Interview mit AnnenMayKantereit über „Schlagschatten“ – Teil 2!

Annenmaykantereit Interview Schlagschatten Teil 2 2018

Es muss irgendwann Mitte dieses Jahres gewesen sein, als die Kölner Pop-Rocker AnnenMayKantereit Freunde und Familie in ihren Proberaum in Köln einluden, um in gewohnten Lokalitäten einmal nach und nach frühe Versionen vieler Stücke ihres neuen Albums „Schlagschatten“, das am siebten Dezember erscheinen wird, zu spielen und zu proben. Einige Tage später ging es für die Band nach Spanien, um dort ebenjenes zweite Major-Album aufzunehmen. Diese private Proberaumshow bot für die vier Musiker und Freunde zweierlei Möglichkeiten: Zum einen um seinen Kumpels zu zeigen, woran man so in der letzten Zeit gearbeitet hat, zum anderen um bereits ein gewisses Selbstvertrauen für die Aufnahmen zu gewinnen.

Den Umständen entsprechend

Es gibt wohl wenige Pop-Bands in Deutschland, die so sehr für eine sehenswerte und einnehmende Live-Performance stehen wie AnnenMayKantereit. Wer sich eben von der Straße bis in die Arenen hochkämpft muss schon einiges auf dem Kasten haben. Die schier unendlich lange Liste der ausverkauften Shows im nächsten Jahr spricht hier Bände. Identifizierten sich die ehemaligen Straßenmusiker in der Vergangenheit auch dadurch, dass auch ihre Studioplatten in einem Live-Setting aufgenommen wurden, sah sich das Quartett in Katalonien angelangt mit einigen Umständen konfrontiert, die kreativen Umgang erforderten. Deshalb ist ein größerer Teil von „Schlagschatten“ nicht live entstanden. Übrigens sprechen Schlagzeuger Severin Kantereit und Bassist Malte Huck im Gespräch von ihrem Durchbruchswerk „Alles Nix Konkretes“ aus dem Jahre 2016 als ihren Erstling, nicht vom 2013 erschienenen und mittlerweile vergriffenen Debüt „AMK“.

Nun aber zurück zu den Aufnahmen des laut der Band zweiten Langspielers in der Nähe der spanischen Stadt Girona. Hatte das Quartett zuvor eigentlich geplant in den neuen Stücken mehr mit dem Klavier zu arbeiten, erzwangen die Bedingungen vor Ort, dass man kreativ über die genaue Umsetzung nachdenken musste. Gleich zwei Klavierstimmer und eine Klavierstimmerin besuchten die junge Reisegruppe in ihrer neuen Übergangsheimat und versuchten dem Instrument einen reinen Klang zu verleihen. Niemandem wollte das gelingen. Deshalb bleibt der Tasteninstrument-Anteil auf „Schlagschatten“ letzten Endes vergleichsweise gering.

Außerdem entstanden vor allem die Gesangsspuren zu späteren Zeitpunkten als die Instrumentale. Das geht laut Huck darauf zurück, dass die Gruppe den Großteil im Hauptraum, dem eigentlichen Wohnzimmer, des achtwöchigen Übergangsquartiers aufzeichnete. Da die Gesangsrecordings nicht in einem gesonderten Raum stattfinden konnten, überlappten sich Gesang und Instrumente so sehr, dass man erstere im Nachhinein angehen musste. Die Entscheidung, sich von einem seiner Kernelemente loszulösen, traf man also ebenfalls als Reaktion auf die Umstände, denen man sich gegenüberstellen musste.

Kantereit ergänzt, dass alle vier Musiker sich in den letzten Jahren ebenfalls weiterentwickelt und sehr viel Musik – oder wie die beiden immer sagen: „Mukke“ – gemacht hätten. Schon die Entstehung der Songs verlief diesmal teilweise anders. „In Meinem Bett“ wanderte als Paradebeispiel zunächst von Bandmitglied zu Bandmitglied und evolvierte immer weiter hin zu der Form, in der man das Stück nun auf der Platte findet. Durch dieses etwas häppchenweisere Songwriting war es dann auch einfacher mal Stück für Stück aufzunehmen.

„So live wie das war noch nie ein Lied auf einem Album von uns.“ – Malte Huck

Der Bassist betont jedoch, dass die Platte trotz der neuartigen Herangehensweise vor Live-Momenten strotzt. So schaffte es ein Song dieses bereits erwähnten geheimen Proberaumkonzertes unter Ausschluss der Öffentlichkeit schlussendlich als Quasi-Live-Version auf das Album: „Freitagabend“ heißt der, am Ende der Aufnahme hört man kurz das Klatschen der Meute – enge Freunde, Verwandte, Wegbereiter. Ihren Ruf als Live-Band will die Band so ganz also nicht ablegen. 

