Ein 25-jähriges Jubiläum eines Albums ist heute Anlass zum Plattenkrach. Christopher sieht die Kelly Family als einen äußerst wichtigen Bestandteil seiner Kindheit, Julia war zum Release nicht einmal geboren. Herauskommen zwei sehr unterschiedliche Meinungen über den gleichen Longplayer.
Christopher schaut wehmütig zurück:
1995 wurde ich eingeschult. Ein wichtiges Jahr für den heute anstehenden Plattenkrach. Als ich in der ersten Klasse war, waren Freundschaftsbücher ein absolutes Muss. Jeder besaß eins dieser Objekte, das er jeden Tag jemand anderem gab, um an Adresse, Geburtstag und Hobbys der Mitschüler heranzukommen. Gleichzeitig nahm man fünf mit nach Hause, um in das von anderen Klassenkameraden hineinzuschreiben. Ich habe dieses Buch von damals noch. Zwei der Steckbriefdetails lauteten „Mein Lieblingssong“ und „Meine Lieblingsgruppe“. Bei mindestens 90% meiner damaligen Schulfreunde stand „An Angel“ und „Kelly Family“. Hatten alle von dem ersten Eintrag einfach abgeschrieben? Wohl kaum.
Kennengelernt hatte ich die irische Großfamilie kurz vor meiner Einschulung. Die Tochter von der damaligen besten Freundin meiner Mutter war ein paar Jahre älter als ich und Hardcore-Kelly Family-Fan. Ich habe zwar bereits mit drei Jahren dank meiner wunderbaren Eltern Michael Jackson gesuchtet, konnte aber mit dem Wort „Fan“ noch nicht viel anfangen. Ines (Gruß an dich!) sorgte dafür, dass ich also mit sechs Jahren verstand, was „Fan sein“ bedeutet. Meine Eltern kauften mir das bereits 1994 erschienene Over the Hump-Album und von dort an lief bestimmt drei Jahre kaum was anderes in meinem Kinderzimmer mit der Dinosauriertapete, die ich bald mit Kelly Family-Postern aus der Bravo überklebte.
Die Kelly Family ist definitiv ein Generationending. Eigentlich bin ich dafür zu jung. Die Zielgruppe war damals eher zehn Jahre älter, somit Teenager, und verstärkt weiblich. Aber laut meinem Freundschaftsbuch gab es auch genügend Jungs, die in der Grundschule die Kellys abgefeiert haben. Allerdings hielt der Trend für die meisten nicht lange an. Aufgrund schlechter Publicity und einer überdimensional großen Medienpräsenz waren viele von der Band schnell genervt. Dass das hippieartige Leben, welches sich durch untypische Wohnsituationen, spezielle Klamotten, langen Haaren und einer eigenwilligen Erziehungsmethode zusammensetzte, nicht jedermanns Sache war, lag auf der Hand – letztendlich war man als Kelly-Fan demnach schnell selbst das Opfer und kein Trendsetter mehr.
Zwar schob ich meine Kelly-Alben – meine Eltern kauften mir brav bis 1998 jede Platte – irgendwann in die hinterste Ecke meines CD-Regals, aber tief im Inneren blieb doch die Liebe zu der Musik der neunköpfigen Gruppe. Ab und zu holte ich also heimlich die Songs hervor und merkte, dass sie mir weiterhin gefielen. Ende der 2000er fingen die ersten 90s-Partys an und peu à peu wurde das Guilty Pleasure zum Kultfaktor, der bis heute anhält.
Wer damals nicht dabei war, wird wohl auch heute nicht den Zugang finden, den ich verspüre. Trotzdem blieben ein paar Details bei dem schrecklichen Mobbing gegenüber der Band gerne auf der Strecke: letztendlich handelt es sich um selbstgemachte Musik. Alle Mitglieder spielen mehrere Instrumente, sprechen mehrere Sprachen und haben ein Händchen für Mehrstimmigkeit und Melodien. Natürlich muss man Chormusik ein wenig mögen, letztendlich ergeben fünf männliche und vier weibliche Stimmen einen chorartigen Klang – aber musikalisch sollte für fast jeden in dem großen Repertoire das eine oder andere Lied dabei sein.
Das hier zu besprechende Over the Hump habe ich nicht ausgewählt, weil ich es am besten finde, sondern weil es einerseits dieses Jahr 25-jähriges Jubiläum feiert und am 25.10. eine Jubiläumsausgabe erscheint, die durch eine große Wintertour begleitet wird – anderseits aber auch, weil es sich um den Meilenstein der Band handelt. Eigentlich sogar um einen Meilenstein der deutschen Popgeschichte. Mit 2,5 Millionen verkauften Einheiten gehört das Werk zu den zehn meistverkauften Alben aller Zeiten in Deutschland. Eine Top 10, in der keine Madonna, kein Michael Jackson auftauchen. Na gut, dafür aber eine Helene Fischer und eine Andrea Berg. Und zum Glück auch ABBA, Queen, Phil Collins und Herbert Grönemeyer.
