In Fachkreisen nennt man sie „PED“ – die „Post Eurovision Depression“. Das leere und traurige Gefühl, das bei Hardcore-Fans eintritt, wenn der Eurovision Song Contest vorbei ist und man seine kleine Bubble wieder verlassen hat. Eine Bubble, die jedes Jahr in einer anderen Stadt entsteht, unzählige Leute anlockt, in der sich alle für das gleiche internationale musikalische Event begeistern und die nach gut einer Woche zerplatzt. Um sich aus diesem Tief schnell wieder zu befreien, hat sich Dr. Irving Wolther sowohl für sein Wohlbefinden als auch für das vieler anderer Fans etwas Besonderes einfallen lassen. Wolther ist seit 2006 der Doktor des Eurovision. Er promovierte in Hannover, arbeitet für die deutsche Homepage eurovision.de und schrieb mehrere Bücher zum Thema. Doch dieses Jahr sollte es einen Schritt darüber hinausgehen – und Wolther entschied sich, die erste ESC-Fanconvention in Deutschland zu starten, die sogenannte UNESCON.
Das Wochenende vom 28. bis 30.6. wurde auserkoren, um gerade einmal sechs Wochen nach dem großen Finale in Tel Aviv die Fanschar wieder zusammen zu holen. Die PED war also 2019 von kurzer Zeit. Als Austragungsort wählte man Hannover – Unkundige werden wohl nun die Stirn runzeln. Kein Berlin, Hamburg, Köln? Tatsächlich macht das aber durchaus Sinn, handelt es sich bei Hannover doch um die „UNESCO – City of Music“ und ganz nebenbei noch um den Geburtsort von Lena Meyer-Landrut, die ja auch für den deutschen ESC nicht ganz unbedeutend ist. Somit ist der Name UNESCON auch zugleich ein geschicktes Wortspiel aus „ESC“ und „Con“ für „Convention“ – tricky, oder?
Drei Tage lang wird für Anhänger des größten Musikwettbewerbs der Welt eine gemischte Tüte an Attraktionen und Events geboten. Startet der Freitag noch recht entspannt mit einer Stadtrundfahrt und einem thematischen Karaokeabend, beendet der Sonntag das Happening mit einem Umzug über das bekannte Hannoveraner Schützenfest und einem exklusiven Abschlusskonzert in kleiner Runde mit der portugiesischen Sängerin Manuela Bravo und folkloristischen Tönen. Der Tag dazwischen stellt aber zweifelsohne das Highlight dar. Deswegen haben wir weder Kosten noch Mühe gescheut und sind am Samstag zur ersten UNESCON gefahren und können hiermit sagen: es hat sich absolut gelohnt!
Das ganze Spektakel findet im Pavillon statt, einem Kulturzentrum mit mehreren Räumlichkeiten. Zwar kein Schickimicki, eher rustikal, dafür aber sehr authentisch und absolut nah am Geschehen – als ob man sich eigentlich zum gemeinsamen Kaffeeklatsch verabredet hätte. Überall laufen Leute herum, die man später noch auf der Bühne sehen wird. Ab 15h gibt es für Presseleute und VIP-Gäste, die wirklich alles mitnehmen wollen, eine Konferenz, in der Wolther seine Gäste begrüßt. Kurze Ansprache, dann werden die insgesamt acht Künstler, die am Abend auftreten werden, hereingebeten. Außerdem mischen sich die zwei Moderatoren, Alina Stiegler und Stefan Spiegel, unter die Truppe. Bei der Presseveranstaltung ist in der Tat noch Potenzial nach oben: der schlecht ausgeleuchtete Theaterraum sorgt leider dafür, dass auf der Zuschauertribüne die Gesichter der Stars kaum zu erkennen sind, weil der Raum so dunkel ist. Alle Künstler positionieren sich an Stehtischen, Wolther stellt schnelle knackige Fragen zum Aufwärmen und dann geht’s direkt zum Fotoshooting über, das zunächst innen stattfindet, jedoch nach wenigen Minuten auf eine Wiese vor der Tür verlagert wird – bei 33 Grad. Also wird auch da gut auf die Tube gedrückt, um einem Sonnenstich vorzubeugen und anschließend direkt zum Meet & Greet übergegangen, sodass Presse & Fans ihre eigenen Fragen stellen können und die Chance haben, mit ihren Kameras Fotos zu machen. Die Zeit ist für die Anzahl an Leute vielleicht etwas knapp bemessen, aber mit etwas Einsatz sollte man das bekommen können, was man wollte.
