Bands, die sich auflösen, weil ein markantes Mitglied die Gruppe verlassen hat, lassen sich kaum zählen. Ganz besonders übel wird’s, wenn Sänger oder Sängerin sich verabschieden. Im Fall Roxette ist das Schicksal der Band dazu noch mit einem traurigen Beigeschmack versehen: Zunächst musste im April 2016 die anstehende Tour und letztendlich sogar sämtliche in der Zukunft möglichen Konzerte abgesagt werden. Der Gesundheitszustand von Marie Fredriksson ist zu kritisch – von dem Hirntumor, der 2002 diagnostiziert wurde, konnte sie sich nie vollends erholen. Die mittlerweile 60jährige genießt also nun gezwungenermaßen ihre Rollen als Mutter und Ehefrau.
Das hält ihren Bandmember Per Gessle, der nächstes Jahr zum sechsten Mal einen runden Geburtstag feiern darf, nicht davon ab, das Werk der erfolgreichsten Formation Schwedens nach ABBA fortzuführen. Fast alle Titel stammen aus seiner Feder, bei vielen war er sogar selbst am Mikro. Der Verlust ist dementsprechend zwar tragisch, bedeutet aber immerhin nicht das sofortige Aus für den Ehrenbürger von Halmstad und sein Herzensprojekt. Somit gab es dieses Jahr auf der einen Seite das erste Soloalbum, das auch einen neuen Sound entdecken ließ, aber eben auch eine Tour auf der anderen. Die läuft unter dem Namen Per Gessle’s Roxette und verspricht demnach eine Gratwanderung zwischen Solo- und Bandarbeiten.
Das E-Werk in Köln ist eine Location, über die Roxette vor wenigen Jahren noch gelacht hätten. So fand das letzte Konzert in Köln in der Lanxess Arena statt. Demnach schrumpft die Anzahl an Besuchern auf weniger als 10% – und das E-Werk ist nicht einmal ausverkauft. Kein Wunder, wenn man sich nun mit einer neuen Sängerin zufrieden geben muss – das gefällt den Fans natürlich so gar nicht.
Somit gilt: Erwartungen herunterschrauben und sich einfach mal auf was Neues einlassen. Pünktlich um 20h startet der vermutlich beste Supportact, den es 2018 auf einem Popkonzert zu sehen gab: der noch unbekannte Engländer Lee MacDougall macht zwar musikalisch „nur“ angenehmen Singer/Songwriter-Pop à la Ed Sheeran – das allein wäre natürlich heutzutage keinen einzigen Satz mehr wert, so überfrachtet ist das Genre. Allerdings schafft es der Sänger persönliche Geschichten in angenehme Melodien zu hüllen und das Ganze mit tollem Akustikgitarrenspiel zu unterlegen. Zwischen den Stücken beweist Lee MacDougall, dass er eher Comedian werden sollte und haut pausenlos wortwitzige Stories raus, in denen er sich und seine Erlebnisse in Deutschland vorstellt. Sein gar nicht so schlechtes, aber trotzdem mittelprächtiges Deutsch haben ihm schon das eine oder andere Mal in peinliche Situationen gebracht. So erzählt er locker über peinliche Momente in Musikgeschäften zum Thema „Ständer“ (für Gitarren natürlich) oder wie seltsam er es findet, dass Deutsche vor dem Wort „geil“ gerne Tiernamen wählen. Er kreiert spontan das Wort „meerschweinchengeil“ und hat spätestens bei seinem Mashup aus Gorillaz‘ „Clint Eastwood“ und deutschen Raps von Marteria, den Fanta 4 und Falco das gesamte Publikum auf seiner Seite. Solch einen frenetischen Applaus erhält selten eine Vorband.
