Eurovision Song Contest 2021, Das Finale: Ergebnisse, Meinungen & Ausblicke

Wir stellen alle 39 Songs des diesjährigen Eurovision Song Contest in Rotterdam vor, u.a. auch Jendrik, der für Deutschland antritt.

Rock’n’Roll never dies! Diesen Satz haben viele unserer Väter bereits gesprochen, und doch scheint er auch 2021 noch zu stimmen: Måneskin sind am 23.5. um 0:55 Uhr deutscher Zeit die Gewinner*innen des 65. Eurovision Song Contests. Die italienische Rockband holt mit ihrem Titel „Zitti e buoni“ in Rotterdam mit 524 Punkten den dritten Sieg für ihr Land. Der letzte ist bereits 31 Jahre her. Das hat uns mehr als überrascht – bei unserem Vorchecking im April haben wir ihnen lediglich Platz 18 zugetraut. Schande über uns!

Deutschland wiederholt den Platz vom letzten Mal: 25 von 26. Das kommt auch ein Stück weit überraschend. Zwar war Jendrik mit seinem „I Don’t Feel Hate“ vielen wohl zu überdreht, aber genau dieses Quirlige, Ironische, leicht Alberne mit „Antworte auf Hass besser mit Liebe“-Message hat schon oft zu guten Ergebnissen geführt. Lediglich drei Punkte waren zu holen: zwei von unseren Nachbar*innen aus Österreich, einer aus Rumänien. Bei den Leuten vor den Bildschirmen gab es zum wiederholten Male keinen einzigen. Das war schon 2019 so. Neu jedoch: neben Deutschland gingen auch Spanien, die Niederlande und Großbritannien ohne Zuschauer*innen-Punkte nach Hause.

Alle Platzierungen und Punktzahlen im Überblick:
1. Italien: „Zitti e buoni“, Måneskin (206 Jury-Punkte, 318 Zuschauer*innen-Punkte, 524 gesamt)
2. Frankreich: „Voilà“, Barbara Pravi (248 Jury, 251 Zuschauer*innen, 499 gesamt)
3. Schweiz: „Tout l’univers“, Gjon’s Tears (267 Jury, 165 Zuschauer*innen, 432 gesamt)
4. Island: „10 Years“, Daði og Gagnamagnið (198 Jury, 180 Zuschauer*innen, 378 gesamt)
5. Ukraine: „SCHUM“, Go_A (97 Jury, 267 Zuschauer*innen, 364 gesamt)
6. Finnland: „Dark Side“, Blind Channel (83 Jury, 218 Zuschauer*innen, 301 gesamt)
7. Malta: „Je me casse“, Destiny (208 Jury, 47 Zuschauer*innen, 255 gesamt)
8. Litauen: „Discoteque“, The Roop (55 Jury, 165 Zuschauer*innen, 220 gesamt)
9. Russland: „Russian Woman“, Manizha (104 Jury, 100 Zuschauer*innen, 204 gesamt)
10. Griechenland: „Last Dance“, Stefania (91 Jury, 79 Zuschauer*innen, 170 gesamt)
11. Bulgarien: „Growing Up Is Getting Old“, Victoria (140 Jury, 30 Zuschauer*innen, 170 gesamt)
12. Portugal: „Love Is on My Side“, The Black Mamba (126 Jury, 27 Zuschauer*innen, 153 gesamt)
13. Moldau: „Sugar“, Natalia Gordienko (53 Jury, 88 Zuschauer*innen, 141 gesamt)
14. Schweden: „Voices“, Tusse (46 Jury, 63 Zuschauer*innen, 109 gesamt)
15. Serbien: „Loco loco“, Hurricane (20 Jury, 82 Zuschauer*innen, 102 gesamt)
16. Zypern: „El diablo“, Elena Tsagrinou (50 Jury, 44 Zuschauer*innen, 94 gesamt)
17. Israel: „Set Me Free“, Eden Alene (73 Jury, 20 Zuschauer*innen, 93 gesamt)
18. Norwegen: „Fallen Angel“, TIX (15 Jury, 60 Zuschauer*innen, 75 gesamt)
19. Belgien: „The Wrong Place“, Hooverphonic (71 Jury, 3 Zuschauer*innen, 74 gesamt)
20. Aserbaidschan: „Mata Hari“, Efendi (32 Jury, 33 Zuschauer*innen, 65 gesamt)
21. Albanien: „Karma“, Anxhela Peristeri (22 Jury, 35 Zuschauer*innen, 57 gesamt)
22. San Marino: „Adrenalina“, Senhit feat. Flo Rida (37 Jury, 13 Zuschauer*innen, 50 gesamt)
23. Niederlande: „Birth of a New Age“, Jeangu Macrooy (11 Jury, 0 Zuschauer*innen, 11 gesamt)
24. Spanien: „Voy a quedarme“, Blas Cantó (6 Jury, 0 Zuschauer*innen, 6 gesamt)
25. Deutschland: „I Don’t Feel Hate“, Jendrik (3 Jury, 0 Zuschauer*innen, 3 gesamt)
26. Großbritannien: „Embers“, James Newman (0 Jury, 0 Zuschauer*innen, 0 gesamt)

