Gerade waren SXTN dabei, richtig erfolgreich zu werden, da war dann auch schon Feierabend. Das weibliche Rap-Duo mit deutschen Texten fand 2016 mit ihrer ersten EP „Asozialisierungsprogramm“ ordentlich Anklang in der Szene und feierte mit „Leben am Limit“ ein nicht nur kommerziell erfolgreiches, sondern vor allen Dingen hochangesehenes Debüt. SXTN entdeckten eine Marktlücke: Gangsta-Rap mit teils sozialkritischen, aber stets derben Texten, präsentiert von zwei Frauen. Qualitativ um Längen besser als Schwesta Ewa oder Lady Bitch Ray. Das Album schaffte es bis auf Rang 8 der Charts, die Single „Von Party zu Party“ erreichte Gold. Die Bezeichnung „Tic Tac Toe der 2010er“ hinkte zwar an manchen Ecken gewaltig – im Vergleich zu Tic Tac Toe können Juju und Nura von SXTN nämlich rappen und gehen in Sachen „Provokation“ einige Schritte weiter –, aber der Erfolg hätte beim Folgealbum ähnlich sein können. Der Hype war schon da. Hätte, hätte.
Stattdessen entschied sich die Band Anfang des Jahres, das Aus bekannt zu geben. Warum, weiß man bis heute nicht so genau. Offizielle Statements klingen nach einem Auseinanderleben. Einige Wochen später: Juju landete mit ihrem im Juni erschienenen ersten Soloalbum in den Top 3 und erreichte mit ihren Rapskills erneut Beachtung, Nura konnte nicht an den Erfolgen ihrer Ex-Band anknüpfen, schaffte aber in den letzten zwölf Monaten mit eigenen Songs oder Featurebeiträgen sechs Charteinstiege. Ihr Soloalbum „Habibi“ war zwischenzeitlich auf Platz 14 anzufinden. Grund genug also, auch alleine auf Tour zu gehen und zu zeigen, was man kann.
Allo Leute ist der Name ihrer ersten eigenen Tournee, bei der sie innerhalb von zwei Wochen elf deutschsprachige Großstädte abklappert. Im letzten Drittel wird auch im Dortmunder FZW gehalten, der größten Location der Reise, wie Nura es selbst stolz erwähnt. Die Show meldet am letzten Tag ausverkauft, was 1400 Gäste bedeutet. Gäste, die überwiegend weiblich sind und durchschnittlich bei geschätzten 20 Jahren liegen. Viele sind mit ihren Cliquen hier und in Partylaune, trotzdem weiß jeder sich zu benehmen. Alle wollen Spaß an diesem Donnerstagabend, Stress ist nicht angesagt. Nura probiert auch genau diesen Spaß zu vermitteln. Leider hat sie aber anscheinend ohne Juju an ihrer Seite vergessen, dass ein Konzert eben kein Treffen unter Freunden ist, sondern mehr benötigt.
Dabei ist der erste Eindruck gar nicht so schlecht. Das Bühnenbild besteht aus einem großen Aufsteller, der ihren Namen in weißen Lettern präsentiert, mitten auf der Stage. Dahinter ein großes DJ-Pult, ein Banner mit einer Zeichnung ihrer Silhouette, stimmige Lichteffekte. Doch zwei dekorative Objekte lassen bereits vor der Show Fragezeichen aufkommen: links steht ein Gameshow-Barometer (das, Achtung Spoiler, bis zum Ende nicht gebraucht wird) und rechts ein riesiger, deutscher Reisepass. Was damit wohl geschehen mag?
Um 20:10 und somit mit einer kleinen, aber völlig akzeptablen Verspätung, betritt DJ und Produzent Sam Salam die Bühne und heizt für 15 Minuten die Crowd ein. Es darf zu aktuellen Hip-Hop-Songs getanzt und mitgesungen werden – allerdings immer nur eine gute Minute. Danach wird mittendrin im Track abgebrochen und irgendwas ins Mikro gebrüllt. Macht man das heutzutage so? Nach dem Motto „Ey, kennst du den Song? Der ist mega gut, ich spiel mal an“? Anschließend kommt auch die Frau, für die das Publikum gekommen ist und zwar…
…durch den Reisepass. Ja, kein Witz. Nach einem spannungsaufbauenden Intro öffnet sich der Pass wie eine Tür und eine nett gestylte Nura kommt raus. Damit ist bereits das erste Auftreten unabsichtlich komisch. Diesen Akt vollführt Nura noch einige Male im Laufe der 95-minütigen Show. Was damit ausgesagt werden soll, bleibt auch nach dem Gig ein Geheimnis. Immerhin betont sie mehrmals, dass sie sich trotz ihres Wohnortes Berlin stets Wuppertal angehörig fühlt, wo sie aufwuchs und was nicht weit von Dortmund entfernt liegt. Braucht sie den Pass, um auf Tour gehen zu dürfen? Ist das Touren eine Reise? Man weiß es nicht.
