Die 90er Live, Veltins-Arena Gelsenkirchen, 30.03.2019

Die 90er Live Gelsenkirchen

Wie oft kann man Teil eines Weltrekords sein? Eine wirklich seltene Gelegenheit. Wer darauf schon immer mal Lust hatte und dazu 90er-Musik nicht ganz schlecht findet, war am 30.3. in Gelsenkirchen in der Veltins-Arena genau richtig: Seit einigen Jahren steht das kultige, vorletzte Jahrzehnt nicht nur bei Mottopartys in Clubs im Fokus, sondern auch in großen Hallen live mit den Stars von damals. Die Veranstaltungsreihe Die 90er Live hat nun die Idee auf die Spitze getrieben und sich vorgenommen, die größte 90s-Party der Welt zu veranstalten. Das hat dank eines grandiosem Line-Ups auch geklappt – außer den gut ausgewählten Acts stimmte aber äußerst wenig.

Corona, Caught in the Act, Snap!, Fun Factory, Oli.P, LayZee fka Mr. President, Jenny Berggren from Ace of Base, Dr. Alban + Haddaway, Culture Beat, Kate Ryan, East 17, Vengaboys, La Bouche, Captain Hollywood Project, Blümchen, Masterboy & Beatrix Delgado, Rednex, David Hasselhoff. 18 Gigs, die jeweils 20 bis 30 Minuten dauern, Startschuss: 14 Uhr, Ende: 23 Uhr. Dazwischen Pausenbespaßung und Moderation durch Mola Adebisi und Konsorten. Das klingt zunächst erstmal nach einem wahrgewordenen Traum eines jeden 90s-Nerds. Unglücklicherweise scheint sich jedoch neben der Actauswahl die Organisation nur um vereinzelte Sachen wirklich einen Kopf gemacht zu haben.

Wirklich positiv: Mit Tickets von ca. 30€ gibt es ordentlich was zu sehen. Nicht oft gibt es große Musikevents, die fast 10 Stunden Unterhaltung bieten, für so kleines Geld. Schöner wäre es aber, wenn die Eintrittskarten mehr kosten würden und dafür der Komfort etwas gewährleistet wird. Parkplätze werden für sage und schreibe 15€ angeboten, was wahrscheinlich einem weiteren Rekordversuch gleicht, der aber weniger ansprechend ist. Stattdessen führt der gerade einmal einstündige Einlass vor dem Programm bei 60.000 Fans schon zu einem absoluten Chaos. Ein Einlass, der nicht gut ausgeschildert ist, sodass sich mehrmals Leute mit Tickets an falschen Eingängen einreihen und erst durch den Kontrolleur erfahren, dass sie nicht korrekt stehen. Für den riesigen, seit Monaten ausverkauften Innenraum wird genau ein Weg angeboten. Zwei Schleusen führen zu dem Tunnel, der einen in die Halle führt. Beide durch Gitter gebaute Schleusen haben mehrere meterlange Lücken, sodass sich nur ein geringer Teil ordnungsgemäß anstellt und sich der Großteil von der Seite reindrängt und viele verärgert. minutenmusik stellt sich um 13:40 (da läuft der Einlass bereits 40 Minuten) an der Innenraumschleuse an und schafft es um 14:45 im Innenraum zu landen – und verpasst direkt mal die ersten beiden Künstler.

Im Innenraum geht der Ärger direkt weiter: Toilettenschlangen, die den ganzen Tag nicht abreißen und für Frauen bei kurzen Wartezeiten mit Glück nur eine gute Dreiviertelstunde in Anspruch nehmen. Gleiches an den Imbissbuden, die sich mit im Innenraum befinden. Bei den Getränken geht es zwar etwas schneller, die hauen dafür mit ihren Preisen aus den Latschen: Bier und Softdrinks für 3,10€ bei 0,25l! Jeder kann sich ausrechnen, was er in 10 Stunden da so bezahlen darf, wenn nichts mit reingenommen werden kann. Alternativ gibt es auch 1,5l (!) Sangria in der Flasche für 16,90€. Bezahlt wird nicht bar, sondern per Knappenkarte wie bei Fußballspielen, die mit Sicherheit nicht von jedem am Ende abgegeben und gegen Restgeld eingetauscht wird.

