zu Instrumentalversionen, manchmal gar Playback. Aber dafür musste man nie extra bezahlen, der Auftritt war immer im Preis inkludiert. Tommy Cash in Köln fühlt sich an wie eine Performance diverser B-Acts im Megapark am Ballermann. Am Ende sind zwar alle vom Abgehen durchgeschwitzt und außer Atem, aber der Act selbst lief musikalisch unterm Radar.
Denn gerade auf musikalischer Ebene ist das Konzert ein kompletter Totalausfall. Laut Wikipedia definiert sich Tommy Cash an erster Steller als Rapper, an zweiter als Sänger. Gezeigt hat er von beidem nichts. In vielen Songs spricht er ein paar Zeilen, gesungen wird gar keine, sehr viel kommt einfach vom Band. Liveinstrumentalist*innen gibt es selbstredend nicht. Viel zu oft wirken die Tracks nur abgespielt und er tanzt dazu bzw. fordert immer wieder zum Springen und Moshen auf. „Open up!“ fordert er bei zig Liedern. Das wird dann auch beherzigt. Ein Kern vor der Bühne eskaliert mehrfach. Nur würde das exakt genauso funktionieren, wenn er nicht da wäre und der DJ den Job komplett allein gemacht hätte.
Nächste Enttäuschung: Die Songs. Wer „Espresso Macchiato“ mag, kommt noch exakt einmal auf seine Kosten, nämlich bei der aktuellen Single „Ok“, die sehr ähnlich, nur schlechter als der ESC-Banger funktioniert. Die restliche Setlist ist nahezu ausschließlich EDM, Techno oder Hardstyle. Laut, basslastig und ziemlich übersteuert ballern die BPM-Zahlen jenseits der Gut-und-Böse-Skala durch die Boxen und verwandeln die Kantine in einen ganz schön heftigen Mindfuck. Klar, man könnte sich vor dem Ticketkauf intensiv mit der Diskografie des Esten auseinandersetzen und könnte es so herausfinden, doch mit Sicherheit ist „Espresso Macchiato“ die Motivation für sehr viele Konzertbesucher*innen gewesen – und die bekommen dann musikalisch etwas ganz, ganz, ganz anderes. Da muss man durchaus einiges an Toleranz mitbringen, bestehen eben jene Songs wie „Untz Untz“, „Ass & Titties“ oder „Ferrari“ meist aus Beats mit ein bisschen Text, aber nicht aus melodischem Comedy-Pop. Vieles klingt so gleich, dass man im Mittelteil nicht mal richtig checkt, wann der nächste Track losgeht.
Zwei gute Momente hat das Ganze dann aber doch noch. Für jedes der über 20 Länder, in dem Tommy Cash bei über 30 Shows in knapp drei Monaten bis zum Jahresende auftritt, hat er sich einen in seinen Augen repräsentativen Song ausgesucht, der in der Mitte der Show läuft. In Köln ist das „Schnappi, das kleine Krokodil“. Zwar kann er den Text nicht, motiviert seine Fans aber zum Mitgrölen und auch hier zum Moshen. Das ist absurd-geil, muss man ihm lassen. Zusätzlich gibt es zum Abschluss des Sets ein weiteres Mal „Espresso Macchiato“, allerdings von vier Tommy–Cash-Lookalikes aus den ersten Reihen dargeboten. Auch sweet. Abgerundet wird so, wie man begonnen hat – war es erst „A Thousand Miles“, ist es in den letzten Sekunden das niemals sterbende „I Will Always Love You“ von Whitney.
Ja. Die Stimmung ist gut am Dienstagabend, dem 14.10. Aber im Endeffekt ist Tommy Cash selbst das einzig wirklich Gute an der Tour. Auch wenn man auf musikalische Qualität so gar keinen Wert legt, zählt dann zumindest noch der Unterhaltungsfaktor. Selbst der ist bei dem Typen mit in Social Media eindeutig erkennbaren funny Bones überschaubar, weil bloßes Springen und Tanzen nicht ausreicht. Da muss mehr kommen oder die Message auch visuell transportiert werden. So wirkt das Programm inhaltlich arg leer und hingeklatscht. „Hier ist der eigentliche Gewinner des Eurovision Song Contest 2025″. Geben wir ihm! In einer drei minütigen Performance zusammengerafft mit viel Aufwand? Mega. Aber sonst? Sorry, nee.
Und so hört sich das an:
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Foto von Christopher Filipecki
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