Die Eurovision Song Contest-Saison 2020 ist vorbei – dabei hat sie eigentlich gar nicht wirklich begonnen. Am 18.03. wurde bekannt gegeben, dass auch der größte Musikwettbewerb, der in diesem Jahr seine 65. Ausgabe feiern sollte, der Corona-Pandemie unterliegen wird und somit nicht stattfinden kann. 2019 sahen beim Finale am Samstagabend 182 Millionen Menschen weltweit zu. 2021 sollen sie wieder die Gelegenheit bekommen. Die Aussicht auf das kommende Jahr überbrückt aber nur geringfügig die gleichzeitig entstandene Flaute im gegenwärtigen Mai.
Nachdem Duncan Laurence den schon oftmals verdienten und dennoch nicht erreichten 5. Sieg für die Niederlande holte, sollte Rotterdam mit seiner Mehrzweckarena Ahoy Rotterdam als Austragungsstätte fungieren. Hat bekanntlich nicht sollen sein. Doch wie in den aktuellen Zeiten so üblich, werden stets neue Konzepte ausgedacht, kreative Ideen verwirklicht und einfach alles dafür getan, auf möglichst wenig verzichten zu müssen.
Nur wenige Tage nach der Absage stand fest: es wird eine Art ESC geben. Wie und wo würde sich noch herausstellen. Um auch dem großen Publikum an deutschen Fans gerecht zu werden – schalten doch durchschnittlich gute 8 Millionen Zuschauer ein –, entschied sich einerseits der klassische Sender ARD, der regulär das Finale überträgt, für Alternativshows, andererseits klinkte sich aber auch der Privatsender ProSieben ein. ProSieben setzte noch eine Sensation on top: Stefan Raab, der gleich mehrmals den ESC für Deutschland aus dem Grab im Stand nach oben hievte und mit Lena 2010 sogar den zweiten Sieg schaffte, sollte eine neuartige Show auf die Beine stellen, um den ESC-Samstag nicht zu trüb aussehen zu lassen. Das klang doch äußerst vielversprechend.
Tatsächlich war in den Medien von Raabs Idee zuerst zu lesen. Im Nachhinein behauptet aber die ARD sofort nach Verkündung der großen Absage von einem Ersatzprogramm gesprochen zu haben. Wer war zuerst? Egal. Letztendlich sollte es darum gehen, wer einfach liefert. Regulär sprechen ESC-Fans stets von der „Post Eurovision Depression“ – diesmal brauchte es aber nicht nur Stoff für „Danach“, sondern vielmehr für „Mittendrin“. Wir haben für euch sämtliche deutschen Eurovision-Shows angesehen und können euch vorab sagen: wirklich geschafft hat es keine.
Der 16.5. war der Termin fürs Grand Final und demnach der Fokus. Die ARD begann mit ihrem Special sogar bereits eine Woche zuvor. Der Zweitsender ONE sendete das World Wide Wohnzimmer – Das ESC Halbfinale 2020, das gleichzeitig auch auf YouTube gesehen werden konnte, um alle 41 angedachten Songs und Künstler vorzustellen und Deutschland dazu aufzufordern, seine ganz persönliche Top 10 zu wählen. Der deutsche Beitrag selbst wurde zwar gezeigt, lief aber außer Konkurrenz und stand somit dem Voting nicht zur Verfügung. Die 30-jährigen Zwillinge Dennis und Benjamin Wolter, die mit ihrem YouTube-Channel bereits über eine Million Abonnenten und 250 Millionen Videoaufrufe sammeln konnten, bewiesen sich als die womöglich größte Fehlentscheidung, die man hätte treffen können.
