Um all die Regler, die Boston Manor für ihr neuestes Werk betätigt haben, gleichzeitig zu drehen, müsste man schon mindestens ein Oktopus sein. Was auf “Glue” nämlich an Spielfreude und Querverweisen verarbeitet wird, hat im Kern nur sehr wenig mit den Vorgängern “Welcome to the Neighborhood” und “Be Nothing.” gemein. Laut Sänger Henry Cox führe die Reise vom Melodie getränkten Pop-Punk zum Genre-Wände einreißenden Ungetüm das Quintett aber endlich dahin, wo sie seit Jahren hinwollten. Für Fans womöglich eine kleine Zerreißprobe, dem narrativen Kern um den Klimawandel, Systemkritik und toxischer Männlichkeit kommt die wuchtige Neuausrichtung aber definitiv zugute.
Tiefe Finsternis, aber nie farblos
Trotz einer einheiltich düsteren Atmosphäre reißen Boston Manor ihren Hörer*innen den roten Faden mit jedem neuen Soundspagat wieder aus den Händen. Schon vor Albumrelease offenbarte das Guckloch “Everything Is Ordinary” einen Blick in das irre Laboratorium “Glue”. Hier gluckerten verzerrte Stimmen der Marke 00er Electro-Emo, unverfälschter Garage-Noise und Linkin-Park-Samples in einem schäumenden Kessel. Wo das Quintett zuvor häufig recht generisch und glatt produziert gewirkt hatte, lassen genau solche knarzenden Momente aufhorchen. Und obwohl “Glue” insbesondere im wüsten “You, Me & The Class War” und dem Metalcore-Brocken “Monolith” weitere auf Lager hat, bleibt es nicht bei roher Energie. Die geradlinigeren Auswüchse wie “Terrible Love”, “Playing God” oder “Brand New Kids” werden schließlich von den experimentierfreudigsten Stücke der Platte an die Hand genommen – die Reise geht ins Ungewisse.
Da braut sich etwas zusammen
Immer dann wenn Cox’ Stimme in wüstes Schreien ausbricht, knallt die Band die schiere Wut vor die Wand. In “Only1” klingt das, als wären Nothing But Thieves in einen Metalcore-Brunnen gefallen, “1’s & 0’s” vertraut lieber auf irre Scratches. Doch gerade wenn Cox durch einen dichten Instrumentennebel mit zerbrechlicher Intimität beklemmende Bekenntnisse kundtut, zeigen Boston Manor ihre enorme Weiterentwicklung auf. Das geschieht insbesondere im verhuschten “On A High Ledge”, aber auch im bedrückenden “Stuck In The Mud”. Gerade weil sich die Stücke entgegen der klassischen Formel nicht in einem bombastischen Finale entladen, gemahnt “Glue” der Kraft der Auslassung. Was sich hinter der tristen Fassade des Albumcovers an emotionaler Sprengkraft verbirgt, können schon die ersten Durchläufe der Platte beweisen. Mit Siebenmeilenstiefeln legten Boston Manor so eine große Strecke in ihrer Künstlerwerdung zurück. Wohin das führen könnte? Zumindest zu den spannendsten Rock-Alben des Jahres.
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Rechte am Albumcover liegen bei Pure Noise Records.
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