NACHLESE ZUR SHOW:

Versuch geglückt! Der Eurovision Song Contest glich einer Feldforschung. Ist ein Event dieser Größenordnung in Coronazeiten wieder möglich? Es ist nicht irgendein kleines Konzert, nein – hier geht es immerhin um den größten Musikwettbewerb der Welt. Zwar wurde das Publikum auf 25% Hallenkapazität geschrumpft, was konkret 3500 Persönchen bedeutet – aber es hat tatsächlich funktioniert. Ohne unangenehme Vorkommnisse hat es geklappt.

Wie frustrierend wäre es auch gewesen, wenn dieses Experiment – ja, es wurde so genannt – nicht geglückt hätte. Wenn eine Veranstaltung mit dermaßen viel Aufwand völlig für die Katz gewesen wäre. Dabei sah es am Donnerstag gar nicht so gut aus: 16 positive Coronatests, darunter einer bei dem 2019-Gewinner Duncan Laurence, wegen dem das Spektakel in Rotterdam überhaupt stattfindet, und bei einem Member der Band aus Island. Daði og Gagnamagnið galten 2020 als Favorit*innen – dieses Mal war der mitreißende Überraschungseffekt und Coolnessfaktor zwar nicht mehr gegeben, aber dass gleich ein so schwerwiegendes Los gezogen würde, schmerzt natürlich ungemein. Aber Cool bleibt Cool. Sowohl die nationalen Jurys als auch die knapp 200 Millionen Zuschauer*innen, die der Wettbewerb für gewöhnlich verzeichnet, scheinen sie zu lieben und verteilten final einen vierten Platz. Knapp am Siegertreppchen vorbei – doch mit Sicherheit haben wir von denen nicht zum letzten Mal was gehört.

Zum Thema „Jury vs. Zuschauer*innen“: Es bleibt einfach ein Faszinosum, wie unterschiedlich Menschen Musik bewerten. In jedem Land dürfen fünf Ausgewählte gleich 50% der Stimmen vergeben – die anderen 50% kommen von den Menschen an den Handys. Und was für eine Schere sich hier zwischen Stimmgruppe A und B auftut, kann nicht oft genug betont werden. Wäre es nach den Jurys gegangen, hätte der Pokal in die Schweiz wandern sollen. Gjon’s Tears hat mit seiner epischen Electro-Pop-Ballade „Tout l’univers“ die große Dramakarte gezogen und beeindruckenden Gesang geliefert – aber that’s it. Offensichtlich scheinen die Fachkräfte sich nur auf Stimme zu konzentrieren, dabei bleibt es doch ein „Song-“ und kein „Singcontest“. Die Silbermedaille ging ebenfalls an eine Nummer mit Fokus „Gesang“, nämlich an Frankreich. Ganz klassischer Chanson im Stile der 60er passt natürlich hervorragend zur gegenwärtigen Retrowelle, erfüllt einige Klischees, ist aber zumindest in einer ESC-Show irgendwie passend.