Sangria ist auch das passende Stichwort für das Publikum. Die Tickets zum Schnäppchenpreis sorgen natürlich dafür, dass viele der Interessierten denken „Na, für den Preis kann man ja nix falsch machen, das nehme ich doch mal mit“. Dementsprechend führt zwar dieser Aspekt dazu, dass so eine hohe Summe an Tickets verkauft wird, leider aber auch gleichzeitig zu einer Niveausenkung. Ob Junggesellenabschied oder auch Ausflug mit den Fußballkollegen: alle sind sie dabei, denn hier fließt Alkohol in Strömen! Abfalltonnen sind so spärlich vorzufinden, dass es sich stattdessen leicht gemacht wird und der Müll einfach von Beginn an auf dem Boden landet. Spätestens am Abend ist gefühlt kein Zentimeter mehr ohne Plastik oder anderen Resten zu sehen. Zusätzlich wird jeder Tritt durch klebrige Substanzen an den Schuhen erschwert.

Kommen wir zum eigentlichen Augenmerk der Veranstaltung: Die Bühne! Wie bereits oben erwähnt, lässt das Line-Up ein 90er-Herz bis zum Hals schlagen. Da gibt es wirklich nichts zu nörgeln. Schön ist auch, dass der Timetable sehr genau eingehalten wird und kaum Verzögerungen stattfinden. Dafür wird sich nur bedingt Mühe für Sound- und Bühnentechnik gegeben. Das Bühnenbild ist ok und bleibt den gesamten Tag über gleich. Zwei Showtreppen, die auf eine Empore führen, auf der ein DJ-Pult steht. Dahinter und an den Seiten der Bühne einige Bildschirme, vorne ein Laufsteg. Zusätzlich einiges an Lichtern, zig Konfetti- und Luftschlangenschüsse und unzählige Feuer- und Rauchfontänen. Leider wird aber selbst bei den relativ überschaubaren Effekten gehäuft gepatzt, nicht on time eingesetzt und eher etwas willkürlich abgefeuert. Ist zu verkraften, nur eben nicht wirklich gelungen. Die Musik ist vor der Bühne äußerst laut und auch in Ordnung abgemischt. Hin und wieder werden Mikrofone zwar zu spät eingeschaltet, aber auch das hält sich zum Glück noch in Grenzen. Allerdings ist ab der Mitte des Innenraums die Akustik wesentlich schlechter und in den hinteren Bereichen nur noch breiig.

Und wie haben sich nun die Künstler geschlagen? Stark unterschiedlich. Auf der Negativseite: Culture Beat, die sich für Vollplayback entscheiden, die Originalbesetzung komplett ausgetauscht wurde und von allen Hits Remix-Versionen spielen, auch von „Mr. Vain“. Warum auch immer. Ebenso mies: Dr. Alban + Haddaway. Gesanglich an jeglichen Tonlagen vorbei und obendrein noch äußerst unsympathisch. Etwas besser machen das Snap!, die immerhin die erste Sängerin der Formation mitbringen, die sich dafür aber nur bedingt anstrengt, auch mitten im Song mehrmals trinkt und nur das Mindeste abliefert. Dafür wenigstens live gesungen. Bei Fun Factory ist besonders Toni Cottura in Erinnerung geblieben, der sich die Seele aus dem Leib schreit und mit seinen Jungs und der Sängerin in Football-Klamotten auftritt. East 17 wirken stark gealtert, stark auseinander gegangen und prollig, bringen aber mit ihren Classics wie „House of Love“ und „It’s Alright“ gut Stimmung in die Bude. Jenny von Ace of Base muss sämtliche Songs in tieferen Tonarten singen und macht auch das eher mittelmäßig. LayZee von Mr. President wackelt lieber mit seinem im Anzug betonten Po statt Klassiker zu bringen, so warten Fans vergeblich auf „I Give You My Heart“ oder „Up’n’Away“. Der Großteil will aber ja eh nur „Coco Jamboo“. Auch seine Sängerin singt komplett live.