Austoben und Ansprechen

„Weiße Wand“ ist ein Song, der die Band in komplett unbekannte Gefilde vordringen lässt und unter diesen neuartigen Arbeitsbedingungen perfekten Nährboden vorfand. Hier wird der neue kreative Wind, der durch das Hause Annenmaykantereit weht, am deutlichsten. Da wäre zum einen die Musik, die erstaunlich minimalistisch daherkommt und von der Soundästhetik an monotone Electronica-Stücke erinnert. Da wären zum anderen die klaren politischen und gesellschaftskritischen Worte, die Sänger Henning May resigniert zwischen seinen Lippen hervorpresst. Es heißt unter anderem „Flüchtlingskrise fühlt sich an wie Reichstagsbrand, auch wenn ich das nicht vergleichen kann.“ Diese beiden Komponenten – Text und Musik – lassen sich nur schwerlich voneinander trennen, wie die Band erklärt.

Den Text schrieb May gemeinsam mit Fabian Döll und Felix Römer. Ersterer ist eigentlich als Döll für gespittete Rhymes bekannt, letzterer als Poetry-Slammer für clevere Literaturvorträge. Es war der Band wichtig, dass die Botschaft eines solch kritischen Songs nicht plakativ wirkt, sondern den Zuhörer zum Nachdenken und Diskutieren anregt. Deshalb scheint es gar nicht abwegig sich genau hier geistreichen Input von anderen Wortakrobaten in die eigenen Reihen zu holen. Den drei Kreativköpfen scheint es durchaus gelungen zu sein, nicht mit Parolen umher zu werfen – als der schüchterne Frontmann der Band den Text das erste mal zeigt, ist Malte Huck begeistert. Die Umsetzung fand er in seinen eigenen Worten ausgedrückt „ultra krass“.

Da der lyrische Part des Stücks zuweilen etwas fragmenthaft bleibt, konnten sich auch die drei Instrumentalisten gänzlich ausleben. Diese neue Losgelöstheit merkt man dem Song an. Das Grundgerüst, das vor allem auf einer recht simplen Bassline beruht, stammt von May und Huck und entstand in Amerika. Auf Youtube findet man sogar noch einen kurzen Clip, in dem die beiden eine frühe Version des Liedes anteasern. Auch hier entwickelte die Gruppe das Produkt von Version zu Version weiter. Die Schlagzeugspuren nahm die Reisegruppe auf einem sehr kleinen Kit auf, verteilte um das Instrument herum jedoch viele verschiedene Mikrofone, sodass man beim Mix letzten Endes in der Lage war, interessante Stereo-Effekte zu erzeugen. Die Gitarre greift eher im Hintergrund außerdem auf einen E-Bow zurück, einen Effekt, der durch magnetische Spulen dafür sorgt, dass die Gitarrensaite nach dem Anschlag praktisch unendlich lange weiterklingt und somit auch mal mit einem Synthesizer konkurrieren kann. Die restlichen Instrumente tanzen spielerisch um die delaygetränkten Bassspuren herum, die den Takt angeben. Der Drummer und der Bassist schreiben ihrem Hauptproduzenten Markus Ganter einen großen Einfluss bei diesen kreativen Ausarbeitungen zu, die Annenmaykantereit ihre Komfortzone verlassen sehen.

Auf ihrer Youtube-Seite haben die Kölner außerdem eine besondere Live-Version von „Weiße Wand“ gestellt. Da ersetzt ein Drumcomputer das akustische Schlagzeug und eine Akustik- die E-Gitarre. Auch der Text weicht etwas von der Studioversion ab. Ansonsten bleibt der unbequeme Kern des Songs erhalten. Die Live-Situation will die Band noch immer nicht aus ihrem Image streichen. Bislang gibt es von jeder der Singles eine solche Live-Session-Aufnahme.

Wo stehe ich?

Deutsche Pop-Kultur glänzt in diesem Jahrzehnt nicht gerade dadurch, regelmäßig unbequeme Thematiken anzusprechen. Da hätte man zum einen den Deutschrap-Mainstream, der sich vor allem immer noch auf materielle Güter festfährt und eben jene Singer-Songwriter, die stets von glücklichen Liebesbeziehungen und Freundschaft singen. Annenmaykantereit nehmen in dieser Konstellation gleich zweifach eine Sonderrolle ein – zum einen schreckt die Gruppe nicht davor zurück, auch traurige Themen anzusprechen und ungeschönte Emotionen zu vermitteln – für Männer unserer Bevölkerung gar nicht mal so typisch. Zum anderen positionieren die Kölner sich in ebenjenem „Weiße Wand“ auf etwas kryptische, aber doch eindeutige Weise gegen Rassismus, Sexismus und anderen Scheiß, der so auf unserer Welt abgeht.

