Ein berühmtes Sprichwort sagt: “Some win the Eurovision Song Contest, others become legends”. Ja, beim größten Musikwettbewerb der Welt geht es nicht immer fair zur Sache. Viel zu viele Faktoren spielen in das Endresultat mit rein – wie beliebt ist das Land im weltpolitischen Geschehen? Wie gut sind die Gesangskills? Unterhält die Performance? Geht der Song sofort ins Ohr? 2023 konnte Loreen für Schweden nicht nur den siebten Sieg einfahren, womit das Land sich nun die meisten Gewinne mit Irland teilt, sondern gleichzeitig sogar für sich selbst als erste Frau zwei Siege erzielen. Doch insgeheim hoffte man nicht auf die Sensation, sondern drückte einem anderen Skandinavier die Daumen. Käärijä trat für Finnland an, beim finalen Abstimmungsverfahren rufen alle seinen Namen, um ihren Support zu zeigen. Und doch reichte es am Ende trotz großem Abstand im Televoting nur für Platz 2. Die Legende ist er dennoch, wie sein Konzert in Köln beweist.
Wie gesagt, der Sieg allein ist nur die halbe Miete. Schließlich können wir alle “Nel blu, dipinto di blu” aka “Volare” von Domenico Modugno mitsingen, und das schaffte beim ESC 1958 auch nur den dritten Platz. Gewinnersong damals? “Dors, mon amour” aus Frankreich. Jop, kennen wir auch nicht. Finnland wird allerdings gefühlt recht oft bestraft. Bisher hat es mit Lordi nur einmal für den Preis gereicht, dabei hätte es Helsinki durchaus schon viel öfter verdient, Austragungsstätte zu werden. So sollte es auch 2024 wieder nicht klappen. Allerdings ist der 30-jährige Jere Mikael Pöyhönen aus Vantaa, der viertgrößten Stadt des Landes, auch ohne Trophäe in der Hand mittlerweile in seiner Heimat ein richtiger Superstar. In rund anderthalb Jahren ist jede Single von ihm gechartet, fünf schafften es in die Top 10, zwei sogar an die Spitze.
Dabei sollte sich gerade Deutschland über den Megaerfolg ziemlich ärgern. 2022 bewarb sich die Band Electric Callboy für den deutschen Vorentscheid und wurde abgelehnt. Eine riesige Welle an Beschwerden zieht durchs Land, trotzdem bleibt der NDR bei der Entscheidung. Electric Callboy gehören zu Käärijäs Vorbildern, bei seinem ESC-Beitrag “Cha Cha Cha” sind Parallelen nicht von der Hand zu weisen. Die explosive Mischung aus hohem Tempo, Electronica-Beats, Rockelementen und Rap trifft den Nerv der Zeit. Das hätte die Band aus Castrop-Rauxel wahrscheinlich auch geschafft, herausfinden werden wir es allerdings nie. Der Bedarf an Käärijäs Sound ist jedoch auch bei uns trotz Landessprache vorhanden: “Cha Cha Cha” enterte hier zwar die Top 20, die restlichen Singles jedoch nicht mehr. Zugegeben, Finnisch hat es in Deutschland nicht so einfach. Trotzdem finden sich auf der 17 Gigs umfassenden Europa-Tour außerhalb Finnlands gleich sechs deutschsprachige Städte wieder. Höchstwahrscheinlich, weil eben genau das Unangepasste funktioniert.
Stopp 2 der Tour, die den gesamten Oktober läuft, ist in der Domstadt. Die Kölner Kantine meldet zwar nicht ausverkauft, ist aber geschätzt gut zwei Drittel voll. Das Publikum ist für einen durch den ESC bekanntgewordenen Act vergleichsweise ziemlich jung, das Durchschnittsalter liegt wohl bei Anfang 20. Viele Besucher*innen haben sich von den etwas schrägen Outfits des Finnen inspirieren lassen und drehen optisch auch mit bunten Frisuren, auffälligen Fingernägeln und Printshirts auf. Das Programm heute ist insgesamt jedoch arg kurz. Keine Vorband, 75 Minuten Hauptact. Um 21:15 Uhr kommt man wohl eher selten aus Konzerthallen schon raus.
Bevor die eigentliche Show losgeht, muss man trotzdem stark sein. Denn neben Electric Callboy hat Käärijä noch eine deutsche Lieblingsband. Ein Tattoo auf seiner Brust erinnert an das Bandlogo. Wir sind aber seit den Vorkommnissen im Sommer 2023 dahingehend sowas von raus. Der Song “Deutschland” mag thematisch zwar gut passen, trotzdem kann dem Künstler doch bitte jemand mal sagen, was Sache ist. Wir behaupten mal an dieser Stelle, dass ihm das wenig gefallen würde.
