Als das neue Jahrtausend vor knapp 20 Jahren eingeleitet wurde, prophezeiten viele das Ende der Welt. So bedeutsam, so unvorstellbar wirkte der Schritt in ein neues Millenium. Obwohl es dann doch nicht ganz so abrupt zuende ging, hat sich die Lage mittlerweile in vielen Bereichen zugespitzt und so fühlt sich der Transit ins dritte Jahrzehnt dieses Milleniums dann sogar für Freund*innen von Fakten wie ein beängstigender Schritt an. Inmitten dieser unheilvollen Szenerie erhob sich in den vergangenen Jahren eine immer lauter werdende Stimme aus Atlanta: Mit einem unwirklichen Konglomerat aus Soul und Industrial stellt sich das Quartett Algiers an die Spitze der Rebellion, ist Teil der Bewegung und gleichermaßen bestechend ehrlicher Beobachter. Spätestens seit dem lautstarken 2017er Erfolg “The Underside Of Power” hat sich der Geheimtipp zum künstlerischen Sprachrohr entwickelt. Mit “There Is No Year” nun der Übergang in eine neue Dekade, der Sound dezent düsterer, elektrischer, bedrohlicher. Die emotionale Haltung hängt zerfetzt zwischen Resignation und Rebellion, selbst fürs Schreien scheint die Lage mittlerweile zu ausweglos.
Der Rattenfänger von Atlanta
Das größte Kunstwerk, das “There Is No Year” vollbringt, ist wohl die Vereinigung von musikalischer Imposanz und gezielter Schlichtheit. An den zehn Songs klebt kein Gramm Fett, von unnötigem Poser- oder Mackertum ist ebenfalls keine Spur. Um dem epischen Gedicht “Misophonia“, das Sänger und Multiinstrumentalist Franklin James Fisher in den letzten Jahren verfasst hat und das als textliche Grundlage dient, nun aber auch musikalisch gerecht zu werden, entwickelt das Album über die gesamte Spielzeit Soundtrack würdige Größe. Das beginnt schon mit dem galoppierenden Opener und Titeltrack, der zwischen Sampler-Fetzen, düsteren Bässen und dem antreibenden Revolutionsgestus Fishers zerrissen wird. Überhaupt Fisher: Diese Naturgewalt von Sänger scheint bei den Worten “We are dancing on the fire, la la la” selbst zu Tode betrübt (“Hour of the Furnaces”), spricht der Hörer*innenschaft mal direkt ins Ohr (“Losing is Ours”), mimt aber auch weiterhin den souligen Entertainer für die Tanzflächen der Welt (“Chaka”). Den endgültigen Aufschrei, das Tosen und Wüten überlässt er jetzt aber seinen Mitstreitern.
Urbane Grandezza
Obwohl es die Algiers schon immer zwischen den beiden Polen Soul und Industrial hin- und hergezogen hatte, klang das bisher noch nie so schizophren wie auf “There Is No Year”. Da sprintet “Occupied” noch voller masochistischer Vorfreude in die finsteren Schichten aus Bässen, Rhythmen und Riffs hinein, damit “Chaka” einige Bläser durch den Fleischwolf drehen kann, während sich Bässe in die irre Ekstase spielen und gellende Störgeräusche über allem kreischen – und dann unerwartet abrupt wieder für Fisher Platz gemacht wird. Die Rhythmussektion Ryan Mahan and Matt Tong leistet gerade bei “Wait for the Sound” grandiose Arbeit, wenn jeder stoische Schlag einem Schritt durch eine post-apokalyptische Kulisse gleicht, aber auch der eigentliche Closer “Nothing Bloomed” entfaltet, beginnend mit einem einzelnen Klavier schließlich bedrohlich brummende Sphären.
All die hochgradig politischen Beweggründe und Texte, die “There Is No Year” auch in diesem Bezug auf eine ganz eigene Qualitätsstufe stellen, machen dieses Album schließlich zu einem Gesamtkunstwerk. Aber auch ganz ohne Vorkenntnisse oder Textverständnis kommen die Algiers hier noch mehr als bei den Vorgängern ihrem Ruf als revolutionärster Rockact der Stunde nach. Auch wenn die neue Dekade nicht gerade friedlich und zuversichtlich beginnt; musikalisch legen die Algiers die Messlatte direkt ganz nach oben.
Das Album “There Is No Year” kannst du hier kaufen.*
Und so hört sich das an:
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Algiers live 2020:
- 14.02. Club Volta, Köln
- 15.02. Club Manufaktur, Schorndorf
- 17.02. Zoom, Frankfurt
- 18.02. Beatpol, Dresden
- 22.02. Flex, Wien (AT)
- 24.02. Strom, München
- 21.04. Knust, Hamburg
- 27.04. Lido, Berlin
Rechte am Albumcover liegen bei Matador.
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