Selten wurde durch eine Livesendung sowohl sprachlich als auch inhaltlich so miserabel geführt. Beide Moderatoren präsentierten sich nach Minuten als absolute ESC-Newbies ohne Knowhow. Das Gefühl, die ESC-Fans, an die diese Sendung zweifelsohne gerichtet war, nicht ernst zu nehmen, kam auf. Hier hat man wahrhaftig nichts verpasst, wenn man abschaltete. Da halfen auch solide Kommentare von dem geladenen Gast FreshTorge nichts, der regelmäßig in anderen ESC-Shows zu sehen ist und somit ein gewisses Fachwissen mitbringt, wenn er beispielsweise gefragt wird, ob er sich an die Gewinnerin (!) 2018 noch erinnere. Auch kleine Schaltungen zu Kult-Moderator Domian und ESC-Urgestein und -Kommentator Peter Urban konnten über diese absolute Bauchlandung nicht hinwegtäuschen. Zusätzlich überzog das Pärchen mit ihrem Gesabbel die Sendezeit um unglaubliche 55 Minuten, sodass aus drei Stunden fast vier Stunden Sendung wurde. Da brauchte man wirklich Nerven aus Stahl. Lediglich von nachhaltigem Interesse: das Ergebnis. Russland, Dänemark, Litauen, Island, Malta, Aserbaidschan, Bulgarien, Italien, Schweden und die Schweiz konnten ein Ticket für die Sendung am kommenden Samstag ziehen. Für die beiden Typen von World Wide Wohnzimmer möge aber bitte der ESC-Kelch zukünftig lebenslänglich vorüberziehen.
Das konnte man doch nur besser machen, oder? Für Das deutsche Finale wurde voll aufgefahren und die Elbphilharmonie in Hamburg ausgewählt – natürlich ohne Publikum. Stattdessen waren die zu sehenden Personen an wenigen Händen abzählbar: Peter Urban als stets sympathischer und nicht austauschbarer Kommentator, der völlig unerklärlich dieses Jahr Unterstützung von 2018-Kanididat Michael Schulte bekommen sollte; dazu drei der zehn gewählten Acts live auf der Bühne (Dänemark, Litauen, Island); der deutsche Kandidat Ben Dolic und die leider immer wiederkehrende Ulknudel Barbara Schöneberger. Ja, Schöneberger hatte weiß Gott keinen einfachen Job und durfte zwei Stunden ohne Publikumsreaktion in einer riesigen Halle durchs Programm führen. Trotzdem schaffte sie es wiedermal drüber zu wirken, ein wenig neidvoll gegen Raabs parallellaufende Sendung zu dissen, sich bei einem Interview mit dem isländischen Act sogar zu blamieren und natürlich ein Medley aus bekannten Eurovision-Titeln mit Kalauern auf Deutsch gegen die Wand zu singen. Wie bereits erwähnt, konnten wegen der weiterhin andauernden Pandemie nur drei der Finalisten nach Hamburg geholt werden – die restlichen Male moderierte Schöneberger also eine Videoleinwand an, was unfreiwillig komisch wirkte.
Das Alles konnte jedoch in gut 75 Minuten abgehandelt werden. Unerträglich dafür waren die darauffolgenden 30 Minuten, die so skurril wirkten, dass man sich auch einen Tag später fragt, was das genau sollte: eine eingeschobene Ausgabe der „Tagesschau“, „Das Wort zum Sonntag“ und gleich sechs (!) Schnelldurchläufe. Wer nicht völlig wutentbrannt auf ProSieben umschaltete oder einschlief, musste dann noch zwei Songs von Michael Schulte aushalten. Auch hier wieder: Nerven aus Stahl. Letztendlich entschieden zwei getrennte Jurys im bekannten 12-Punkte-Verfahren. Die 100-köpfige-Expertenjury, die vorab ihre Pünktchen vergab, wählten als Gewinner Island – am Ende reichte es aber mit 22 Punkten und damit drei im Vorsprung für Litauen, das auch bei unserem ausführlichen Check (lest HIER nochmal unsere Einschätzungen für alle 41 Länder) abräumte. The Roop sorgten mit „On Fire“ für eine gelungene und unterhaltsame Performance. Eigentlich war Islands Song „Think About Things“ von Daði Freyr stets haushoher Favorit bei den Wettbüros, machte es sich aber in der Elbphilharmonie durch eine verlangsamte, reduzierte Version des ansonsten sehr groovenden Tracks selbst schwer. Das kostete den Sieg. Insgesamt war das Programm der ARD mit 25 Minuten Überlänge also wesentlich besser als das vorangegangene Halbfinale – gut und unterhaltsam war das aber definitiv auch nicht.