Egal. Pünktlich um 20 Uhr wird die Kantine innerhalb von wenigen Minuten zu einem Partyclub. Das Publikum ist richtig gut drauf, ebenso die Akteure auf der Stage. Ein DJ begibt sich auf ein Podest, vor dem es einen breiten Bildschirm gibt, auf dem fortan knallige Visuals laufen. Dazu kommen ein E-Gitarrist und ein Backing-Rapper. Gemeinsam sehen die Drei ein bisschen aus wie eine Steampunk-Version der Blue Man Group. Die Beats ballern von Sekunde 1 an mit voller Wucht in die Menge, kurze Zeit darauf betritt Käärijä im Boxermantel die Bühne. Darunter ist er – so wie meistens – oberkörperfrei und in einer neongrün-schwarzen engen Lederhose zu sehen. Ein Outfit à la Love Parade in den 90s. Geil.
Mittags waren sie in der Innenstadt, da hat ihn der Kölner Dom wohl besonders geflasht. Solche und viele weitere oft mit viel skurrilem Humor gespickte Erzählungen gibt es zwischen sämtlichen der 15 Songs, die es auf die Setlist geschafft haben. Gar nicht so wenig, wenn man bedenkt, dass das Debütalbum weiterhin auf sich warten lässt. Allerdings nicht mehr lange, sagt der mit Smokey Eyes geschminkte und frisch blondierte Künstler – nur wie lange genau, wisse er noch nicht. Käärijä zeigt sich äußerst fannah. Gleich mehrfach geht er mit einigen Leuten aus dem Publikum in den Smalltalk, ein kleines Mädel darf sogar zu ihm auf die Bühne und sich für einen Song den Trubel von oben anschauen. Spontan werden Autogramme gegeben oder ein Geschenk aus der Crowd – ein Pokémon-Rucksack – angezogen und darin performt.
Es ist eben alles andere als selbstverständlich, dass ein finnischer Rapper in Deutschland gleich mehrfach auftritt. Deswegen zeigt er sich besonders dankbar. Hin und wieder driften seine Gags, bei denen man immer nicht richtig weiß, ob sein gebrochenes Englisch nun gespielt ist oder nicht, etwas ins Alberne ab, aber das passt schließlich auch zu so manchem Song. Ernst nimmt man sich nicht, stattdessen wirkt “Hirttää kiinni” wie eine neue Version von Die Atzen. Immer wieder werden Techno-Samples eingestreut, die zu Eurodance-Zeiten der Shit gewesen wären und zum Glück in kleinen, aber fokussierten Schritten zurückkommen. Auch seine zweite Nummer-1-Single “Ruoska” kommt hervorragend an – sowieso erstaunlich, wie viele Leute hier doch bei vielen Songs textsicher sind. Extra Finnisch gelernt oder einfach so mitgesungen, wie man’s versteht? Beides cool. Der Rap ist übrigens komplett live, die Instrumentals kommen vom Band.
Bei “Trafik!” wünscht sich Käärijä in Köln einen Moshpit, der gern eröffnet wird. “Aber schön die Arme unten lassen und niemandem weh tun!”. Nein, aggressiv ist hier wirklich niemand, stattdessen haben alle 75 Minuten Spaß. Einen Teil davon macht auch sein Sidekick Häärijä aus, der sein seriöses, vergangenes Ich darstellt. Wobei seriös? Beim ersten Auftritt kommt Häärijä – der ist doch wirklich mit Käärijä verwandt, oder? – auf Rollschuhen angefahren und trägt zwar ein gelbes Sakko, gleichzeitig aber untenrum nur einen Slip. Why not? Generell ist an dieser Stelle positiv zu erwähnen, dass der Musiker zwar ein paar Kilos über den Durchschnitts-BMI mit sich trägt, dennoch aber oben ohne auftritt. Das kann auf jeden Fall auch durch die “Mir doch egal”-Attitüde empowerend wirken und gleichzeitig nichts an Attraktivität einbüßen. Am Ende wird dank ordentlicher Tanz- und Springeinlagen sichtbar geschwitzt.
Die Show ist das, was man erwarten durfte und bestimmt auch noch ein bisschen mehr. Comedy meets Post-Hardcore-Rap auf einer Sprache, die bis auf die paar Fans, die extra aus Finnland angereist sind, wohl kaum jemand spricht, aber trotzdem gut funktionieren. Anders, witzig, entertaining und eine erfrischende Abwechslung. It’s Crazy, it’s Party!
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Foto von Christopher
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