Nura hat zwei starke Elemente: eine Hand voll catchy Songs und eine sympathische Art. Beide Elemente schafft sie absolut ungekonnt in Szene zu setzen. Vielleicht ist dem Autor dieses Textes die Entwicklung von Konzerten für das Zielpublikum noch nicht klar gewesen, allerdings ist Sam Salam weiterhin anscheinend dazu da, Tracks zu spielen – und zwar Studioversionen. Fast das gesamte Konzert ist Vollplayback. Nura rappt die meiste Zeit drüber, wird aber oft untergemischt, sodass ihre Livestimme kaum zu hören ist. Zwischendrin hält sie das Mikro sogar ins Publikum, obwohl man ihre Stimme gerade aus den Boxen von der Studioversion hört. Ernsthaft jetzt? Das hat leider nichts mit Können zu tun und auch den Sinn eines Konzertes schonmal erheblich verfehlt. Die Setlist bietet einige Hits von ihrem Album, gleich zweimal den größten Erfolg „Chaya“, sogar einen SXTN-Song, „Frischfleisch“. Geht in Ordnung so. Bei einigen Titeln ist dann der Rap doch live, diese Anzahl ist aber mehr als überschaubar. Und auch hier bricht der DJ gerne mitten im Song mal ab, haben ja alle kurz reingehört. Alright.
Argument zwei: die bereits erwähnte Sympathie. Ja, das muss man ihr lassen. Nura zeigt Fannähe von der ersten Sekunde an. Sie entschuldigt sich während des Gigs, falls sie nicht früh genug Sachen vom Konzert in den sozialen Netzen posten wird. Mehrere Leute im Publikum werden von ihr angesprochen, auf Einrufe wird eingegangen, sie erzählt von Instagram-Begegnungen mit Fans und redet außergewöhnlich viel. Eigentlich viel zu viel. Von den anderthalb Stunden Konzert nimmt die Musik maximal 50 Minuten Zeit ein. Der Rest ist eine Art Happening ohne Konzept und Vorbereitung, stattdessen viel mehr eine To Do-Liste a la „Was muss ich alles noch sagen, damit mich jeder mag?“. Auf dieser Liste stehen offensichtlich Reden für Feminismus, Einsatz für Gay-Communitys und das Bekennen zur Toleranz gegenüber Ausländern, weil man selbst schwarz sei. Inhalt wichtig, keine Frage. Allerdings passieren diese großen Worte häufig in zufälliger Reihenfolge und zu zufälligen Momenten, sodass nicht wirklich deutlich wird, warum genau das jetzt von Nura gesagt werden muss. Aber sie will so viel sagen. Und laufen. Von links nach rechts und zurück. Ohne Pause.
Das Konzert findet Ende September bei 17 Grad Außentemperatur in einem nicht gut klimatisierten, aber dennoch okayen mittelgroßem Raum statt. Trotzdem haben einige Besucher Kreislaufprobleme. Das geht Nura so nah, dass sie mitten im Song abbricht und die Security ruft. Ja, ist nicht verkehrt, für Hilfe zu sorgen. Wenn dann aber locker zehn Minuten dafür draufgehen, Wasserflaschen zu verteilen, Leuten sogar Eis zur Abkühlung anzubieten und sämtliche Mitarbeiter dazu aufzufordern, kostenloses Leitungswasser herauszugeben, ist das einfach unnötige und übertriebene Betreuung. Besonders ironisch dabei: nur wenige Minuten vorher ruft Nura in der gesamten Halle zum Kiffen auf. Mehrere Zuschauer holen ihre Tüten hervor, fangen an zu rauchen – das gefällt der Kontrolle im Raum verständlicherweise so gar nicht. Auch hier fragt man sich, was dieser Akt soll und wundert sich wenig, wenn dann schnell bei einigen die Lunte durchbrennt.
Der größte What the Fuck-Moment ist jedoch ein ebenfalls gut zehnminütiges Intermezzo, indem „Wer wird Millionär“- und „Jeopardy“-Sounds gespielt werden und Nura auf der Bühne als Moderatorin ein Quiz veranstaltet, bei dem zwei ihrer Fans Fragen über sie beantworten dürfen. Das ist Egozentrismus der ganz bösen Sorte. Weder lustig, noch zielführend, noch cool. Einfach nur nervig.
Doch trotzdem bleibt die Stimmung in der Halle fast durchweg gut. Die Leute filmen, was der Handyakku hergibt, singen und tanzen fleißig mit und scheinen von dem wirschen Getue wenig abgelenkt. Letztendlich scheint jeder ein bisschen mit sich selbst beschäftigt zu sein. Viele Leute sind live bei Instagram online, senden Voicenachrichten oder machen Selfies. Die Musik selbst ist nebensächlich, offensichtlich sogar für die Künstlerin. Dafür gibt es ein Spiel, bei dem sich alle im Publikum umarmen sollen. Hauptsache, es war alles dabei. Auch mit den Händen gebildete Lovezeichen, ein Moshpit und Blitzlicht vom Handy für Kuschelstimmung. Nura ist eine nette Person, die für ihre Fans mehr als am Start ist. Mit musikalischem Können und Konzertfeeling hat das aber leider nichts zu tun. Juju würde jetzt grinsen.
Und so hört sich das an:
Facebook / Instagram / Twitter
Bild von Christopher.
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.