Auf „Alles Nichts Konkretes“ sah das mit den politischen Songs noch ganz anders aus – die sucht man nämlich vergeblich. Ein Vorwurf, der den Kölnern ebenfalls gelegentlich zu Ohren kam. Die Abstinenz deutlicher Meinungen auf dem Erstling führt Kantereit darauf zurück, dass die Ansprüche, die die Gruppe an an einen solchen Text hat, zu hoch sind. Außerdem gibt es neben der Musik auch andere Kanäle, über die man als einflussreiche Band mit großer Fanbase zum Nachdenken anregen kann – man betrachte nur die etlichen Social-Media-Plattformen. Alleine über Facebook und Instagram erreichen Annenmaykantereit über 750.000 Menschen.

Für „Schlagschatten“ beschlossen die vier Kölner jedoch, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen sei, auch mal auf einem Album ein solch ernstes und akutes Thema anzusprechen. Dass der Text Raum für Diskurs lässt, war der Band besonders wichtig – das betonen die beiden immer wieder. Huck spricht außerdem an, dass es schnell scheinheilig wirken kann, wenn vier junge, weiße, deutsche, heterosexuelle Männer sich plakativ gegen Sexismus stellen – in einer solch privilegierten Grundsituation ist man eben selber sehr selten Opfer von Diskriminierungen. Trotzdem betiteln sich alle Bandmitglieder als Feministen, im Interview versuchen die beiden immer wieder zu gendern und ihre eigene Position in diesen Konstellationen zu hinterfragen.

Bassist Huck will sich selbst gar nicht von Fehlern freisprechen. In einer Gesellschaft, in der leider doch sehr viel unsittliche Verhaltensweisen und Einstellungen durch die Sozialisation und Erziehung vermittelt werden, trägt vermutlich jeder einen kleinen Anteil Sexismus und Rassismus in sich. Genau diese Position nimmt „Weiße Wand“ ein. Was ist die Ursache dafür, dass Frauen noch immer in vielen Fällen schlechter verdienen als Männer (der bereinigte Gender-Pay-Gap beträgt noch immer etwa 7%) und man in vielen eher reichen europäischen Staaten einen unangenehm realen Rechtsruck erlebt?

„Das ist für uns die „Weiße Wand“ um es ganz platt zu sagen.“ – Malte Huck

Gesellschaftlicher Auftrag vs. Therapiemöglichkeit

Will die Band mit dem politischen und gesellschaftskritischen Song Diskussionen anregen, trifft selbiges nicht für die eigenen emotionalen Stücke zu, mit denen vor allem im Mittelteil des Albums gespickt ist. „Sieben Jahre“ behandelt auf intime Weise den Tod einer geliebten Person, „Alle Fragen“ schildert die unangenehme Situation, nach einer Trennung wieder zurück in die Heimat zu kommen und von allen alten Freunden auf die Geschehnisse angesprochen zu werden, „Hinter Klugen Sätzen“ thematisiert die eigene Fähigkeit, mit bestimmten stumpfen Phrasen von den eigenen Gefühlen abzulenken. Für die Band dienen solch emotionsgetränkten Songs nicht einem gesellschaftlichen Auftrag. Ja, auch das männliche Geschlecht wird durch sein Umfeld häufig zu bestimmten nachteiligen Verhaltensmustern getrimmt – nur Heulsusen weinen! – für Kantereit dient die Beschäftigung mit den Fällen jedoch eher der eigenen Verarbeitung, als darauf aufmerksam zu machen, dass auch junge Männer Gefühle zeigen dürfen und können.

Ob ein Song ein bestimmtes Thema anspricht oder nicht, entscheidet die Band im Plenum im heimeligen Proberaum. Der Gruppe scheint es wichtig, zu betonen, dass hinter jedem Namen – seien das „Marie“, „Pocahontas“ oder „Jenny“ – eine echte Person und Geschichte steckt. Der erste Ansatz des Verarbeitens fängt also schon da an, einen Themenbereich überhaupt in die Band zu bringen und als potentielles Songthema vorzuschlagen, bevor es überhaupt konkreter ans Texten geht. Diesen Schritt bezeichnet der Schlagzeuger immer wieder als „langen Prozess“. Dass es dann schlussendlich viele Menschen gibt, die einen solch persönlichen Song hören und sich damit beschäftigen, empfindet er als schön. 

