Seinen Stil grundlegend zu verändern, ist für Fans der ersten Stunde oft einem Todesurteil gleichzusetzen. Wenn man einmal den Artist mag, dann ja wohl auch, weil er eben so klingt, wie er klingt. Manchmal ist eine Weiterentwicklung im Sound aber genau die richtige Entscheidung – für die anderen und für einen selbst. Paolo Nutini hat zwar mit seinem Debütalbum damals in den weltweiten Charts wesentlich besser performt als mit seinem aktuellen, doch von Seiten der Kritiker*innen ging es kontinuierlich nur bergauf. Sonderlich viel falsch hat der Künstler nicht gemacht, wenn man auf die Reaktionen im Publikum beim Dortmund-Konzert schaut.
Paolo Nutini ist jener Singer/Songwriter mit dem italienischen Namen, der aber aus Schottland kommt. Dank seines Papas, der aus Italien stammt, ist der Name für jemandem aus dem Land im Norden UKs aber doch eher ungewöhnlich. Weniger ungewöhnlich ist die Musik, die er 2006 im Alter von 19 auf seiner ersten LP “These Streets” präsentiert. Schlichter, meist emotionaler Gitarren-Pop, der in seiner Heimat wirklich extrem gut performt – 177 Wochen in den Albumcharts, fünfmal Platin, über 2 Millionen verkaufte Kopien weltweit – aber zumindest bei uns nicht so ganz fruchtet. Irgendwie ist man in Deutschland für den Sound noch nicht so bereit, es muss erst ein paar Jahre später ein Ed Sheeran daherkommen. Wo der aber schließlich viel zu oft vermeintlich neues Material droppt, das dann doch wieder so klingt wie das davor, einfach, um besser im Radio laufen zu können, hat Paolo eigentlich schon nach dem ersten Album keine Lust auf eine Wiederholung. Lässt er sich für “Sunny Side Up” schon drei Jahre Zeit und gibt dem Ganzen hier und da frische Anstriche, dauert es dann für Longplayer drei “Caustic Love” fünf Jahre und für den vierten und damit aktuellen “Last Night In The Backstreet” gleich acht.
Geduldsprobe für die einen, Paradies für den anderen. Paolo lässt sich weder stressen noch limitieren. Stattdessen werden stringent alle vorherrschenden Genregrenzen gesprengt. Pop, Rock, Electro, Jazz, R’n’B, Funk, Soul, Blues, Country. Gib mir alles und noch so viel mehr. Das ist mutig, experimentell, fast schon schamlos. Aber es gelingt. Wobei, nein: Es haut weg. So wie das Konzert im Dortmunder FZW, das schon Wochen vorher ausverkauft meldet. Ist der 37-jährige Künstler hierzulande immer ein bisschen der Insider-Tipp geblieben, sind schlussfolgernd auch die Shows eher rar gesät. Auch wenn er in den letzten zwei Jahren insgesamt zehn Shows in Deutschland spielte, darunter zwei in NRW, war vorher acht Jahre Sendepause. Daumen und Zehen bitte fest drücken, dass sich diese längere Abstinenz nun nicht wiederholt, denn erneut so lange auf so ein gutes Konzert warten zu müssen, wäre eine waschechte Herausforderung.
Schon vor dem offiziellen Beginn, nämlich um 19:45 Uhr gibt es mit Brockhoff einen der besonders oft gefeierten Indie-Acts der letzten Jahre. Die Künstlerin und ihre Band wirken sympathisch, sie hält süße Anmoderationen und spielt coolen 2000er-Brit-Pop mit etwas mehr Alternative-Einschlag. Das ist auf jeden Fall hörbar und nett, wiederholt sich aber schon bei der recht kurzen Länge von unter einer halben Stunde einige Male. Ein, zwei Songs sind gut, dann merkt man aber, dass sich vieles doch anhört, wie so viele andere Acts aktuell. Die zündende Idee fehlt.
Das Publikum von Paolo Nutini in Dortmund ist hipsterig und Ü30. Und international. Die Tour umfasst zwar 32 Shows in ganz Europa, einige davon sind aber auch Festivalauftritte. So kann man mehrfach auch Niederländisch und Englisch in den Gesprächen um einen herum wahrnehmen. In Deutschland ist es die zweite von insgesamt drei Shows. Fast auf die Minute genau dauert der Gig zwei Stunden. In den zwei Stunden hat man das Gefühl, mehrere Konzerte gleichzeitig zu besuchen. Das liegt zunächst an dem wirklich irrsinnigen Genre-Mix, bei dem es schon sehr überrascht, dass ein Artist das alles vereint. Aber auch die Stimme klingt so, als ob sie eher von drei unterschiedlichen Sängern kommen muss, weil sie so eine riesige Range präsentiert.