Positivbeispiele: Oli.P! Der äußerst sympathische Berliner, der auch schon die 40 geknackt hat, springt spontan in den Graben, um mit Fans Fotos zu machen und einige abzuklatschen. Außerdem sorgen sein „Flugzeuge im Bauch“, „I Wish“ und „So bist Du“ für große Mitsingmomente. Es laufen dabei stets die Originalsongs und er singt drüber. So machen es auch noch viele andere seiner Kollegen an dem Tag. Naja, ok. Immerhin gibt’s Stimmung, Fannähe und ein Stück Emotion. Die größte Überraschung ist wohl Kate Ryan, die zwar erst 2002 ihren ersten Charthit in Deutschland hatte und somit das Konzept der Show nicht ganz trifft, aber dafür mit ihren Tänzern eine Choreo präsentiert, die in sich schlüssig ist, gut abgesprochen wirkt, ein paar tolle Hits liefert und auch gesanglich eine gute Figur macht. Gesanglich die anspruchsvollste Performance kommt hingegen von La Bouche. Echt erstaunlich, was die neue Sängerin so kann. Bei den Vengaboys übernimmt auch nur der männliche Part den Livegesang, die Frauen kommen vom Band, jedoch – drei der ursprünglichen vier Mitglieder sind noch am Start und eben seit 20 Jahren so eingespielt, dass jeder Song ein Treffer ist und die Stimmung kocht. Absolutes Highlight ist aber, wie bereits erwartet, das Bühnencomeback von Blümchen, auf das Fans nun 18 Jahre warten durften. Mit ihrem Opening „Ich bin wieder hier“ gibt es einige Gänsehautmomente, die wirklich mitreißen. Sämtliche Handys werden nach oben gerissen, es wird mitgefilmt und lauthals mitgesungen. Beste Stimmung, beste Bühnenshow und eine unglaublich gut gelaunte Jasmin Wagner, die anscheinend hierauf wirklich Lust hat und eine durchweg gelungene Setlist zeigt.

Und dann gibt es noch die immer wiederkehrenden „Wir machen mal irgendwas“-Momente bei diversen Acts: Völlig unverständlich performt Oli.P nach seinen drei Hits „Angels“ von Robbie Williams und „Narcotic“ von Liquido. Der Originalsong läuft und Oli.P singt mit. Warum!? Genauso machen es Captain Hollywood Project, die zwischendrin „Everybody“ von den Backstreet Boys raushauen und einen tänzerisch okayen, aber gesanglich katastrophal schlechten Michael Jackson-Imitator dabeihaben, der „Billie Jean“ und „Black or White“ zum Besten gibt. Was – soll – das? Hier wird deutlich, dass viele Acts regelmäßig am Ballermann auftreten. Ständig hört man ein „Zicke Zacke, Zicke Zacke – Heu Heu Heu“ und ähnliche Schlachtrufe. Wenn die eigenen Hits ausgehen, wird kurzerhand irgendwas anderes gespielt. Bei Fun Factory ist das „Stand By Me“, bei Mr. President „Party Rock Anthem“, das 2011 in den Charts war und somit das Thema völlig verfehlt. Kate Ryan covert zwar mit „Freed From Desire“ auch einen Track, den sie selbst bisher nicht veröffentlicht hat, probiert aber soundtechnisch zumindest in ihrem Gewand zu bleiben, was auch funktioniert. Culture Beat singen „Mr. Vain“ einfach zweimal, Oli.P spielt zweimal „Flugzeuge im Bauch“. Viel zu viele Auffälligkeiten wirken wenig professionell und unkoordiniert. Die Künstler machen solche Auftritte wahrscheinlich an die 100x im Jahr, was negativ gewichtet. Nur selten gibt es persönliche Momente. Ob man nun in Gelsenkirchen oder auf Mallorca steht, ist quasi egal.