Auch hier betonen die beiden, wie wichtig es ihnen gewesen sei, soetwas auf eine subtile und unpeinliche Weise anzusprechen. Als Band gab es nie den Anspruch, mit gehobenem Zeigefinger zu diktieren, wie man richtig mit Trauersituationen umzugehen hat. Der Drummer betont jedoch, dass man in solchen Fällen als Betroffener oft dazu neigt, Dinge zu verdrängen. Damit, den Tod so zu verarbeiten und in Liedform anzusprechen, setzten Annenmaykantereit in jedem Fall ein klares Statement – Ansprechen statt Totschweigen.

Auf die Frage nach der Intention hinter derartigen Texten, weiß die Gruppe selber häufig keine Antwort. Malte Huck sagt dazu:

„Warum wir das machen ist vielleicht nochmal eine andere Frage. Das fragt man sich selber manchmal auch. Muss ich da mit irgendjemand wildfremdem, der mich im Interview fragt, darüber reden? Das ist aber eine Art Therapie und schöne Form da zu viert auch drüber zu sprechen. Es gibt auch Themen, die wir vier im Proberaum besprochen und beschlossen haben, darüber keinen Song zu machen. Wir geben nämlich nur das preis, worauf wir Bock haben.“

Wie mit diesen intimen Stücken nun von den Fans umgegangen wird, bleibt abzuwarten. Bislang fielen die Reaktionen auf die veröffentlichten Singles sehr positiv aus. Spätestens die Tour im Frühjahr wird dann das deutlichste Feedback zum neuen Material bringen. Da führt es die Band erst in größere Clubs, dann in die riesigen Hallen, bevor im Sommer die gigantischen Festivalbühnen dran sind.

Auf die Frage, warum es die Band immer wieder auch in die Clubs zieht, betont Kantereit, die besondere Energie, die in einem kleinen Laden herrscht. Außerdem lohnt es sich natürlich auch, solche Gigs als Proben für die größeren Auftritte zu nutzen. Ein Problem der größeren Shows, die „auch Bock“ machen, ist eben auch die große Entfernung zwischen Publikum und Band, die es zu überwinden gilt.

Ob es AnnenMayKantereit gelingt, diese Distanz zu brechen, werden die kommenden Monate auf Tour zeigen. Den Status als unverschämt gute Live-Band werden die Kölner wohl nie vollständig ablegen. Mit „Schlagschatten“ zeigt das Quartett jedoch, dass es gleichzeitig auch interessante Studiowerke produzieren kann und macht damit einen großen Schritt nach vorne – sowohl auf musikalischer, als auf lyrischer Ebene. Live spielt man ja eh schon in den höchsten Ligen mit.

Den ersten Teil des Interviews gibt es hier.

Das Album „Schlagschatten“ kannst du dir hier kaufen.*

Tickets für die Tour gibt es hier.*

Und so hört sich das an:

Website / Facebook /  Instagram

AnnenMayKantereit live 2020:

23.02.2020 Ulm, Ratiopharm Arena
25.02.2020 Wien, Stadthalle (AT)
27.02.2020 Mannheim, SAP Arena
28.02.2020 Zürich, Hallenstadion (CH)
29.02.2020 Nürnberg, Arna Nürnberger Versicherung
03.03.2020 Leipzig, Arena
05.03.2020 Oberhausen, König-Pilsener-Arena
06.03.2020 Magdeburg, GETEC-Arena
07.03.2020 Chemnitz, Messe
10.03.2020 Freiburg, SICK-Arena
12.03.2020 Bremen, ÖVB-Arena
13.03.2020 Köln, Lanxess Arena
15.03.2020 Kiel, Sparkassen-Arena
13.06.2020 Hannover, Expo Plaza
14.08.2020 Hamburg, Trabrennbahn
15.08.2020 Rostock, IGA Park
20.-22.08. St. Pölten, Frequency Festival (AT)

Transkript des Interviews:

minutenmusik: Du hattest eben bereits den Produzenten Markus Ganter erwähnt. Vorher wart ihr ja immer dafür bekannt, dass ihr eure Platten live aufnehmt. Diesmal habt ihr zumindest einige Sachen auch hintereinander recorded. Severin, du meintest in einem Interview mal „Wenn du dann auf einmal auf Klick nur Schlagzeug spielst, dann kommt die Gitarre drüber, da geht was flöten.“ Wie habt ihr geschafft, dass eben nichts „flöten“ gegangen ist?