Over the Hump zeigt anhand 14 heterogener Songs, dass die Kelly Family zwar einen hohen Wiedererkennungswert haben, dieser sich aber fast ausschließlich durch den Gesang wiederspiegelt und nicht durch den Sound. Gesanglich kann ich Freunden auch einen unbekannten Song der Band vorspielen und trotzdem erkennt jeder sofort, dass es sich um die Kellys handelt. Genretechnisch wandert das Album hingegen zwischen Singer/Songwriter, Folklore mit spanischer Gitarre, leicht rockigen Gewändern mit E-Gitarren-Solo und Balladen, die einen Hang zum Pathos und Kitsch nicht abstreiten können. Abgerundet wird der 49 Minuten lange Longplayer durch teils politische Texte, die für mehr Miteinander und Rücksicht auf Natur und Umwelt aufrufen, aber auch Sichtweisen zur Liebe und Freundschaft der einzelnen Mitglieder präsentieren. Diese sind besonders spannend, da der Jüngste, Angelo, zur Aufnahme des Albums 13 Jahre alt ist und Kathy als Älteste bereits 31. Alle neun Mitglieder haben einen Song oder zumindest große Teile für sich allein. Was einem besser und weniger gefällt, ist Geschmackssache.
Mit „An Angel“ gibt es den wohl bekanntesten, wenn auch nicht erfolgreichsten Song der Band. Dieser kommt allerdings erst als zwölfter Titel zum Vorschein. Paddy schreibt dieses Lied mit 16 Jahren. Er ist generell für mehrere Erfolgssongs im Laufe der Karriere zuständig, gegenwärtig allerdings nur noch solo unterwegs. Er und Angelo stellen zwei auffällige Erkennungsmerkmale der Band dar, die natürlich besonders das weibliche Publikum ansprechen. Zwar sorgen sie maßgeblich für den Erfolg, erleben aber gleichzeitig, dass Ruhm Angst macht und man bald nicht mehr allein vor die Tür gehen kann. „An Angel“ ist ein starker 90s-Popsong mit einprägsamem Refrain, der nach nur einem Wort, nämlich „Sometimes“, auf den richtigen Tönen gesungen, von nahezu jedem fortgeführt werden kann. Solche Hits muss man erstmal zustande kriegen. Kult, ein anderes Wort gibt es dafür nicht.
Dass Angelo kurz vorm Stimmbruch stand, kann man hören. Grade seine Stimme geht bei einigen Songs („Santa Maria“) in Höhen, die wohl für eher üble als angenehme Schauer sorgen. Da sind spätere Versionen von anderen Bandmitgliedern doch wohliger. Dafür ist sein Solo „Once In A While“ grandioser Folk-Pop, der zum Mitschwingen einlädt und auch hier einen extrem starken Refrain innehält. Ganz nebenbei der erste Titel für seine spätere Freundin Kira, die heute Frau und Mutter seiner fünf Kinder ist. Weitere Highlights des Albums sind das überragende „First Time“ von Patricia, die auch heute noch den Song genauso gut singt und emotional einfach voll auffährt. „Cover the Road“ von Jimmy ist das erwachsenste Stück und hält besonders inhaltlich eine ergreifende Geschichte parat. Lagerfeuermusik zum Nachdenken. Mit „Why Why Why“ von Joey und Paddy gelingt ein ungewöhnlich aggressiver Einstieg mit Message. „Father’s Nose“ und „Ares Qui“ zeigen die spanischen Wurzeln der Familie und zaubern Urlaubsfeeling; ganz besonders der Zweite hat im Songwriting und in der Instrumentierung Qualität. Mit drei Soli ist die immer aus der Reihe tanzende Barby auf dem Album aber definitiv zu präsent. Lediglich „Break Free“ von ihr hat dank Improteilen und des starken Chors im Chorus richtig Power.
Um wirklich alle wichtigen Songs der Kelly Family zusammen zu haben, genügt es keinesfalls nur in Over the Hump zu hören. Sowohl auf dem Vorgänger „Wow“ als auch auf allen Nachfolgewerken befinden sich immer einige sehr gelungene Kompositionen, die ständig neue Facetten offenlegen. Wer sich besonders viel Mühe gibt, wird sogar einige Titel finden, die in Richtung Blues oder Akustiksessions blinzeln.
