Wer macht sich heutzutage eigentlich noch wirklich Gedanken um seine Künstlerfigur? Einst waren Madonna und Michael Jackson die Vorreiter, wieder aufgenommen hat es Lady GaGa und gegenwärtig fällt einem eigentlich nur Billie Eilish ein. Doch auch in deutschsprachigen Regionen gibt es Musiker, die sich nicht nur durch ihre Songs, sondern eben auch durch ihr Äußeres definieren. Conchita Wurst hat das erkannt und es nahezu auf die Spitze getrieben.
Das muss man erstmal nachmachen. Da entscheidet sich Tom Neuwirth 2011 dazu, fortan öffentlich als Conchita Wurst aufzutreten. Eine weibliche Figur mit Rundungen, Abendkleidern, schillernden Perücken und – einem Bart! Bitte? Was soll das denn? Empörung! Zugegeben: man kann sich wirklich kaum davon freisprechen, dass man erstmal ein wenig verwirrt reagiert hat und damit genau das Gewollte ausgelöst wurde. Doch spätestens mit dem Gewinn des Eurovision Song Contest im Jahr 2014 war klar, dass Conchita Wurst nicht eine der untalentierten Dragqueens ist, die schmutzige Witze reißt, ein wenig hin- und herläuft und dabei schiefe Töne singt. Stattdessen gab es mit „Rise Like A Phoenix“ einen bombastischen Auftritt, der neben einer sehr starken Ausdrucksfähigkeit und einem grandios komponierten Song auch außerordentlich guten Gesang bot.
Und dann war sie in aller Munde. Ob man es wollte oder nicht, aber man hatte eine Meinung. Conchita wurde mit ihrem „We are unstopable“-Motto zum Sprachrohr der LGBTQ-Community, bekam Zuspruch von vielen politischen Seiten und hielt unzählige Mobbingangriffe aus. Tatsächlich outete ein enger Bekannter von ihr sie sogar noch als HIV-positiv – selbst das bremste sie nur kurzzeitig aus. Stattdessen gab es mit dem Debütalbum „Conchita“ dickaufgetragenen Breitband-Pop, der einige Ohrwürmer und Powerballaden mit genügend passendem Kitsch und Pathos verband und ein noch besseres Coverwerk namens „From Vienna With Love“. Der mit den Wienern Symphonikern eingespielte Longplayer zeigt, dass auch Ernst geht und sich anspruchsvoller Gesang plus schlichtweg perfekte Arrangements keinesfalls in dem Conchita-Universum gegenseitig ausschließen.
Aber das Alles reicht noch nicht. Tom Neuwirth hat erkannt, dass er als Conchita alles erreicht hat, was er erreichen wollte und eigentlich noch mehr. Somit beschließt Tom die Figur „Conchita“ sterben zu lassen. Peu à peu wird sich seit nun fast zwei Jahren immer mehr von typisch weiblichen Attributen verabschiedet. Ab und an blitzen sie noch auf, doch die optischen Züge, die im Mainstream eher mit Männern verbunden werden, dominieren – ab sofort gibt es ein Sixpack, Lack und Leder sowie einen Kurzhaarschnitt. Allein die Metamorphose bei Instagram zu beobachten, gleicht schon einem Gang ins Museum. Wo gibt es noch so viel durchdachten Aufwand?
Lange Vorrede, die in dieser Rezension jedoch durchaus Sinn macht. Nun steht also mit Truth Over Magnitude der dritte Longplayer in den Startlöchern. Erstmalig steht in dicken Lettern nur noch Wurst an der Seite. Einst war man Conchita Wurst, dann Conchita und nun eben Wurst. Was zunächst platt klingt, ist aber eben bei genauerer Beobachtung doch wesentlich vielschichtiger. Genauso wenig zufällig lauten die Initialen des Albumtitels T.O.M., sodass also davon ausgegangen werden darf, dass wir mehr Tom Neuwirth sehen und hören als je zuvor.
Selbstverständlich kann eine Wurst-Platte nicht wie eine Conchita-Platte klingen – und tatsächlich passiert besonders soundtechnisch ein radikaler Schnitt. Sowohl Pop-Sounds mit Radioniveau als auch Orchestertöne müssen weichen, denn jetzt gibt es Electro. Ja, wirklich Electro. Zwar in allen möglichen Facetten, aber im Herzen bleibt es Electro. Ab und zu sickert dann doch eine eingängige Melodie durch, allerdings nur wohl dosiert.