Malte: Beim ersten Album und auch der EP haben wir die Lieder alle sehr lange schon live gespielt. Da gab es dann einen ganz klaren Rahmen: wir haben im Hansa Studio aufgenommen, haben einen Tag pro Lied eingeplant und das dementsprechend auch gebucht.

Nun haben wir gesagt, dass wir zu einem bestimmten Zeitpunkt alle Lieder, die aufs Album kommen, fertig haben wollen. Das waren dann etwa 18, von denen 14 auf dem Album gelandet sind. Dann fahren wir nach Vilert und nehmen da in einem Wohnzimmer auf. Ab dann hieß es, dass wir auf die Umstände reagieren müssen, die auf uns zukommen. Die waren zahlreich. Für uns war klar, dass wir nicht mehr alles live aufnehmen müssen. Das hieß aber nicht, dass wir kein Live-Album mehr machen wollen, sondern eben auf das reagieren, was da passiert.

Den Gesang mussten wir beispielsweise größtenteils im Nachhinein aufnehmen. Das nicht, weil wir wollten, dass Henning sich nur darauf konzentriert, sondern weil wir nur einen Raum hatten und man das, wenn Severin Schlagzeug gespielt hat, zu sehr über das Gesangsmikro gehört hat. Das klang einfach scheiße. Im Hansa Studio ist das nicht so, weil man da einen extra Raum für die Gesangsaufnahmen hat. Das war dann so ein Moment, in dem wir beschlossen haben, Sachen getrennt aufzunehmen.

Auf dem Album gibt es aber trotzdem Live-Momente. Zur Hälfte ist das sicherlich auch live eingespielt. Wir haben am Ende vom Schreibprozess, bevor wir nach Spanien gegangen sind, ein Konzert für unsere Freunde, Verwandte und Wegbegleiter in unserem Proberaum gegeben. Einfach um denen das zu zeigen, damit wir da dann selbstbewusst in Spanien an die Arbeit gehen können. „Freitagabend“ ist zum Beispiel eine Aufnahme von diesem Auftritt. So live, wie das, war noch nie ein Lied auf einem Album von uns. Da hört man am Ende sogar das Publikum.

Wir wollten am Anfang außerdem sehr viel mit Klavier machen. Dann kamen in Spanien zwei Klavierstimmer und eine Klavierstimmerin zu uns, die es allesamt nicht geschafft haben das Klavier zu stimmen. Das heißt, wir konnten dann gerade keine Klavierlieder aufnehmen und mussten andere Sachen machen. Severin wollte hingegen auch mal was produzieren. Da wir aber nur einen Monat Zeit hatten, ist er eben ab und an mit Einzelnen von uns rausgegangen und hat die Spuren aufgenommen. Wir haben dann einfach immer geguckt, was am Ende rauskommt. Die Magie eines Songs entsteht in dem Moment, in dem man davor sitzt und das geil findet. Entweder ist das dann eben geil oder nicht. Wenn es nicht geil war, haben wir das dann nochmal anders gemacht. 

Severin: Wir haben uns seit der Aussage damals einfach auch krass weiterentwickelt, sowohl musikalisch, als auch persönlich. Da hat auch jeder für sich andere Wege gefunden. Ich wollte beispielsweise mehr produzieren. Wir haben das alles als große Spielwiese genutzt und uns nicht darauf fokussiert, dass wir eigentlich die Band sind, die dafür bekannt ist live einzuspielen.

Manche Songs sind musikalisch auch ganz anders als die alten Sachen entstanden. Bei „In meinem Bett“ kam Malte mit einer Gitarrenlinie an, ich hab den Bass dazu gemacht und auch aufgenommen – dann war das ein weirdes Lied, von dem wir beide nicht wussten, in welche Richtung das gehen soll. Das ging dann an Henning, der darüber gesungen hat. Dann wurde das immer hin- und hergeschickt oder auch mal im Proberaum gespielt, sodass die Sachen viel getrennter entstanden sind und man das auch auf diese Weise aufnehmen konnte.

minutenmusik: Ich konnte die Platte ja ebenfalls schon hören und muss sagen, dass sie mir doch besser gefällt, als die erste. Das wirkt einfach weniger wie der Junge mit der schönen Stimme, der über Musik singt und dafür mehr wie eine richtig eingespielte Band.