Nur die Harten blieben danach noch am TV-Gerät, wie auch die Einschaltquoten beweisen. Dabei gab es mit Eurovision: Europe Shine A Light endlich internationales Feeling. Statt Rotterdam sendete man zwar aus Hilversum, dafür aber mit dem Moderationstrio, das auch für die großen Shows geplant war: Edsilia Rombley (selbst ehemalige, niederländische ESC-Kandidatin), Jan Smit (in Deutschland als ein Teil der Schlager-Band Klubbb3 bekannt) und Chantal Janzen (beliebte Musicaldarstellerin und Moderatorin). Auch hier holte sich die ARD vorab einen Shitstorm par excellence ab: in sämtlichen Ländern lief die Show live um 21 Uhr – nur in Deutschland nicht. Da musste bis 22:20 Uhr das creepy Finale laufen, sodass gerade deutsche Fans von Spoilern in den Sozialen Netzwerken nur so vollbombardiert wurden. Die offizielle Ersatzsendung kommt zeitverzögert? Fragwürdige Entscheidung.
Immerhin wurde sich an den Zeitplan von zwei Stunden gehalten. In denen waren erwartungsgemäß alle 41 möglichen Beiträge und Künstler zu sehen – glücklicherweise jeweils in einem Einspieler, der selten eine Minute überzog. Ein paar Einblicke in das Leben des Acts, ein Ausschnitt aus dem Song und ein persönlicher Videogruß. Das war kurz und knackig. Gelegenheits-ESC-Gucker hätten sich wahrscheinlich die kompletten Songs gewünscht – für Liebhaber, die hier aber wohl in erster Linie einschalteten, war es aber eben nicht der 37. Durchlauf von allen Liedern. Trotzdem fehlte es der Sendung an ganz entscheidenden Faktoren: Spontanität, Lockerheit, Humor und sogar Aktualität. Jeder Künstler meldete sich aus der Quarantäne mit „Stay safe“- und „Hold on“-Botschaften, bei denen nicht von der Hand zu weisen war, dass sie bereits Wochen vorher gedreht wurden. Warum Europe Shine A Light überhaupt live sein musste, blieb fragwürdig. Live war hier nämlich viel zu wenig. Das optimistische Gefühl auf Lockerungen und einen doch okayen Sommer zu gucken, das durch Europa zieht, kam zu kurz. Stattdessen zog sich durch die Show ein Band mit viel Dramatik und Schwere. Trotzdem gab es hier immerhin einige Auftritte von Eurovision-Legenden zu sehen – Johnny Logan (zweifacher Gewinner, „What’s Another Year“), Mans Zelmerlöw (Gewinner 2015, „Heroes“) und sogar Marija Serifovic (Gewinnerin 2007, „Molitva“), dazu Gali Atari (Gewinnerin 1979, „Hallelujah“) mit vielen kleinen Gästen vom Junior Eurovision Song Contest. Netta (Gewinnerin 2018) und der amtierende Gewinner Duncan Laurence nutzten die Sendezeit, um neue Lieder („Cuckoo“, „Someone Else“) zu promoten, was eher nicht so cool war. Trotzdem gab es gleich vier wirklich sehenswerte Highlights: ein Video mit sämtlichen erleuchteten Wahrzeichen Europas, untermalt von diversen Orchestermusikern, die „Love Shine A Light“ (Gewinnersong 1998 von Katrina & The Waves) spielten; eine extrem berührende, zweistimmige Coverversion des ersten deutschen Gewinnerbeitrags „Ein bisschen Frieden“, vorgetragen von Ilse DeLange (Zweitplatzierte 2014 mit The Common Linnets, „Calm After The Storm“) und Michael Schulte; eine Botschaft des ABBA-Mitglieds Björn, was wirklich besonders ist und selten passiert und nicht zuletzt ein gemeinsames Video von allen diesjährigen Kandidaten, die ebenfalls den Titelsong „Love Shine A Light“ sangen, der von der Originalsängerin Katrina abgeschlossen wurde.
Europe Shine A Light hat zweifelsohne für eine melancholische und vertraute Stimmung gesorgt, aber auch gleichzeitig zu dick aufgetragen und sich als nicht ganz uptodate gezeigt.
