Den Soundtrack für einen exakt hundert Jahre alten Stummfilm-Klassiker nach dem eigenen Geschmack zu kreieren klingt nicht nur nach einer tollen Idee: Toundra setzen diese Idee in der Praxis gekonnt und kreativ um. 1920 erschien „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene, der heute als Klassiker des expressionistischen Films gilt und wegweisend für dieses und viele andere Genres war. Damals wurde er noch gänzlich ohne Ton veröffentlicht, im Laufe der Jahre entstanden jedoch einige Begleitmusik-Versionen. Jüngst hat die instrumentelle Rock-Gruppe Toundra aus Madrid einen eigenen Entwurf für eine Vertonung des Films vorgelegt. Ihr nach dem Film benanntes Album besteht aus sieben Stücken, die allesamt eine zusammenhängende Geschichte erzählen und dabei wunderbar ohne Worte auskommen.
Das Cabinet der kuriosen Klangwelten
Eröffnet wird „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von einer Titelsequenz auf welche Vertonungen für alle sechs Akte des Films folgen. Bis auf den 1:40 Minuten langen Opener knacken die Songs allesamt die zehn-Minuten-Marke. Der fünfte Akt erreicht sogar eine Länge von einer knappen viertel Stunde. Musikalisch bietet das Album minimalistischen Post-Rock der gänzlich auf Gesang verzichtet. Stellenweise erreicht die Musik befremdliche Sonic-Youth-Momente. An anderen Abschnitten sind wiederum ausdrucksstarke gitarrenlastige Passagen zu hören, die an Russian Circles erinnern. Mitreißend führt das Album den Hörer über eine Stunde hinweg gleichzeitig durch Dr. Caligaris Cabinet und kuriose Klangwelten.
Seine Klimax erreicht das Album im vorletzten fünften Akt. Bedachte Gitarren bauen über 14 Minuten einen Spannungsbogen auf, der zum Schluss durch sorgfältige Schlagzeug-Hiebe zerbrochen wird, um anschließend in den sechsten Akt zu führen. Beschlossen wird das Album mit einer verträumten Symbiose aus seichten Gitarren und gefühlvollem Schlagzeugspiel. „Das Cabinet des Dr. Caligari“ strotzt vor Leidenschaft. Allein die sich hin und wieder breit machende Eintönigkeit fällt negativ ins Gewicht. Aber das auch nur, wenn man die Musik vom Bewegbild getrennt konsumiert.
Weniger ist mehr und keine Worte sagen schon genug
Im Gegensatz zu seinen früheren Veröffentlichungen schraubt das spanische Quartett seinen Sound auf seiner aktuellen Platte auf ein Minimum herunter. Die dabei entstehenden Klänge erinnern immer wieder an Post-Rock-Pioniere wie God Is An Astronaut oder This Will Destroy You. Stellenweise schimmern seichte Brisen Stoner- oder Art-Rock durch. Jedoch hat „Das Cabinet des Dr. Caligari“ eine ganz besondere eigene Note. Vor allem beweisen Toundra mit diesem Album, dass es keine Worte braucht, um lebendige Geschichten mitreißend zu erzählen.
Das Album ist hier erhältlich.*
Und so hört sich das an:
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Toundra Live 2020:
- 15.03. – Siegen, Vortex
- 16.03. – Hamburg, Knust
- 17.03. – Jena, Kassablanca
- 18.03. – München, Backstage
- 20.03. – Darmstadt, 806qm
- 22.03. Stuttgart, Club Zentral
Die Rechte am Albumcover liegen bei Inside Out/Sony.
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