Bereits seit März steht die Vorabsingle „Trash All The Glam“ auf sämtlichen Portalen und präsentiert gute vier Minuten ohne Refrain, dafür mit aufbauenden Soundwaben. Gerade in Kombination mit dem morbiden Video sitzt das gewaltig. Conchita klingt zwar in der Stimme weiterhin bekannt, aber um die Stimme herum lauern Spielereien. Ein Opening wie ein Paukenschlag und eine logische Konsequenz, bei der Songtitel und Inhalt kaum besser harmonieren können. Weg mit dem glamourösen Kostüm, her mit der Essenz.
Ganz so radikal geht es dann nicht mehr weiter. Letztendlich bleibt „Trash All The Glam“ der einzige Anwärter, der nur nach mehreren Anläufen eine Struktur erkennen lässt. Stattdessen tauchen schon ab Song 2 hier und da ein paar catchy Lines durch. In die gesamte Produktion der Platte wurde zum wiederholten Male wirklich richtig gute Arbeit gesteckt. Conchita bleibt beim Songschreiben außenvor, hat aber dennoch genügend ihre Finger im Spiel, um ihrem regionalen Team aus Österreich zu sagen, wo es langgeht.
Leider teilt sich das Album am Ende in zwei Hälften: einer wirklich gelungenen, starken und mitreißenden ersten und einer fast wiederholenden, wenig sagenden zweiten. Wie eine Zäsur ist nach Track Sechs eigentlich alles durch. Dass Electro sich hervorragend mit Pop und R’n’B verbinden lässt, zeigt das direkt sitzende „To The Beat“, das ganz klar der beste Track des Albums ist und einfach nur bockt. Auch das bereits als kleiner Indie-Stomper-Hit etablierte „Hit Me“ darf sich hören lassen und motiviert zum Tanzen und Mitsingen. In „Can’t Come Back“ wird zusätzlich textlich thematisiert, dass man sich von früheren Mustern verabschiedet. Dies ist in mehreren Songs zu finden, neben Themen wie Ausgrenzung, Toleranz, Selbstbewusstsein und innere Kraft. Wurst beginnt in „Can’t Come Back“ in den untersten Registern der Stimme und zeigt Wandelbarkeit, die fesselt. „See Me Now“ als Halbballade mit Drumcomputer klingt wie eine kommerzielle Form von James Blake. Auch das klappt.
Doch dann bleibt nicht mehr viel. Schrauben die ersten Titel die Erwartungen kontinuierlich immer ein Stückchen höher, verliert sich „Resign“ besonders in seinem penetranten Gesang und seiner Überlänge. Auch das Staccato-artige, redundante „Under The Gun“ will mehr, als es de facto ist. Die gesamte zweite Hälfte legt zu viel wert aufs Sounddesign statt auf Melodien – letztendlich steht aber immer noch Conchita Wurst auf der Platte und nicht Björk. Zum Finale kriegt Truth Over Magnitude dann doch kurzzeitig die Kurve. „SIX“ zaubert intime Atmosphäre mit scharf-rhythmischen Klängen, überspannt nur ein wenig die Gesangsakrobatik. Mit dem Titelsong als Abgang gibt es im Mittelteil einen längst überfällig schmetternden Schwall an Energie. Hier ist das Instrumental um Längen der spannendste Aspekt.
Conchita Wurst schafft es wirklich sich neu zu erfinden und immer wieder andere Aspekte ihres (oder sollten wir nun „seines“ sagen?) Könnens zu zeigen. Das gebührt viel Respekt und darf mit Spannung beobachtet werden. Truth Over Magnitude unterstützt dieses Treiben mit dem passenden Soundtrack. Aufregend, wenn auch nicht immer ganz gelungen, allerdings trotzdem noch überdurchschnittlich. Am Ende wird aber den ständigen Hatern ordentlich ins Gesicht gekotzt und gezeigt, dass Talent keinesfalls an ein Geschlecht gebunden ist und man immer mal wieder mit Konventionen und Zwangskorsetten brechen sollte.
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