Viel spannender und vor allen Dingen wichtiger ist doch, wie der Galaabend ablief. Um 20h soll der Startschuss fallen – was er auch genau auf die Minute tut. Vorher befinden sich die Zuschauer im Foyer und schlürfen gratis einen Aperol Spritz als Appetizer, was sehr gut anzukommen scheint. Dann nehmen die etwas mehr als 400 Gäste Platz im Großen Saal des Pavillons, der mit geschätzten 100 Personen mehr ausverkauft wäre. So kann aber jeder sich mittig auf die Tribüne setzen und hat das Gefühl, eher bei einer Probe dabei sein zu dürfen – nicht, weil es so unausgereift klingt, sondern weil es so klein, überschaubar und persönlich wirkt.
Das Auffälligste an dem Konzert ist für den ESC quasi ein Relikt aus vergangener Zeit: ein Liveorchester. Das Orchester im Treppenhaus kommt aus Hannover und darf heute mit Arrangements, die nur für das Konzert geschrieben wurden, auftreten. Aufgestockt wird mit einer poppigen Band, sodass man auf über 30 Musiker kommt. Ein schönes Bild. Als Eröffnung gibt es selbstverständlich die Eurovisionsmelodie, die von einem jungen Mädchen auf einer Blockflöte vorgespielt wird und dann in einer großen Ouvertüre übergeht. Irving Wolther und die beiden Moderatoren betreten feierlich, schick gekleidet und in bester Laune die Bühne und von Sekunde Eins hat das Publikum wirklich Bock.
Die darauffolgenden knapp 165 Minuten inklusive einer Pause von 20 Minuten bestechen durch Detailliebe: es läuft nicht alles perfekt, dafür aber mit sehr viel Charme. Hier sind Leute am Werk, denen es wirklich wichtig ist, eine Show für Fans zu zeigen. So gibt es zwar nicht die größten Stars der vergangenen Wettbewerbe, dafür aber sieben Künstler aus insgesamt sechs Jahrzehnten und sieben Nationen. Jeder präsentiert seinen ESC-Titel von damals – manche sogar ihre drei ESC-Titel, weil sie gleich mehrmals antraten – oder bekannte Songs von anderen Teilnehmern im eigenen Gewand. Zwar ist das keine Show für ein breites Publikum, will es aber auch zu keiner Sekunde sein. Es ist ein Event von langjährigen Fans für langjährige Fans. Leute, die nicht nur ab und zu mal einschalten, sondern sich immer wieder mit dem Grand Prix beschäftigen – der Old Fashioned-Ausdruck ist hier durchaus angebracht und als Retrobegriff zu verstehen.
So sorgt der fast 74-jährige (!) Schwede Claes-Göran Hederström für 60er-Flair – er wurde 1968 Fünfter im Wettbewerb. Außerdem singt er ein Cover von „Congratulations“, mit dem Cliff Richard im gleichen Jahr Platz Zwei erreichte. Für das folgende Jahrzehnt geht die Portugiesin Manuela Bravo ins Rennen, die noch heute mit ihrem Mix aus Pop und nationalem Sound auftritt und wie für die Veranstaltung gemacht ist. Sie schaffte zwar 1979 nur Platz Neun, blieb aber mit ihrem Titel „Sobe, Sobe, Balão Sobe“ im Kopf und ergänzt mit dem Gewinnersong der Portugiesen „Amar Pelos Dois“ aus 2017. Die Malteserin Chiara durfte gleich dreimal im Finale stehen und singt auch auf der Veranstaltung alle drei Songs. Ihr Gesang ist auf jeden Fall eins der Highlights der Show und sorgt für Gänsehautmomente. Ihr Intro ist der 2012er-Gewinnersong „Euphoria“ von Loreen, den auch Nicht-ESC-Fans noch im Ohr haben sollten.
Wo wir auch bei einem weiteren Thema wären: die Gala ist nicht eine bloße Aneinanderreihung von sieben Künstlern, die alle drei Titel singen und dann wieder gehen. Stattdessen bietet das Programm zusätzlich lockere Moderationen mit Funfacts, schönes ruhiges Licht, genug Platz zum Tanzen, was vom Publikum wohlwollend in Anspruch genommen wird – und sogar mehrere thematische Medleys nur vom Orchester! Sowohl die Hits aus 2019 als auch Klassiker von bereits verstorbenen Künstlern werden beachtet. Bei Letztem endet das Potpourri in dem wahrscheinlich musikalisch besten deutschen Titel, den der ESC je hatte, „Ein Lied kann eine Brücke sein“ von Joy Fleming. Dieser wird vorgetragen von der blinden Sängerin Corinna May und Joy Flemings Sohn, Bernd Peter Fleming, die auch gemeinsam auf Tour unterwegs sind. Tatsächlich kann May der extrem anspruchsvollen Nummer gerecht werden und schmettert beeindruckende Töne. Sie ist bereits einige Zeit vorher auf der Bühne, da sie die Show mit ihren drei ESC-Teilnahme-Titeln eröffnet, auch wenn nur einer davon es ins Finale schaffte. Gerade das erste Solo des Abends, „Hör den Kindern einfach zu“, lässt wohl einige Augen im Publikum schwitzen, und bringt die besungene und gewünschte Melancholie.
