Du bist gerade 21 und veröffentlichst dein erstes internationales Alben. Das wird mit rund 25 Millionen verkauften Einheiten zu einem der elf erfolgreichsten Longplayern aller Zeiten. Und zwar weltweit. Du gewinnst nicht mal ein Jahr später als bis dato jüngste Frau den Grammy für das Album des Jahres, das beste Rockalbum, den besten Rocksong und die beste Rock-Gesangsleistung einer Frau. Einige Zeit später wird zu diesem Album und deinen restlichen besten Titeln ein Broadway-Musical geschrieben. Trifft das auf dich zu, bist du wohl ein absolutes Ausnahmetalent. Diese erschlagenden Fakten sind Teile der Biografie Alanis Morissettes. Der Auslöser dafür ist ihr Kultwerk Jagged Little Pill.
Mit Jagged Little Pill erschien im Juni 1995 eine Platte, die eine ganze Generation bewegte. Die 80s-Kids, die die CD nicht im Schrank stehen haben, lassen sich wohl an wenigen Händen abzählen. Aber auch darüber hinaus hat die mittlerweile 46-jährige Kanadierin bleibenden Eindruck hinterlassen und sich eine bereits fast drei Jahrzehnte anhaltende, treue Fangemeinde erarbeitet. Zwar reichte es bei dem Nachfolger „Supposed Former Infatuation Junkie“ nur noch für ein Viertel der Verkäufe, was aber auch stattlichen sechs Millionen entspricht. Seit der Jahrtausendwende kamen vier weitere Alben hinzu, die alle ausnahmslos die Top 10 in allen wichtigen Charts weltweit entern konnten und großflächig auch vergoldet wurden. Nebenbei trat Alanis in ein paar ausgewählten Fernsehserien und Kinofilmen auf.
25 Jahre nach der unvorhersehbaren Durchschlagskraft von Jagged Little Pill gibt es zum silbernen Geburtstag eine Neuveröffentlichung des 90s-Classics. Tatsächlich nicht mal die erste Wiederveröffentlichung, so gab es bereits zum 10-jährigen eine neuaufgenommene Akustikausgabe sämtlicher Titel und zum 20-jährigen Liveaufnahmen aus dem Erscheinungsjahr. Da aber auch im Jahre 2020 diverse Tickets für Jubiläumstourneen zum Album wie warme Semmeln weggehen, ist es wohl nicht überflüssig, ein weiteres Mal den Longplayer auf den Markt zu bringen, der in allen wichtigen Empfehlungslisten auftaucht (u.a. die 500 besten Alben laut dem Rolling Stone-Magazin, den 1001 vor dem Tod zu hörenden Alben aus 50 Jahren Musikgeschichte). Dabei setzt das Reissue nicht auf Remixe oder verschollen geglaubtes B-Material, sondern auf das, was man will: Jagged Little Pill anno 2020, und zwar live aus London.
Die 29 Tracks umfassende Deluxe Edition setzt sich einerseits aus dem Originalalbum zusammen, das 12 unterschiedliche Songs bietet, zusätzlich aus einer alternativen Version von „You Oughta Know“ und dem Hiddentrack „Your House“. Daraufhin folgen 16 Liveaufnahmen, die kurz vor dem Corona-Lockdown Anfang März in London vor rund 2000 Zuschauern entstanden sind und damit sogar dem letzten Konzert entspringen, das Alanis nach aktuellem Stand spielte. Dabei handelt es sich fast um den kompletten Gig – lediglich die beiden neuen Songs „Reasons I Drink“ und „Smiling“ standen des Weiteren auf der Setlist, sind aber bei der Jagged Little Pill – 25th Anniversary Edition gestrichen worden, werden sie aber dafür stattdessen in wenigen Wochen ab Ende Juli auf dem Longplayer „Such Pretty Forks In The Road“ zu hören sein.