Um 21:03 steht dann aber der Headliner auf der Bühne. Mit acht Personen ist die kleine Bühne gut gefüllt. Drums, Keys, Bass und gleich drei Gitarristen, einschließlich Per – alle geschätzt über 50 und männlich. Abgerundet wird die Stage durch zwei etwas jüngere Backgroundladies, wovon eine sich auch als Violinistin präsentiert und mehrere Titel mit Percussions auffüllt – die andere hingegen ist Pers Ersatz für Marie, Helena Josefsson. Die Blicke sind kritisch. Kann ein Roxette-Konzert ohne die markante Rockstimme einer Marie, die immer mit gefühlvollen Passagen glänzte, funktionieren? Hat eine Helena Josefsson nur in Ansätzen eine Chance? Die Antwort kann klarer nicht ausfallen: JA, absolut!
Das gesamte Konzept der Show geht schon nach wenigen Sekunden gelungen auf. Es wird nicht probiert, ein Roxette-Konzert 1:1 wiederaufzuführen. Stattdessen werden bekannte Elemente beibehalten und mit neuen aufgestockt. Natürlich singt Per weiterhin Klassiker wie „The Look“, „Joyride“ (seht HIER einen Ausschnitt auf unserem Instagram-Profil) oder „How Do You Do“ und tut dies immer noch tonal genauso gut wie vor 20 Jahren oder mehr. Zusätzlich wagt er sich nun an einzelne Passagen aus anderen Roxette-Hits. Bei „It Must Have Been Love“, „Milk And Toast And Honey“ oder „Crash! Boom! Bang!” greift er als erster ans Mikro, singt Strophe und Refrain in einer ihm angepassten Tonart und gibt anschließend an Helena ab. Diese singt im Vergleich zu Marie weniger rockig, dafür mehr soulig und ein wenig verträumt. Ihre Alt-Tonlage, die trotzdem oftmals überraschende Höhen annimmt, gibt den Songs eine individuelle Note – ein Aspekt, der ganz besonders hervorzuheben ist, da Helena nicht einmal versucht, Marie nachzumachen und stattdessen stets eigene Phrasierungen wählt und hier und da dem Titel etwas hervorzulocken weiß, was vorher eher beiläufig blieb. Dementsprechend besitzen viele Lieder ein neues Gewand und wurden neu instrumentiert und arrangiert. Gerade bei „It Must Have Been Love“, „Listen To Your Heart“ und „Crash! Boom! Bang!” sind intensive Schauer und richtige Gänsehautmomente spürbar. Das passiert selten und verdient Hochachtung. Auch die zweistimmigen Stellen zwischen beiden Sängern sind schön harmonisiert. Einziger Wermutstropfen: „Sleeping In My Car“ fehlt. Womöglich einfach nicht ihr Song!? Der Rest liest sich aber wie eine Best of-Scheibe: „Spending My Time“, „The Big L.“, „Opportunity Nox“, „Dangerous“, „Dressed For Success“ – alles dabei.
Auf Showelemente wird gewohnt verzichtet. Eine große Leinwand hüllt die Songs in entsprechende Farben, ansonsten darf man sich auf die Musik konzentrieren. Drei Solosongs von Gessle reihen sich nahtlos ins Gesamtbild ein und geben kleine Impulse, um Neues zu entdecken. All diese überraschenden Momente fügen sich zu einem überragenden 110minuten langen und 20 Tracks starken Konzerterlebnis zusammen, das auch kritische Hardcore-Roxette-Fans zufrieden stellen sollte. Ja, eine misstrauische Haltung hatten wir wohl alle. Wenn aber eine grandiose Band spielt, bei der jeder Musiker zu Recht sein Solo bekommt, die Setlist kaum Wünsche offen lässt und man sympathischen Menschen zusieht, die auch nach Jahrzehnten noch Freude an ihren Hits empfinden, dann kann man von einem perfekten Abend sprechen und sich auf baldige Gigs freuen. Und immer wieder ist man überrascht, wie viele Songs man eigentlich von dem guten Schweden so kennt. Chapeau!
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Foto von Christopher.
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