Und dann war da ja noch die Raab-Show. #FreeESC, die Kurzform für Free European Song Contest, war mit großem Abstand die kreativste Idee, aber leider auch nicht das Gelbe vom Ei. In der Moderation gab es mit der 2014-Gewinnerin Conchita Wurst – die auch mit einer Videobotschaft bei Europe Shine A Light zu sehen war – und ProSieben-Allrounder Steven Gätjen eine würdige Besetzung. Hier stimmte die Chemie untereinander und demnach auch der Wortwitz. Es dauerte nicht lange, bis erkennbar wurde, dass hier Raab als Produzent am Werk ist: die durch TV Total bekannte Band Heavytones zockte unzählige ESC-Classics vor und nach den Pausen, kuriose Einspieler leiteten die darauffolgenden Auftritte mit Livegesang ein und alles war mit viel Augenzwinkern und lockerem Charme. Im großen Ganzen also eine gute Basis. Dafür fehlte es aber inhaltlich an Qualität. Das Konzept sah so aus, dass 16 überwiegend, aber nicht ausschließlich deutsche Künstler gegeneinander antraten. Jeder Act stand für ein Land, zudem er sich meist durch seine Vorfahren oder den Geburtsort verbunden fühlte. Auf welcher Sprache und welchem Genre das Lied entsprach, war frei wählbar, ähnlich wie bei der Eurovision-Vorlage. Allerdings reichte nahezu kein einziger Titel über völlig belanglose Radio-Ware hinaus. Die Besetzung waren beispielsweise viele Masked Singer-Teilnehmer (Stefanie Heinzmann, Mike Singer), weitere übliche Verdächtige (Sarah Lombardi, Vanessa Mai, Glasperlenspiel), einige richtige Peinlichkeiten (Eko Fresh) und ein Newcomer (Sion Hill). Musikalische Highlights: Max Mutzke, der in seinem Masked Singer-Outfit als Astronaut für das Land „Mond“ antreten durfte. What? Tatsächlich eine witzige Idee, parodierte die Show damit die seit sechs Ausgaben gängige Teilnahme Australiens beim ESC. Mit dem komplett neuen Song „[back to the moon]“ wurde ganz klar das beste Lied geliefert, das auch vom Zuschauervoting aus allen drei teilnehmenden Ländern – Deutschland, Österreich und Schweiz – mit der Höchstpunktzahl belohnt wurde. Des Weiteren gaben der Österreicher Josh, die Niederländerin Ilse DeLange (da ist sie schon wieder) und Gil Ofarim (trat für Israel an) passable Vorstellungen ab. Spannend wurde es bei der Verkündung des Teilnehmers für Deutschland, da bis zum Auftritt auf Stefan Raab himself plädiert wurde. Letztendlich wurde zwar enttäuscht, aber dafür mit einem wahnwitzigen Auftritt von Helge Schneider ähnlich gut unterhalten. Am Ende gewann trotzdem Nico Santos für Spanien, der bei der Zielgruppe aktuell am präsentesten und beliebtesten sein mag. Die Punktevergabe erfolgte ebenfalls in ESC-Manier – passend dazu fielen die unentbehrlichen Sätze „Europe, start voting now!“ und „Europe, stop voting now!“ – und wurde einerseits von überraschend großen Berühmtheiten wie Melanie C. von den Spice Girls, ESC-Gewinner 2019 Duncan Laurence (auch der hat heute also in zwei Shows parallel zu tun) und Heidi Klum praktiziert, andererseits aber von Elternteilen der Teilnehmer ad absurdum geführt.
Schon jetzt ist #FreeESC mit einer neuen Ausgabe fürs kommende Jahr angekündigt, was definitiv klar geht – nur bitte auf gar keinen Fall erneut zeitgleich mit dem großen offiziellen Programm! Vielleicht einen Monat vorher als Warm-Up für die Saison? Oder einen Monat später zur Überbrückung der „PED“? So oder so aber in jedem Falle mit besserer Musik.
…und damit ist Schluss für 2020. Mehr ESC war nicht drin. Der Gewinner bei dem reichhaltigen Angebot: die auf YouTube zu sehenden „Eurovision Home Concerts“. Eine tolle Auswahl an Künstlern mit zig einzigartigen Coverversionen aus dem eigenen Heim. Im TV hingegen kam man über „in Ordnung“ nicht hinaus. Freuen wir uns also einfach auf Mai 2021. Am Ende von Europe Shine A Light wurde nun offiziell bekannt gegeben, dass Rotterdam auch nächstes Jahr Gastgeberstadt sein wird und ebenso das Motto Open Up bestehen bleibt. Bereits 18 Teilnehmer haben zugesagt und werden für nächstes Jahr übernommen. Das klingt doch recht vielversprechend. Wir freuen uns schon.
Und so sah Europe Shine A Light aus:
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