Natürlich liebe ich diese Band aus nostalgischen Gründen. Aber nicht nur. Wenn der musikalische Anspruch nicht stimmen würde, hätte ich mich mit Sicherheit irgendwann davon verabschiedet. Viele andere Songs aus meiner Grundschulzeit treffen nämlich heutzutage nicht mehr meinen Geschmack, höchstens meine Vorliebe für Trash. Trotzdem kenne ich nahezu keine Band, die emotional bei mir das auslöst, was einige Kelly Family-Songs schaffen. Das schafft nicht jeder Track, dafür einige umso mehr. Und somit freue ich mich auf die anstehenden Konzerte, auf denen ich wieder mein Fanshirt anhaben werde und es genieße, dass sie seit 2017 wieder da sind.
Julia gehört nicht zur Generation und hält sich dementsprechend mit Euphorie zurück:
Zur Zeit des Release-Termins von Over The Hump war ich noch nicht einmal geboren – doch nur wenige Jahre später war die Kelly Family tatsächlich die erste Band, die ich jemals live gesehen habe. Daran habe ich zwar keine Erinnerungen mehr, aber es zählt trotzdem. Ganz so negativ wie anderen, nun ja „Trash“-Bands gegenüber bin ich der musikalischen Großfamilie also aus rein nostalgischen Gründen schon mal nicht eingestellt. Ihren musikalischen und gesanglichen Qualitäten möchte ich hier ohnehin nichts absprechen, denn davon hatten mich auch in der jüngsten Vergangenheit noch Aufnahmen der großen Comeback-Shows überzeugt. Ob der Heile-Welt-Reigen aber auch auf ganzer Albumlänge funktionieren wird, muss ich erstmal abwarten.
Bis auf „An Angel“ sagen mir die Songs der Setlist des Erfolgsalbums (alleine in Deutschland 2,5 Millionen verkaufte Exemplare!) erstmal gar nichts, so dass ich recht unvoreingenommen in die Platte starte. Und siehe da: „Why Why Why“ fällt mit überraschend düsteren Country-Folk-Klängen in die Tür, die verschiedenen Stimmfarben mischen sich vor den rockigen Arrangements zu einem schönen Gesamtbild. Während ich hier noch bei der Mehrstimmigkeit mitwippe, wird genau diese bald zu einem der vielen Erzfeinde, die ich in diesem Album ausmache. Denn schon der zweite Song „Father’s Nose“ kann mit seiner sehnsüchtigen, kitschigen Instrumentierung und den spanischen Lyrics so gar nicht bei mir zünden, noch schlimmer wird es dann sogar bei „First Time“, der neben den romantisch-bombastischen Klängen im Hintergrund der Sängerin (scheinbar wechseln sich die Mitglieder regelmäßig am Mikro ab, muss ja auch fair bleiben) gar einige Schreie entlockt. UND DIESE CHÖRE! Klar, besonderen Spaß macht es beim nomadischen Lebensstil vermutlich gemeinsam zu singen. Aber dass diese auch auf dem Album in wirklich jeden Song eingebaut werden mussten, überspannt den Bogen maßlos.
Denn als wären die ewigen Balladen (abgesehen vom Opener gibt es noch zwei Songs, die ich nicht als solche bezeichnen würde) nicht schon so anstrengend genug, müssen sie auch noch mit Akkordeon und Mundharmonika zum Rentner-Schunkeln einladen („Baby Smile“, „She’s Crazy“) oder plötzlich auf plumpe Pop-Beats setzen („Roses Of Red“, „Once in a While“). Dabei geht es doch so viel spannender: „Ares Qui“ verknüpft spanische Folklore mit Call-And-Response-Spielereien und einer schnelleren Rhythmusführung, „Key To My Heart“ bringt mit kleinen Bläserfiguren Schmackes in den Sound und „Break Free“ verbreitet mit flotten Klavierakkorden, einer aufgekratzten Stimmführung und entgegengesetzten Chören eine Musical würdige Stimmung. Mit der merkwürdigen Märchenstunde von „The Wolf“ und dem absoluten Kitsch-Abschluss „Santa Maria“ macht sich das Album dann aber doch wieder alles zunichte.
Die Kelly Family hat unzählige Menschen erreicht, Rekorde gebrochen und mag menschlich und musikalisch auch ganz in Ordnung sein. Der fahrenden Reisegruppe und ihrer Musik werde ich wohl aber nach diesem Experiment noch mehr aus dem Weg gehen als zuvor. Auf Albumlänge sind mir der Kitsch- und Schunkelfaktor dann doch gehörig zu groß, um mich in irgendeiner Art angesprochen zu fühlen. Den Hardcore-Fans wie Christopher überlasse ich meinen hypothetischen Anspruch auf Konzertplätze sehr gerne.
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Mehr Plattenkrach: Hate it or love it – was für den einen ein lebensveränderndes Monumentalwerk ist, ist für die andere nur einen Stirnrunzler wert! Ein Album, zwei Autor*innen, ein Artikel, zwei Meinungen! Mehr Auseinandersetzungen findest du hier.
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