Doch am Ende reißen 200 Millionen im Vergleich zu knapp 200 Menschen einfach mehr. Mit gleich 50 Punkten Abstand zum Zweitplatzierten kann die seit vier Jahren bestehende Glam-Rock-Band Måneskin die Zuschauer*innen überzeugen. Sie schaffen es als erste Teilnehmer*innen von Platz 4 nach Juryvotes doch noch den Sprung zur Trophäe zu machen. Ebenso sind sie die erste Band seit Lordi im Jahr 2006, die gewinnen, und gleichzeitig seitdem auch die ersten Künstler*innen aus dem Rock-Genre. Måneskin sind eine echte Gruppe, die nicht für den Wettbewerb gecastet wurde, machen Musik der alten Schule, schauen aus wie Freddie Mercury in seinen besten Zeiten und singen auf Landessprache. Gutes Stichwort übrigens! Bei den Jurys landen zwei französischsprachige Titel auf den Topplätzen, bei den Zuschauer*innen ein italienischer und ein ukrainischer, sodass die endgültige Top 5 aus gleich vier nicht-englischsprachigen Songs besteht.

Ein Zeichen für ein neues Zeitalter? Der Eurovision ist nach einem Jahr Zwangspause zurück und zeigt sich modern, divers und queer. Die schon immer sehr tolerante Veranstaltung hat nochmal einen draufgesetzt, ohne dabei schrill und persiflierend zu werden. Eine der Moderatorinnen ist eine Transfrau, mehrere Acts performen unabhängig von ihrer Sexualität von der Heteronorm abweichend, in mehreren Songs geht es um Feminismus, Selbstliebe, mehr Miteinander und obwohl seit 1998 die Landessprache freigewählt werden kann, ist sie wieder das große Ding.

Der ESC entwickelt sich eben stets weiter und ist immer ein Stück Zeitgeschehen. Er spiegelt musikalische, politische wie kulturelle Trends. Generischer Pop mit ein bisschen Wackelwackel holt einen nicht mehr ans Telefon, sodass die sehr ähnlich klingenden und ähnlich aussehenden Performances aus Zypern, San Marino, Moldau, Aserbaidschan, Serbien und Griechenland alle eher mittelmäßig abschneiden.

Einige Länder scheinen wirklich zu wollen. Das beweisen auch die Wettbüros, die bis kurz vor Knapp sich kaum auf ein*e Favorit*in einigen konnten. Litauen durfte schon beim ausgefallenen ESC 2020 mit Island um den Sieg ringen, Frankreich, Schweiz, Italien, Island und Malta waren dem einzigen Balkanland, das bisher noch nicht beim Eurovision gewinnen konnte, zu dicht auf den Fersen. Auch hier schmerzt der ausgefallene Jahrgang hart.

Doch Italien darf man dem Sieg gönnen. Ob man musikalisch mit Måneskin etwas anfangen kann, ist das eine. Dass das Land aber seit seiner Rückkehr 2011 – zuvor wurde 13 Jahre pausiert – eigentlich nur gute bis sehr gute Beiträge liefert, ist unumstritten. 2011 und 2019 gab es einen Platz 2, 2015 einen 3. Platz, 2012, 2013, 2017 und 2018 Top Ten-Platzierungen. Das traditionelle San Remo-Festival, welches gleichzeitig den nationalen Vorentscheid für den ESC darstellt, scheint seine Berechtigung zu haben, denn ähnlich wie in Schweden und Norwegen wird hier über Wochen öffentlich aussortiert und nicht mal kurz was entschieden.