Severin: Das ist ein schönes Kompliment, danke! Das ist glaube ich darauf zurückzuführen, dass wir alle krass viel Mukke gemacht haben. Da ist einem erstmal bewusst geworden, dass das jetzt unser Job ist. Da konnten wir voll drin aufgehen. Uns da weiterzuentwickeln, war wichtig für uns.

Malte: Es ist immer schwierig über eigene Sachen zu reden, aber das erste Album war genauso richtig, wie wir es dann auch gemacht haben. Bis zu dem Punkt, an dem man ein Album fertig hat und das mal am Stück hört, ist man sich nie im Klaren, wie das insgesamt klingt. Ich war total froh darüber, wie aufregend ich die neue Platte jetzt selber finde.

minutenmusik: Cool! Lass uns jetzt mal konkreter über einzelne Songs reden! „Weiße Wand“ erinnert mich von der Soundästhetik ein bisschen an einen elektronischen Song, der mit echten Instrumenten umgesetzt wurde. Was war bei dem Song euer Anspruch?

Severin: Das ist ganz schön parallel entstanden. Einmal gab es diesen Inhalt, den wir transportieren wollten. Das war für uns super schwierig in so eine Richtung zu gehen ohne den Zeigefinger zu heben und „Nazis sind scheiße“ zu sagen. Der Text war zusammen mit Fabian Döll, einem Rapper, und Felix Römer, einem Poetry-Slammer zum größten Teil Hennings Part. Die drei haben gemeinsam daran gearbeitet. Parallel haben wir uns Gedanken gemacht, wie das musikalisch funktionieren soll. Es gab das Grundgerüst, das Malte und Henning mal in den USA gemacht haben. Da gibt es auch ein kurzes Video mit der Basslinie auf Youtube. Da mussten wir uns überlegen, was wir da drunterlegen wollen. Ein typisches „Bum-Tschak-Bum-Tschak-Bum-Tschak“ passt da eben nicht. Die passende Musik zu diesem beklemmenden Thema zu finden, war für uns super interessant. Da ist dann sehr viel über ausprobieren geschehen.

Malte hat irgendwann einfach mal die Bassline aufgenommen, ich habe dann am Computer sehr viel damit rumexperimentiert, mal Gitarren aufgenommen, die dann rückwärts abgespielt, das dann eingebaut. Das Schlagzeug in dem Song auf dem Album ist ein ganz kleines Set. Markus hat das dann von verschiedenen Seiten aufgenommen, damit man da noch ein bisschen Verwirrung drin hat. Chrissie arbeitet da mit einem E-Bow. Da haben wir also sehr viel rumgespielt. Weil der Text schon so fragmenthaft ist und es nicht das Standard Strophe-Refrain-Schema gibt, war es für uns geil uns da musikalisch voll austoben zu können.

Diese Videoversion ist auch nochmal anders. Die haben wir dann ja wirklich live eingespielt mit einem Drum-Computer und Akustikgitarre und so. Das war für uns alle ein krass besonderer Song, weil der erstmal eine Aussage beinhaltet, von der wir nicht wussten, wie die ankommt und musikalisch neu ist.

Malte: Das war eine Zeit lang tatsächlich ein sehr elektronisches Lied. Das war ein Stück, bei dem wir sehr viel mit Markus gearbeitet haben. Da gab es ganz viele verschiedene Phasen, in dem das sehr anders klang. Im Endeffekt haben wir beschlossen, dass der Bass das ist, was den Rhythmus und die Akkorde vorgibt und alles andere weird drumherum tanzt. Das ist total geil, weil ich mit dem Delay einen Rhythmus vorgeben kann und die anderen sich voll austoben können. Hört man sich das auf Kopfhörern an, merkt man, dass das Schlagzeug auch von rechts nach links wandert. Irgendwie wollten wir schaffen, dass das musikalisch, wie eben das Thema auch, schön weird ist, gleichzeitig aber auch sehr nachvollziehbar. Das sind ja eigentlich nur drei Akkorde, die sich die ganze Zeit wiederholen.

minutenmusik: In der deutschen Pop-Musik geschieht es nicht wirklich häufig, dass sich so klar politisch positioniert wird. Woran das liegt, kann man vermutlich gar nicht so genau sagen. Das kann sein, dass man Angst hat Fans abzuschrecken oder selber gar nicht eine so starke Meinung hat…

Severin: Klar, das war bei uns beim ersten Album ja auch so: Nachdem die Platte rauskam, haben viele Leute uns vorgeworfen, dass wir zu unpolitisch seien. Wir machen halt Mukke, sind alle aber schon politisch interessierte Menschen. Das dann aber auf eine Art, hinter der man stehen kann, in die Musik zu tragen, war für uns immer schwierig. Werte können wir zum Beispiel auch über die sozialen Netzwerke vermitteln. Mit der großen Reichweite, die wir mittlerweile haben, war das Album jetzt aber ein schöner Anlass Leute dadurch zum Denken und in Diskussionen zu bringen. Ich denke das hat auch ganz gut funktioniert, wenn man sich so im Internet die Kommentare unter den Beiträgen durchliest. Eigentlich machen wir das sehr wenig, hier war das aber interessant.

