Für das Erzählen von Geschichten und Vermitteln ungeschönter Emotion besaß Jordan Dreyer schon immer ein besonderes Händchen. Ob die bildhafte Beschreibung der zwei durch einen reißenden Fluss getrennten Liebenden in „Said The King To The River“, die Suche nach dem eigenen und fremden Leid in „All Our Bruised Bodies and the Whole Heart Shrinks“ oder die Spannung zwischen Licht und Dunkel im Mittelteil des den Atem raubenden sieben Minuten Epos „King Park“; der Frontmann der amerikanischen Post-Hardcore-Band La Dispute verstand sich schon immer darin, den mal rauen, mal seichten Hardcore seiner Kollegen mit tiefgründiger Poesie zu verbinden. Ein Blick auf das „Hear, Hear-Experiment“, eine bislang dreizehn Stücke umfassende reduzierte Darbietung von eigener und fremder Lyrik, festigt diesen Eindruck. Auch das vierte Album der Gruppe um Dreyer führt diesen Weg fort, widmet sich gewohnt düsteren Thematiken und lädt auf einen Trip der besonderen Art ein.
Die Fulton Street oder auch M-21 W verbindet Grand Rapids, den Ort aus der die fünf La Dispute-Mitglieder ursprünglich stammen, und die Kleinstadt Lowell, in der die Partnerin des schüchternen Frontmannes aufwuchs. Letztere liegt etwa 30 Kilometer westlich von Grand Rapids, der mit etwa 200.000 Bewohnern zweitgrößten Stadt des US-Bundesstaats Michigan. „Panorama“ spielt sich in großen Teilen auf dieser nah am Grand River verlaufenden Verbindungsstraße ab, die Dreyer in der selbst verschriebenen Bandpause die letzten zweieinhalb Jahre häufiger passieren musste. Entlang der Straße findet man wie auf den meisten größeren und kleineren Landstraßen viele kleine Gedenkstätten für verstorbene Unfallopfer, die mal mit Blumen geschmückt sind, mal trostlos auf den Verlust eines geliebten Menschen hinweisen. Genau diesen unzähligen tragischen Toden widmet sich Dreyer auf „Panorama“.
Der eindringliche „Fulton Street“-Zweier beginnt dieses Narrativ. Das lyrische Ich beschreibt, wie es während einer Autofahrt auf der M-21 W immer wieder solche eigentlich bedrückende, doch häufig schmuckvollen Orte passiert. Der Hörer kann im Laufe der beiden Stücke nachvollziehen, wie die Gedanken des Protagonisten immer wieder abschweifen. Später geht es nicht mehr um die einzelnen Geschehnisse, sondern vielmehr um die Frage, ob man selber irgendwann auch Blumen an einem solchen Ort platzieren muss, weil die Opfer nicht irgendwelche Fremden, sondern Familie oder Freunde sind. Solche Blickwinkelwechsel von der dritten in die erste Person tauchen immer wieder auf. Auch die Suche nach dem eigenen Leid, sowie Beziehungsprobleme und Angstzustände werden immer wieder thematisiert.
Ein weiteres wiederkehrendes Motiv, der Rhodonit, ist ein Edelstein, dem wie vielen anderen Kristallen eine heilende Wirkung zugeschrieben wird. Neben der tiefen Trauer steht auch immer der Wunsch diese zu besänftigen. In dem Kontext schleicht sich häufig auch die Edelsteinsymbolik ein. Diese bildhafte Rhetorik und durchdachte Motivik zieht sich durch die gesamte Platte. Dreyer kommt seinen Ruf als begnadeter Poet also durchaus nach. Ohne die tatkräftige Unterstützung seiner vier Kollegen wäre „Panorama“ jedoch noch lange nicht so rund und berührend wie es in Gesamtform ist.
Was musikalisch bei „Fulton Street I“ noch ganz reduziert und seicht beginnt, sich immer weiter in Richtung Klimax steigert, entlädt all seine Anspannung dann im eklektischen Ausbruch von „Fulton Street II“, in dem Dreyer immer wieder „I was waiting for the anger to change“ ruft. Das darauf folgende „Rhodonite And Grief“ fährt Trompeten auf, „In Northern Michigan“ stellt ganz deutlich eine unaufgeregte Bassline in den Fokus und „You Ascendant“ lebt sieben Minuten lang von seiner bedrückenden Akustikgitarre-getragenen Grundstimmung. Rein musikalisch experimentieren La Dispute auf ihrem vierten Langspieler so viel wie niemals zuvor. Baute der Vorgänger „Rooms Of The House“ jedoch noch auf den Leerraum zwischen Laut und Leise, hält sich „Panorama“ eher in den Extremen auf, gibt sich in den ruhigen Momenten gebrechlich und einfühlsam, um sich dann in treibenden Ausbrüchen zu verlieren. So entlässt „View From Our Bedroom Window“ die Zuhörer nach einem melancholischen Instrumental-Intro zunächst in eine ruhige Strophe, die eine atemberaubende Gitarrenmelodie anführt, bevor es im Refrain wieder deutlich lauter wird. Viele der neun Stücke – man lasse das instrumentale Intro außen vor – bewegen sich genau zwischen solchen kontrastreichen Extremen.
Am Schluss verbindet „Panorama“ alles, was die Musik La Disputes auszeichnet: ein tiefgehendes Konzept, das sich mit in Lyrik gepackter Emotion verbindet und von der mal atmosphärischen, mal stürmischen Musik getragen wird. Dieses Gesamtpaket spendet Ratlosigkeit und berührt, lässt einen fassungslos den Kopf schütteln und Tränen vergießen. Die Bandgeschichte La Disputes durchzogen noch nie Höhen und Tiefen, ein unumstrittenes Klassiker-Werk gibt es nicht. „Panorama“ reiht sich in diese Sammlung aus qualitativ hochwertigen Gesamtwerken ein und zeigt auf, wie viel Potential noch in den fünf Musikern schlummert. Die Reise ist noch lange nicht vorbei.
Das Album “Panorama” kannst du dir hier kaufen.*
Tickets für die kommende Tour gibt es hier.*
Und so hört sich das an:
Website / Facebook / Twitter / Instagram
La Dispute live 2019:
21.-23.06.2019 – Hurricane / Southside Festival
29.06.2019 – Köln, Carlswerk Victoria
05.07.2019 – Berlin, Astra
07.07.2019 – Leipzig, Conne Island
08.07.2019 – Wiesbaden, Schlachthof
Die Rechte für das Albumcover liegen bei Epitaph Records.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.