Aber letztendlich harmoniert genau dieses mittelmäßige, etwas lieblose Performen der Künstler mit der Erwartungshaltung eines Großteils des Publikums. Die meisten hier stehen halt auf Musik der 90er. Wer die mal gesungen hat, ist irrelevant. Über den einen Hit reicht bei vielen das Interesse nicht hinaus, was besonders bei La Bouche auffällt, die gesanglich richtig abliefern, aber neben ihren zwei Hits „Sweet Dreams“ und „Be My Lover“ kaum Aufmerksamkeit oder Applaus bekommen. Der Applaus ist eh für ein 60.000 Zuschauer starkes Stadion nur in kleinen Momenten wie bei Blümchen wirklich lautstark. Was man nicht kennt, wird ignoriert. Sehr, sehr schade. Leider ist zusätzlich der Aggressionspegel unter einigen Zuschauern recht hoch, sodass sich wild durchs Gedränge gequetscht wird und definitiv nicht der Spruch „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ gilt, sondern eher, wer die meiste Kraft aufbringt. Geschätzte 5% der Zuschauer sind dann aber eben doch genau diese Hardcore-Fans, die jeden Song kennen, ganz vorne an der Bühne von Anfang bis Ende stehen bleiben, teilweise Original-Bandshirts aus der Zeit tragen, rücksichtsvoll miteinander umgehen und einfach eine gute Zeit haben. Davon bräuchte es so viel mehr.

Moderationstechnisch zeigt Mola abermals, dass er eigentlich nichts draufhat. Weder moderieren, noch singen, noch tanzen. Er verspricht sich ständig und macht stattdessen zig Handyfotos und -videos und tanzt irgendwie rum. Selbst er nimmt die Veranstaltung nicht ernst. Ein Beispiel dafür, dass er es wirklich nicht tut, ist, dass er als Special Guest Oliver Pocher eingeladen hat, der dann ein paar Minuten zu seinen Lieblingssongs „tanzen“ darf. Der DJ, der in den Pausen 90s-Tracks spielt, hat auch kein Problem damit, mehrere Titel mehrmals zu spielen. Keine Ahnung, wie oft „Everybody“ an dem Tag lief. Außerdem gibt es eine Kiss-Cam, die Leute aus dem Publikum zufällig auswählt, die sich küssen sollen. Am Anfang eine super Idee für Harmonie, spätestens beim 4. Durchgang aber nur noch nervig. Und dass häufiger große Bälle für schöne Kameraaufnahmen durchs Publikum geworfen werden, ist auch nicht so top. Hat man die nicht gut im Blickfeld, kann das durchaus schmerzhaft sein, wenn sie falsch landen.

Fazit: Die 90er Live hat wenig mit Musik, einem Konzert oder Festival zu tun. Stattdessen wirkt alles stark nach großer Kirmes. Man will ganz viel, strengt sich aber eher bedingt dafür an, dem Ganzen wirklich gerecht zu werden. Die meisten Künstler geben Minimum, die Moderatoren albern herum, die Crowd will einfach unterhalten werden. So landet die Veranstaltung dort, wo die kultige Musik lange verweilen musste: im Trash-Bereich! Deswegen hat minutenmusik sich auch nach Blümchen verabschiedet. Irgendwann ist dann auch gut.

Tickets für die Tour gibt es hier.*

Und so sieht das aus:

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Die 90er Live 2019:

01.06. – Vechta, Stoppelmarkt
15.06. – Wiesbaden, Brita Arena
22.06. – Forchheim, Jahngelände
22.06. – Mühldorf A. Inn, Rennbahn Mühldorf
06.07. – Regensburg, Schloss Pürkelgut
06.07. – Ravensburg, Freigelände an der Oberschwabenhalle
13.07. – Halle (Saale), Freilichtbühne Peißnitz
27.07. – Ludwigsburg, Residenzschloss Ludwigsburg
10.08. – Bonn, Rheinaue
24.08. – Berlin, Rennbahn Hoppegarten
31.08. – Koblenz, Deutsches Eck
07.09. – Gronau, Bürgerhalle Gronau
20.09. – Kaltenberg, Schloss Kaltenberg

Foto von Christopher.

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