Malte: Diesen „Weiße Wand“-Text als etwas, das man vielleicht als neu für uns empfindet, rauszuhauen, war für uns super wichtig – sich einem Thema zu nähern, das uns so krass angeht, ohne zu sagen, dass wir Sexismus, Rassismus, den Rechtsruck scheiße finden. Als Henning, Felix und Fabian uns den Text das erste mal gezeigt haben, fand ich das ultra krass. Da dachte ich mir, dass ich das genauso thematisieren würde. Wo sehe ich meine eigene Position in diesen Liedern? Und wo kann ich selber sagen, dass auch ich Sachen scheiße mache? Vielleicht hast du ja Bock das bei dir mal anzugucken? 

Gerade wenn wir, weiße, heterosexuelle Männer, die in Deutschland geboren wurden, die Lanze gegen Sexismus brechen, könnte das sehr unglaubhaft wirken, weil wir nicht darunter leiden. Wir sind eben keine Opfer des Sexismus. Wir sehen uns nicht auf der anderen Seite, so ist das nicht. Ich würde uns alle als Feministen beschreiben, es ist aber sehr schwierig darüber zu reden und dabei nicht scheinheilig zu wirken. Da wollten wir gucken, wo wir da stehen. Auch, wo das herkommt – warum ist es so schwierig für Frauen in Chefinnenpositionen zu kommen? Woran liegt das? Das ist für uns die „Weiße Wand“ um es ganz platt zu sagen.

minutenmusik: Ich glaube wenn man in einer solchen Gesellschaft aufwächst, werden einem viele Verhaltensweisen auch einfach anerzogen, sodass man manchmal eben auch reflektieren muss, ob das eigene Verhalten so cool ist oder vielleicht auch klare Fehler aufweist. Da kann sich glaube ich niemand, der in so Verhältnissen aufwächst, gänzlich von frei sprechen.

Malte: Voll!

minutenmusik: Der Mittelteil der Platte wird mit „Hinter Klugen Sätzen“ und „Sieben Jahren“ auf einmal etwas intimer und düsterer. Da geht es dann um Selbstzweifel, um den Tod. In der Popkultur und dem öffentlichen Diskurs sind das Themen, die häufig tabuisiert werden. Wenn dann vier junge Männer solche Themen derart ungeschönt ansprechen, kommt bei mir schon die Frage auf: Wollt ihr genau deswegen solche Thematiken ansprechen? Seht ihr da in euch einen gesellschaftlichen Auftrag?

Severin: Ich glaube nicht, dass wir gerade bei so emotionalen Themen, in irgendeiner Weise gedacht haben, dass das unsere Aufgabe sei so ein Thema auf unsere Platte zu bringen. Das würde ich eher „Weiße Wand“ zuordnen, bei dem wir eben viel darüber nachgedacht haben einen solchen Themenbereich in die Band einzubringen, weil es interessant ist daran zu arbeiten.

Bei den sehr emotionalen Sachen, zum Beispiel den Songs, die du jetzt auch erwähnt hattest, war das ein langer Prozess, den wir durchgemacht haben. Für mich, auf „Sieben Jahre“ bezogen, war das jahrelang ein so großes Themengebiet. Man macht Musik, mit der man Emotionen verarbeitet und überlegt sich dann, ob man diesen Themenbereich überhaupt in diese Band bringen möchte. Dasselbe gilt für „Hinter Klugen Sätzen“, der ein sehr persönlicher Song für Henning ist. Die beiden Songs sind echt gute Beispiele, weil wir da lange überlegt haben, ob wir beispielsweise in Interviews dann auch auf solche Songs angesprochen werden wollen.

Die Stücke sind für uns so persönlich und emotional behaftet, ohne diese Themen wären wir als Band nicht so, wie wir jetzt sind. Das war für uns ein langer Prozess da einen Weg zu finden das musikalisch und inhaltlich nach Außen bringen zu wollen. Über den Tod zu singen kann man zum Beispiel so plakativ und scheiße machen, wenn das viel zu cheesy wird. In dem Fall war das für mich schwierig da auf Wörter zu kommen, die das beschreiben, dabei aber nicht zu plakativ zu werden und das schön zu verpacken.

