Jennifer Weist – Nackt – Mein Leben zwischen den Zeilen

Jennifer Weist hält mit ziemlicher Sicherheit den Rekord für die meisten Schlagzeilen aus der deutschen Indie-Bubble. Oft ging es bei BILD und co um die Freizügigkeit, die Weist als Sängerin von Jennifer Rostock an den Tag legte, immer wieder auch um politische Songs wie “Liebe BILD” oder das Musikvideo zu “Hengstin”. Weist polarisiert, selbst bei ihren eigenen Fans. Und ist gleichzeitig eine kompromisslose Stimme für Empowerment & gegen Diskriminierung. In ihrem ersten Buch “Nackt – Mein Leben zwischen den Zeilen” geht genau das weiter. Nur mit anderem Fokus als erwartet.

Mehr als Jennifer Rostock

Wer Jennifer Weist kennt, der kennt sie vor allem als Sängerin von Jennifer Rostock – einer der unkonventionellsten Indie-Bands auf deutschen Bühnen. Und das in Sound und Attitüde. Aber auch als Moderatorin, Künstlerin und Solo-Musikerin unter dem Namen Yaenniver machte Weist mittlerweile auf sich aufmerksam. Für Fans ist das jetzt ein wenig die Krux, denn “Nackt” setzt den Fokus nicht auf das Bandleben. Wer sich hier also Hunderte Seiten voll mit Behind-the-Scenes-Infos um die Band, ihre Aufnahmen oder die Musikindustrie wünscht – Pech gehabt.

Stattdessen wird das Kapitel Jennifer Rostock recht fix abgefrühstückt und bleibt in einigen Phasen überraschend oberflächlich und emotionslos. Das ist natürlich auch ein Statement: Weist als Einzelperson soll hier der Mittelpunkt sein. Und zwar in einer schonungslosen Direktheit, die eigentlich kaum noch überraschen dürfte – es dann aber doch irgendwie tut.

Aufbau und Politisierung

Inhaltlich hangelt sich „Nackt“ an den Songtiteln ihres gleichnamigen Debütalbums entlang. Das verleiht dem Buch eine lose, musikalisch-emotionale Struktur, die weniger chronologisch als thematisch funktioniert. Gerade die Erinnerungen sind dabei oft roh und unverblümt – es ist sprachlich sicher kein literarisches Meisterwerk, aber genau das macht das Buch auch so echt. “Nackt” eben.

Ein roter Faden: Der kompromisslose Einsatz für Gerechtigkeit. Jennifer Rostock waren schon eine politische Band, bevor das cool war. Die negativen Folgen solcher Auftritte – insbesondere, aber nicht nur in Schleswig-Holstein – bekam Weist als einziges weibliches Mitglied der Band am meisten ab. Von akuten Drohungen vor Konzerten bis zur Gefährdungslage um Weists Wohnung ist der Backlash aus der rechten Szene extrem. Umso mehr verdient Weist für jeden Song, jede Zeile, jeden Post, der sich gegen diskriminierende Strukturen stark macht, Respekt. Auch weil sie ihre eigenen Privilegien als weiße able-bodied Cis-Frau bewusst macht und den Fokus immer wieder auf multidimensionale Marginalisierungen setzt. Politisch ist das hier sehr stark. Insbesondere in 2025.

Triggerwarnungen & Haltungsfragen

Die ersten Seiten des Buchs listen vorbildlich alle Triggerwarnungen auf, die für die jeweiligen Kapitel gelten. Daher hier auch eine Inhaltswarnung: Diese Rezension wird nun auf die Themen sexualisierte Gewalt und Drogenkonsum eingehen. Wenn euch die Themen triggern oder belasten, lest besser nicht weiter.

Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, lässt sich ein Zitat aus einem der letzten Kapitel gut als Abbild der Geschehnisse nutzen. Hier stellt Weist fest, dass sich sexualisierte Gewalt durch nahezu alle Abschnitte ihres Lebens zögen. Und in der Tat gibt es von der Jugend über den Start in die Musikbranche bis ins Leben in Berlin immer wieder Situationen, in der sich Weist mit sexualisierter Gewalt konfrontiert sah. Dass sie darüber spricht, ist wichtig – um Betroffenen Mut zu machen, sich zu öffnen, und um Aufmerksamkeit für ein gesamtgesellschaftliches Problem zu schaffen. Und es ist auch wichtig diese Situationen aus dem Sprachrohr einer sehr selbstbewusst auftretenden Person zu hören.

Weist wird damit ihrem eigenen Anspruch gerecht, ein Vorbild zu sein. Gleichzeitig beleuchtet sie aber auch ihre Rolle als Täterin – vor allem in den frühen Jahren von Jennifer Rostock. Positiv ist: Sie stellt sich ihrer Vergangenheit und entschuldigt sich. Dennoch gibt es Stimmen, die anmerken, dass diese Entschuldigung zu knapp ausfällt und Weist dem Thema nicht genug Raum gibt. Eine berechtigte Kritik, die hier nicht unter den Tisch fallen sollte.

Ähnliche Kritik kommt auch in Bezug auf die Besprechung von Drogenkonsum, der zwar differenziert eingeleitet wird, dennoch in einigen Passagen etwas beschönigend wirkt. Und damit wären wir wieder beim Thema ‘Vorbild’ – Weist kennt ihre Bühne und weiß, dass sie mit diesem Buch sicher auch Personen erreichen wird, die nicht so diszipliniert mit Drogen umgehen würden. Man muss sich diesen Schuh nicht anziehen – am Ende bleibt die Frage, ob das Buch ohne das Kapitel zu diesem Thema nicht genau so funktioniert hätte.

Ein streitbares Buch mit wertvollen Eindrücken

All das sind Kritikpunkte und Themen, die am Ende natürlich Weists eigene Entscheidung sind. Und das macht “Nackt” am Ende gerade so lesenswert. Weist tritt über das gesamte Buch als sehr selbstbewusste Person auf – aber gesteht sich dabei auch immer wieder eigene Makel, Zweifel und Ängste ein. Vom Erzählen des wirtschaftlichen Scheiterns eines Projekts über die Zugeständnisse der eigenen Täterrolle bis zum Eingeständnis, früher auch diskriminierende Sprache verwendet zu haben, ist das Buch mutiger als die meisten autobiographischen Werke, die sich selbst in Lobhudelei sudeln.

Besonders stark sind jene Passagen, in denen Weist politisch wird: Sie zitiert klug, führt inspirierende Persönlichkeiten an, verwendet inklusive Sprache – und schafft so einen Rahmen, der inhaltlich wie auch gesellschaftlich Mehrwert bietet.

Auffällig sind auch die vielen explizit sexuellen Passagen – ein Stilmittel, mit dem Weist bewusst Grenzen auslotet und dass auch die wenigsten komplett überraschen sollte. Der Song „Nur halb so ich“ bringt es vielleicht am besten auf den Punkt: Dieses Buch porträtiert keinen glattgeschliffenen Star, sondern einen Menschen mit Brüchen, Widersprüchen und Haltung. Die Frage nach der Vorbildfunktion bleibt dabei als roter Faden präsent – aber sie wird nicht abschließend beantwortet. Vielleicht, weil sie das bis heute auch gar nicht in allen Definitionen sein kann.

Und so hört sich das an:

Hier gibt’s mehr von Jennifer Weist: Website / Instagram

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