Mit einer tonalen Treffsicherheit, dass man vor Neid fast erblasst, ballert Paolo Nutini Töne raus, die wirklich nichts mit dem sanften, schmeichelnden Singer-/Songwriter-Pop seines Debüts zu tun haben. Stattdessen katapultiert der Sänger seine Töne in völlig wahnsinnige Höhen, die klingen wie eine Mischung aus Adam Lambert und Bon Scott. Das ist rockig und soulig in einem, so wie es sonst auch eine Skin bei Skunk Anansie eben in der weiblichen Variante hinkriegt. Im nächsten Track ist man dann aber wieder in tiefster Basslage zuhause, und auch das gelingt ohne hörbare Anstrengung. Dieser virtuose Stimmbänderspagat ist nix für Lagerfeuer-Gitarre. Deswegen lässt er seine Anfänge, obwohl sie die meisten kennen und lieben, fast komplett links liegen. Lediglich “Jenny Don’t Be Hasty” hat er dabei, gibt dem aber eine ganze Ladung an vollem Bandeinsatz und Rocksound. “Candy”, der Hit vom Zweitwerk, ist in der 2024-Version statt kühl und gewollt monoton eher introvertiert, traurig und intim. Das Konzert ist ein Spiel von Gegensätzen.
Selten klingt ein Act so Underground und Mainstream zugleich. In einem weißen Printshirt wirkt er nach Understatement, gleichzeitig ziemlich sexy und auch ein bisschen schüchtern. Der Prog-Rock-Anteil ist nicht zu übersehen. Sogar die oft sehr grobkörnigen, blassen Visuals auf der großen Leinwand im Hintergrund erwecken Woodstock-Feeling. “Acid Eyes”, einer der neueren Songs vom aktuellen Longplayer, hat den Titel nicht von ungefähr. Vieles auf der 19 Songs umfassenden Setlist wirkt ein wenig trippig, aber nie zu abgefahren. Natürlich geht da einiges auch mal fünf Minuten, aber zum Glück nicht fünfzehn. Die sechsköpfige Band, die hinter Paolo steht, macht ab dem ersten Ton eine sensationelle Arbeit. Da werden atmosphärische Samples abgeschossen, derbe Basslines gezockt, die Keyboarderin singt dazu eine zweite Stimme. Genauso hervorragend ist übrigens die Technik. Jedes Instrument ist einfach phänomenal abgenommen und erlaubt einen wahren Ohrgasmus.
Es folgt ein Hagel an tanzbaren Rhythmen, die den ganzen Raum erstrahlen lassen. Dabei drücken schmetternde Hooks wie in “Cherry Blossom” oder dem hymnenartigen “Iron Sky” mit so viel Energie mitten ins Gesicht, Magen und Herz, dass es beflügelt. Das ist Kino vor den Augen, aber auch im Kopf und musikalisch einfach so gut, dass es die, die die beiden letzten Alben mögen, zu 100 Prozent abholen muss. Mit “Julianne” und “Writer” gibt es Paolo aber auch mal ganz allein an der Gitarre. Einziges Manko ist dann am Ende doch ein wenig seine Experimentierfreude und sein Mut, die manchmal beide für drei, vier Songs zu stark im Vordergrund stehen und wo dann doch die griffige Melodie fehlt. Viel wagen bedeutet natürlich, dass nicht jedem und jeder alles gefallen kann, aber das ist ein Risiko, was man wirklich gut eingehen kann und sollte.
Denn wie eine große Klammer ist das Opening “Afterneath” sowie das Finale “Shine A Light” mit riesiger beleuchteter Discokugel an der Decke und Technobeat aus den Boxen so uplifting, dass einem das Highgefühl auch ganz ohne LSD bis ins Bett trägt. Paolo Nutini hat so viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als er gerade bekommt. Die Anerkennung hat er wohl von denjenigen bereits, wo es zählt. Musikfans mit offenem Geschmack halten bitte unbedingt Ausschau nach den nächsten Möglichkeiten, denn im Gesang, besser generell in der Musikalität aller Beteiligten und in der Tonqualität ist die Show in Dortmund wirklich herausragend. Großer Beifall und viele glücklich aussehende Gesichter bestätigen den Eindruck um 22:43 Uhr.
Und so hört sich das an:
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Bild von Christopher
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Das oben geschriebene kann ich nur unterstreichen! Es war ein genreübergreifendes Musikfeuerwerk eines mit einer unglaublichen Stimme und Musikalität gesegneten Künstlers. Von der ersten bis zur letzten Minute habe ich gebannt zugehört und mitgetanzt. Viele Konzerte sind berechenbar und man weiß in großen Teilen was kommt. Das war bei Paolo Nutini und seiner phantastischen Band ganz anders und das macht diesen Auftritt für mich sehr besonders.
Hi Klaus,
mega – vielen Dank für dein Feedback.
Schön, dass du auch so einen coolen Abend hattest wie ich 🙂
VLG Christopher