Lina Brockhoff ist gerade 20 Jahre jung als sie im Frühjahr 2020 aus der Niedersächsischen Provinz in die Hansestadt Hamburg zieht. Es ist ihr erster Umzug in die Großstadt, ein bedeutsamer Schritt für sie. Elbluft schnuppern. Ein berüchtigtes Virus findet da noch primär in wenigen Zeitungsschlagzeilen statt, erscheint in sicherer Entfernung. Dass sich das in den folgenden Monaten ändert, wird Brockhoff nicht davon abhalten eine der spannendsten Musikkarrieren der letzten Jahre in Gang zu setzen. Im Sommer nimmt sie am Popkurs der Hochschule für Musik und Theater teil, lernt dort andere Musiker*innen kennen, schreibt mit denen erstmals gemeinsam an Songs und erbaut sich ein kleines, aber funktionales Netzwerk. Die Lockdowns wiederum nutzt sie, um in ihrem WG-Zimmer intensiv an Songmaterial zu feilen.
Ganz auf sich alleine gestellt ist sie dabei nicht. Schon früh steckt sie die Köpfe mit Fabian Huch zusammen, einem Freund von ihr. Der übernimmt ihr Management und ist mittlerweile auch Teil ihrer Live-Band. „Wir haben uns sehr viel Zeit gelassen, gemeinsam eine Vision zu schärfen. Schon früh haben wir uns Gedanken über Musikvideos, Sounddesign und all das gemacht.“, führt Brockhoff selbst aus. Doch damit ist es nicht getan: Ein Label muss her. Industriekontakte. Die zwei zeigen einigen Leuten woran sie werkeln, was ihre Vorstellung von dem ist, das später das Projekt Brockhoff wird. Über Umwege landen sie schlussendlich bei Humming Records, der Berliner Label-Heimat von Acts wie All The Luck In The World und Ätna.
Im Frühsommer 2022 dann, knapp zwei Jahre nach Lina Brockhoffs Sprung ins Großstadt-Ungewisse, erscheint mit „Sharks“ die Debüt-EP des Projektes. In fünf Songs positioniert diese die Musik der nun 22-Jährigen zwischen dem introvertiert-artsigen Sound von US-Songwriterinnen wie Phoebe Bridgers und Soccer Mommy – große Inspirationsquellen, wie sie in Interviews immer wieder herausstellt – und 90s-Giganten wie den Foo Fighters. Unglaublich catchy ist das alles, gleichzeitig aber niemals zu aufdringlich auf den großen Moment hingetrimmt. Die vielen Melodien vielmehr, die Brockhoffs klare Stimme und die Instrumente skizzieren, sind ebensolche, die nach dem dritten, vierten, fünften Durchgang erst so richtig hartnäckig bleiben.
In den Ausläufern des Juli sitzt die Wahl-Hamburgerin in ihrem WG-Zimmer, im Hintergrund lehnen Keyboard und Akustik-Gitarre locker an der Wand, sie selbst trägt einen tief-blauen „My Little Pony“-Hoodie. Gerade erholt sie sich noch von ihrer zweiten Corona-Infektion („Hat tatsächlich gut wieder reingekickt“), das aber hält sie nicht davon ab, mir zu meinen oft viel zu ausufernden Fragen Rede und Antwort zu stehen, zwischendurch auch mal ihr sympathisches Lachen über den Videochat nach Köln zu senden. Dieses lockere Gemüt jedenfalls passt auch zu den visuellen Beipackmaterialien ihrer Musik. Mal spielt ein Video auf einem typisch dorfigen Ascheplatz, mal stecken Brockhoffs Füße auf Pressefotos in trashigen Fischschlappen. „Es ist schon gewollt da ein bisschen Lockerheit und hier und da auch mal ein Augenzwinkern reinzubringen – ohne das verkrampft geplant zu haben. Das stellt einfach mich als Person dar.“, tönt es zur Erklärung aus den Laptopboxen. Das Projekt – intern spricht man von „Brocki“ – nimmt sich selbst dementsprechend nicht immer allzu ernst und stellt trotz der selbstverständlich ernstgemeinten Songs die Freude am Machen über die bitteren Wahrheiten des Lebens.