Auch Schweden muss sich so langsam Gedanken über eine Umstrukturierung machen. Gefühlt ist jedes Jahr das gleiche Konzept in der Endrunde. Zusätzlich liefert das Land mit Acts wie ABBA und Roxette zig Beiträge für andere ESC-Länder und nudelt sich so langsam gehörig ab. Wenn der siebte Sieg möglichst bald folgen soll, um mit dem seit 1994 führenden Irland gleichzuziehen, wäre frischer Wind von Nöten.

Und was machen wir mit dem Sorgenkind Deutschland? Gar nicht so easy. Mit Jendrik und seinem „I Don’t Feel Hate“ ging mal wieder was mit Edge an den Start. Auffällig, nicht zu ernst, spritzig, kurzweilig – aber natürlich auch gewagt. Dass das mit lediglich drei Punkten – was nochmal 21 Punkte weniger sind als 2019 mit den farblosen S!sters – abgestraft wird, ist schon hart. Noch härter aber trifft es Großbritannien, die seit der Einführung des neuen Punktesystems 2016, die Ersten sind, die mit null Punkten im Jury- und im Zuschauer*innen-Voting rausgehen. Ein doppelter Schlag ins Gesicht für den Künstler James Newman, der bereits an Hits von Rudimental, Calvin Harris, Kesha, Jess Glynne, Jessie Ware oder Little Mix mitschrieb.

Doch nochmal: Was schickt Deutschland am besten hin? Der einzige Erfolg seit 2012 gelang mit Michael Schultes emotionaler Singer/Songwriter-Pop-Ballade „You Let Me Walk Alone“, die dieses Jahr mit großer Sicherheit auch baden gegangen wäre. Also abwarten, grübeln, in ’22 den nächsten Versuch starten, irgendwie und irgendwen zu finden und hoffen. Was außerdem auch gefunden werden muss, auch wenn es hart klingt: Ein neuer Kommentator. Zwar mag Urgestein-Peter Urban mit seinen 73 Jahren viel Erfahrung und Wissen mitbringen, aber so richtig verstehen, was auf der Bühne abgeht, tut er leider nicht mehr. Frischzellenkur auf allen Wegen, bitte!

Eurovision bleibt eben keine berechenbare Musikshow, bei der man den Siegertitel im Labor zusammenmixt. Selten gewinnt ein ähnlicher Stil zweimal hintereinander, oft benötigt es Fingerspitzengefühl für gegenwärtige Trends, die Extraportion Überraschung in der Performance und den nötigen Sound, der sich wohlwollend im Gehörgang breitmacht. Davon wird es kommenden Mai bestimmt einiges geben – und zwar in Rom oder Neapel oder Mailand oder Turin oder…

Und so sah der Siegerauftritt aus:

Hier kannst du den Sampler zur Show kaufen.*

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2 Kommentare zu „Eurovision Song Contest 2021, Das Finale: Ergebnisse, Meinungen & Ausblicke“

  1. Gute Zusammenfassung der ESC-Show. Der deutsche Beitrag war kein Song, sondern eine krude Mischung aus Kindergeburtstag und Botschaft mt der Holzhammermethode. Wie schon im Artikel erwähnt, handelt es sich um einen Songwettbewerb. Und da hat Deutschland in den letzten Jahren keine Lieder zum Wettbewerb geschickt, die die Zuschauer berührt haben. Die rühmliche Ausnahme war eben Michael Schulte mit viel Emotionalität und Professionalität.
    *Ich denke, dass mit Balkanland eher das Baltikum gemeint ist, oder?

    1. Hey Torsten, danke für dein Feedback. Schön, dass dir der Beitrag gefällt. Ja, Deutschland hat in der Tat viel Mist geschickt, wobei ich dieses Jahr zumindest den Song schon ganz cool fand. Mir war Michael Schulte z.b. zu kitschig und zu viel Tränendrüse! Geschmacksache. Vlg!

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