Kein ESC funktioniert ohne einen Blick in andere musikalische Richtungen. Somit gibt es mit Şebnem Paker, die 1996 und 97 für die Türkei antrat – ein Land, das leider aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr teilnimmt –, beliebte orientalische Rhythmen und Stimmung zum Mitmachen. Funktioniert. Mit den zwei letzten Künstlern gelingt schließlich der Sprung in die Gegenwart: Elina Nechayeva, estländische Teilnehmerin 2018, schaffte mit ihrem klassischen Gesang in „La Forza“ letztes Jahr Platz Acht und verleiht dem Konzert eine weitere musikalische Facette, sodass auch Opernfans das bekommen, was sie mögen. Außerdem singt sie „Scream“ von Sergey Lazarev, das erst vor wenigen Wochen in Tel Aviv Platz Drei schaffte – womit die Brücke zum Mai 2019 geschlagen ist und als letzter Sänger Chingiz aus Aserbaidschan auftreten darf, der im diesjährigen ESC Achter wurde. Er tritt zunächst vom wirklich bombastischen und durchweg sehr guten Orchestersound, der nicht zuletzt durch die energetische Leitung von Thomas Posth musikalisch top und gleichzeitig mit Herzenslust erklingt, zurück und wählt stattdessen eine akustische Interpretation seines Songs „Truth“, was ein wenig gewöhnungsbedürftig klingt. Auf keinen Fall schlecht, nur eben anders. Hier wäre vielleicht bei so einer mitreißenden Nummer etwas mehr Bandsound wünschenswert gewesen. Außerdem singt er mit Nechayeva als finalen Abschluss den diesjährigen Siegertitel „Arcade“ von Duncan Laurence im Duett – was leider das Lowlight der Show darstellt. Chingiz singt locker die Hälfte der Lyrics falsch und kann dem hochemotionalen Titel nicht die nötige Tiefe verleihen. Schade, aber man kann nicht alles haben.
Zum Abschluss des Konzerts gibt es einen weiteren Titel der Moderatoren. Wolther, Stiegler und Spiegel singen und tanzen mit allen Gästen zum deutschen Beitrag 1960 „Bonne Nuit, Ma Chérie“ und werden mit frenetischem Applaus überhäuft. Auch wenn hier nur gute 400 Leute anwesend sind, klingt der Beifall lauter als auf manchen Konzerten mit der fünffachen Menge an Gästen. Eine Zugabe muss spontan improvisiert werden und gelingt auch nur geringfügig – macht aber gar nix. Perfektion gibt es oft genug, hier macht das einzigartige Konzept mit einem ungewöhnlichen und gerade deswegen guten Programm alles wett.
Mit guter Laune und außergewöhnlichen Höreindrücken zieht die ESC-Gemeinde anschließend in den Nebenraum, um weitere drei Stunden zu bunter Eurovision-Musik aus allen Ländern und allen Jahrzehnten zu feiern. Um Mitternacht ist ein weiterer Anheizer zu Gast: Kaia Tamm war zwar im estländischen Vorentscheid äußerst erfolglos, erlangte aber mit ihrem deutschen (!) Track „Wo sind die Katzen?“ einen kleinen Kultstatus in unserer Region. Sie und ihre Backgroundtänzer sorgen in märchenhaft-durchgeknallten Outfits mit diesem und weiteren Partyclassics für Krawall.
Bei dem Happening treffen sich Gleichgesinnte und man lernt den einen oder anderen besonderen Menschen kennen. Vielleicht Kontakte für das restliche Leben? Wir werden sehen. So oder so ist bereits jetzt für 2020 die zweite Auflage für die UNESCON angekündigt und man munkelt über größere, bekanntere, spektakulärere Künstler. Wir wünschen den Veranstaltern von Herzen, dass das Konzept Früchte trägt, lange bleibt, verneigen uns vor dem Mut und freuen uns, die wahrscheinlich kleinste, ganz sicher aber erste und gleichzeitig persönlichste UNESCON miterlebt haben zu dürfen.
Und so sah das aus:
https://www.youtube.com/watch?v=n63hREytwVs
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Fotos von Christopher.
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