Gönnt man sich mal wieder einen Durchlauf des 1995er-Albums, löst das doch so einiges im Zuhörer aus. Einerseits das nostalgische Feeling, wie elendig lange doch das Alles schon wieder her ist – andererseits aber die Bestätigung, warum dieses Album zu einem zeitlosen Klassiker wurde. Zwar mag der Sound nicht mehr ganz uptodate klingen, allerdings ist die Qualität auf Songwritingebene so sensationell gut, dass es mit Sicherheit auch noch in den nächsten 25 Jahren kaum an Begeisterung einbüßen wird. Musik und Text wurden fast im Alleingang von der gerade 21-jährigen Sängerin geschrieben. Einzige, äußerst wichtige Ausnahme: Glen Ballard, der als Produzent fungierte und bereits auf Meilensteinen von Michael Jackson mehrfach unter Beweis stellte, was er draufhat. In dieser Zusammenarbeit haben die beiden also den Platz 11 der bestverkauften Alben aller Zeiten entwickelt, das sich durch seinen leichten Grunge-Singer/Songwriter-Alternative-Rock-Pop-Mix auszeichnet und unzählige Nachahmer und Verehrer – u.a. Avril Lavigne – fand, beeinflusste und inspirierte.
Die Highlights herauszufischen, würde den restlichen Songs nicht gerecht werden. Macht man es trotzdem, sticht natürlich der Überhit „Ironic“ hervor, der auf keiner guten Retroparty fehlen darf und wirklich von jedem mitgesungen werden kann. Noch besser sind jedoch das aggressive „You Oughta Know“, in dem dem Ex mal richtig die Meinung gegeigt wird, das verzweifelt-geschriene „Forgiven“, das durch Mark und Bein geht, der Coolness-Streetstyle in „Hand In My Pocket“, die tiefberührende Gratwanderung zwischen Motivation, Rührung und Enttäuschung eines „You Learn“ und nicht zuletzt die lyrische Meisterleistung in „Head Over Feet“. Und und und. Genug Zeilen für die Lieblingszitate-Liste, genug Songs für die All-Time-Favorites-Playlist.
Doch keine noch so erfolgreiche Jubiläumstour lohnt sich, wenn die Künstlerin verlernt hat, diese ehrenvoll zu präsentieren. Dass dem nicht so ist, beweisen die guten 75 Minuten Liveprogramm im Bonusteil. Alanis singt auch trotz ihres etwas fortgeschrittenen Alters und ihrer nun etwas dunkleren Stimmfarbe tonal fast durchweg perfekt und trifft emotional immer den richtigen Ton. Zwar wurden den mitreißenden Arrangements durch die akustischen Instrumente einiges an Dynamik entzogen, was aber wenig ausmacht. Stattdessen erinnert es eher an einen gut gereiften Wein, der nun in einer erwachseneren, stilvollen Umgebung geöffnet wird. Das Publikum singt lautstark mit, Alanis witzelt liebevoll an den geeigneten Stellen und alles fühlt sich einfach unglaublich vertraut und richtig an. Sie lässt kein einziges Lied der Platte weg und ergänzt zusätzlich mit den ebenfalls sehr erfolgreichen und sehr guten Lieblingen „Hands Clean“, „Uninvited“ und „Thank U“. Wiederholte Gänsehaut.
Ja, Jagged Little Pill hat gefühlt jeder in physischer Form irgendwo herumfliegen. Ja, es ist bereits das vierte Jubiläum und man mag ein wenig von Ausschlachtung sprechen. Am Ende sollte aber die Musik bewertet werden – und die ist weiterhin makellos. Ein Album zu kreieren, das selbst zweieinhalb Jahrzehnte qualitativ nicht nachgelassen hat und nicht zu einer Sekunde peinlich daherkommt, gibt es wirklich nur äußerst vereinzelt. Eine Künstlerin, die auch 25 Jahre später noch so transportiert, als ob sie die Songs aus gerade erst vorgefallenen Situationen geschrieben hätte, gibt es noch seltener. Kann man nicht oft genug loben.
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