Die Schlappen wiederum stehen ebenfalls im Zentrum des EP-Covers. Dessen Entstehung beschreibt sie wie folgt: „Das war eine spontane, intuitive Idee. Ich hab die Fischschuhe bei der Fotografin im Flur gesehen und fand die cool und witzig. Dann hat sich das irgendwie ergeben.“ Ihre Intuition und Gefühle generell spielen für Lina Brockhoff und ihr Projekt in vielerlei Hinsicht eine bedeutende Rolle. Zum einen beim Songwriting: „Ich schreibe sehr intuitiv und überhaupt nicht schematisch. Vieles passiert aus Versehen, aus einer spontanen Emotion heraus, die mich selber manchmal überrascht.“ Refrains, erklärt sie, fallen ihr daher am schwersten. Zum anderen in ihren bislang ausschließlich autobiographischen Texten. Sie selbst sagt: „In einem guten Brockhoff-Song verpacke ich eine Emotion gut und direkt. Das funktioniert für mich am besten in detaillierten, alltäglichen Beschreibungen.“ Das Wort „feel“ kommt dementsprechend in den knapp 17 Minuten EP-Spielzeit durchschnittlich alle 70 Sekunden und damit gleich 14 Mal vor. Ein Rekord?
Mit ihrer Band durfte Brockhoff bereits vor Jeremias und der Pom Pom Squad sowie auf Festivals wie dem Tempelhof Sounds oder dem Appletree Garden spielen, diesen September nun geht sie gemeinsam mit ihrem Label-Kollegen Luke Noa und Pano erstmals auf Tour. Bislang also fügt sich alles für sie. Vor einigen Jahren noch hätte das womöglich anders ausgesehen, den verdienten Raum nämlich bekommen FLINTA-Personen im Indie so wirklich erst jetzt eingeräumt. Die Indie-Songwriter*innen-Welle aus den Staaten jedenfalls beginnt mit Artists wie Power Plush, Blush Always und eben auch Brockhoff nun auch nach und nach hier Masse aufzuschichten. Den Eindruck, dass es im Indie zunehmend auch Platz für FLINTA-Bands gibt, hat Brockhoff ebenfalls: „Ich hab schon das Gefühl, dass in der Szene allgemein Offenheit herrscht und der Platz da ist.“
Gleichzeitig sieht sie aber auch die komplexen, sich gegenseitig verstärkenden Dynamiken hinter den noch bestehenden Ungleichheiten: „Es ist mega wichtig, das an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben und dadurch auch die Leute vor der Bühne zu inspirieren, auch Instrumentalist*innen zu werden. Auf lange Sicht wird sich nur etwas ändern, wenn jetzt dem Ganzen Platz geschaffen wird. Denn man braucht Leute, zu denen man aufschaut.“ Diese Vorbilder musste sich Brockhoff noch aus den Vereinigten Staaten borgen. In Zukunft soll es die auch aus Deutschland geben. Sie resümiert: „Solange da schon ein Ungleichgewicht herrscht, wird sich in den darauffolgenden Generationen nichts ändern.“ Die FLINTA-Revolution in der Musik also wird dringlich herbeigesehnt.
Einen großen Wunsch für die Unternehmung Brockhoff hat sie ebenfalls: Ein Debüt-Album soll her. Sie träumt: „Ich sehe es als eine komplett neue Herausforderung ein Album, so ein großes, zusammenhängendes Stück an Kunst zu kreieren. Da hab ich wahnsinnig Bock drauf.“ Die Tage vor unserem Gespräch jedenfalls war Brockhoff wieder im Studio – das erste Mal seit der „Sharks“-Veröffentlichung. Wann es akut an ein Album geht und ob vorher vielleicht erstmal eine zweite EP kommt aber, weiß sie selbst noch nicht. Sie erinnert sich: „Als ich ganz am Anfang die ersten Brockhoff-Songs geschrieben habe, war ich davon überzeugt, dass ich – egal was alle sagen – als erstes ein Album mache. Das hat sich dann ja offensichtlich auch schnell zerschlagen.“ Sie wolle sich nun Zeit lassen, sähe das nicht versteift, betont sie. Sicher ist sich Lina Brockhoff trotzdem: „Ein Brocki-Album kommt!“ Und dann schickt sie wieder eines ihrer ansteckenden Lachen aus dem hohen Norden durch das Internet nach Köln.
Und so hört sich das an:
Brockhoff live 2022 (Support für Luke Noa und Pano)
14.09. – Köln, Artheater
15.09. – Stuttgart, Schräglage
16.09. – München, Ampere
17.09. – Zürich, Rara Festival (CH)
19.09. – Ulm, Roxy
20.09. – Erlangen, E-Werk
21.09. – Leipzig, Neumanns
25.09. – Haldern, Haldern Pop Bar
27.09. – Bochum, Die Trompete
28.09. – Berlin, Privatclub
Das Beitragsfoto ist von Charlotte Krusche.
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