Für uns war dann eher die Motivation das zu verarbeiten. Für mich war das ein super schöner Gedanke sowas zu thematisieren und Leute zu haben, die das hören und sich ein Stück mit dieser Thematik befassen. Gerade wenn man jemanden verliert, neigt man auch dazu das schnell zu verdrängen oder falsch damit umzugehen. Uns ging es dann natürlich nicht darum vorzuschreiben, wie man richtig mit sowas umgeht, sondern Personen in die Thematik reinzuschmeißen. Selbst wenn die Leute dann kurz an wen denken oder sich in dem Lied verlieren können, reicht das schon. Also würde ich nicht sagen, dass die Idee diese Themen einzubringen nicht aufkam, weil wir uns als Botschafter sehen. Das waren ganz große schwierige Themen für uns. 

Ich bin sehr froh, dass wir das auf diese Art gemacht haben. Damit bin ich sehr zufrieden und mit dem Ergebnis sehr glücklich.

Malte: Sobald so ein Projekt eine gewisse Größe hat, fängt man schnell an Intentionen zu analysieren. Was man manchmal vergisst – wir haben hier in Köln unseren Proberaum – alles, was man auf diesen vierzehn Liedern hört, das sind wir vier, die in diesem Proberaum sitzen und überlegen, was wir machen wollen. Wir haben diesmal auch Leute an uns rangelassen. Es gibt Leute, die Texte mitgeschrieben haben – unser Ton- und unser Lichttechniker haben beispielsweise bei „Ich geh heut nicht mehr tanzen“ mitgeschrieben, Fabian und Felix bei „Weiße Wand“. Ansonsten sind das aber wir vier, die zum Beispiel bei „Weiße Wand“ beschließen ihre Komfortzone zu verlassen. 

Den Text, den ich mit Henning geschrieben habe – „Alle Fragen“ – das sind alles ganz konkrete Themen für uns. Bei jedem Lied gibt es die Person dahinter. „Marie“ ist nicht „Marie“, weil es so viele tolle Lieder mit dem Namen gibt und wir da eine Referenz zu bauen wollten, sondern weil es sie eben gibt. Bei „Alle Fragen“ ist das dann eine Situation, in der ich, der als einziger vom Dorf kommt und eben nicht aus Köln, zurückfährt und auf einmal nicht mehr mit meiner Freundin zusammen bin, mit der ich sehr lange zusammen war. Wir tun uns, wenn wir in Interviews dazu gefragt werden, komischerweise viel schwerer über so Sachen zu reden, als das in den Liedern zu belassen. Du kannst aber davon ausgehen, wenn wir über Sachen und Menschen schreiben, dass es die immer gibt. So ist das erste und das zweite Album entstanden. Das sind die persönlichsten Themen, die es gibt.

Warum wir das machen, ist vielleicht nochmal eine andere Frage. Das fragt man sich selber manchmal auch. Muss ich da mit irgendjemand wildfremden, der mich im Interview fragt, darüber reden? Das ist aber eine Art Therapie und schöne Form da zu viert auch drüber zu sprechen. Es gibt auch Themen, die wir vier im Proberaum besprochen haben und beschlossen haben, darüber keinen Song zu machen. Wir geben nämlich nur das preis, worauf wir Bock haben. Der Rest passiert in den Köpfen von den Leuten. Manchmal haben wir eben Bock Sachen zu erzählen und manchmal nicht. Das ist dann auch von den Umständen abhängig. 

minutenmusik: Lass uns zum Schluss zu etwas Positiverem springen: Wenn ihr live spielt, zieht es euch nicht nur in die riesigen Hallen, sondern auch immer wieder in die kleinen Clubs. Woran liegt das?

Severin: Es ist einfach ganz anders vor wenigen Leuten zu spielen, als in der Max-Schmeling-Halle vor 10.000 Menschen. Für uns ist beides super geil. Wir haben so viel in so kleinen Läden gespielt. Das ist nochmal eine ganz andere Energie, die da entsteht. Es macht auch Sinn bevor man auf große Tour geht, nochmal die kleinen Läden als Übung zu nutzen – da ist man viel freier. Wir haben jetzt glaube ich eine gute Mischung aus klein und groß. Das macht aber auch Bock in den Riesendingern aufzutreten. Da ist dann die Herausforderung diese Distanz zu durchbrechen.

minutenmusik: Vielen Dank für eure Zeit!

Foto von Martin Lamberty.

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