Jasmin Wagner – Von Herzen

Trends verlaufen häufig in Wellenform. Zunächst gehen alle drauf steil, dann flacht es ab und gilt irgendwie als ungeil und peinlich – doch mit ein bisschen zeitlichem Abstand hat es diesen gewissen Retrocharme. Exakt das lässt sich bei unzähligen 90s- und 2000s-Acts feststellen. Backstreet Boys, Spice Girls, No Angels, Kelly Family. Eigentlich gehört es zum guten Ton, zumindest die großen Hits von vorne bis hinten mitsingen zu können. Die einen machen es beschämt unter Alkoholeinfluss, die anderen mit Pride hinterm Steuer, unter der Dusche und überall.

Musik mit diesem unverkennbaren Sound einer gewissen Zeit wird eben zum Kult einer Generation. Und kaum eine Künstlerin hat wohl mehr dieses oft inflationär benutzte Wort verdient als Blümchen. Jedes Spät-80er- oder Früh-90er-Kind hatte die Alben „Herzfrequenz“ oder „Verliebt“ im Regal stehen – die ganz Coolen hatten beide, und die wahren Fans haben sie heute noch.

„Herz an Herz“, „Kleiner Satellit (Piep Piep)“, „Boomerang“, „Du und ich“, „Ich bin wieder hier“, „Nur geträumt“, „Gib mir noch Zeit“, „Heut ist mein Tag“, „Verrückte Jungs“ – schon das bloße Erwähnen der Songtitel löst Flashbacks und Ohrwürmer aus. Jasmin Wagner, wie Blümchen ursprünglich heißt, war bei ihrem ersten Hit, der direkt Platz 4 der Singlecharts belegte und Gold einsackte, gerade einmal 15 Jahre alt. Fast kein Song verfehlte die Top 30, fünf enterten die Top 10, bei den Alben sah es ähnlich gut aus. Doch welche heranreifende Frau möchte mit 20 noch Blümchen genannt werden? Welche heranreifende Frau will Anfang der 2000er noch Happy Hardcore-Musik machen? Ebendarum war nach fünf äußerst erfolgreichen und turbulenten Jahren, in denen sogar der weltweite Markt erobert probiert wurde, auch mal Schluss mit dem Spaßprojekt.

Jasmin Wagner trat fortan unter ihrem bürgerlichen Namen auf und machte lässigen Deutsch-Pop. Das wollten konsequenterweise weder Fans noch neue Zuhörer*innen in den Player werfen und so ging es für die mittlerweile 41-jährige Hamburgerin stattdessen auf Theaterbühnen oder zu diversen TV-Projekten. Einen Auftritt als Blümchen in Russland, der sogar ordentlich Kohle eingebracht hätte, wurde 2011 von ihr abgelehnt. 2019 passierte allerdings das fast schon Unglaubliche. 90s-Fans trauten ihren Ohren kaum. Doch Totgesagte leben längen und so gab es einerseits eine neue Single als Blümchen und sogar über 30 Liveauftritte auf sämtlichen 90s-Liveshows in Deutschland oder auf Mallorca. Zwar konnte weder der Coversong „Computerliebe“, im Original von Paso Doble, in die Charts einsteigen noch eine neue Version von „Herz an Herz“, doch who cares – She’s back. Sie ist wieder hier. Bei dir.

Weitere zwei Jahre vergehen ins Land. Es muss erst Juli 2021 werden, bis Jasmin Wagner eine LP mit ausschließlich neuen Songs veröffentlicht. Verpackt unter dem schon automatisch anrührenden Namen Von Herzen. Das war nun viel, aber auch nötiges Vorgeplänkel. Denn, nochmal: Es. Gibt. Ein. Neues. Album. Von. Blümchen. Zumindest quasi.

Zwölf Songs warten darauf von den Blümchen-Babes entdeckt zu werden. Denn Hand aufs Herz: Wer interessiert sich für die Musik, der nicht schon mindestens 30 Jahre alt ist und damals in seinem Kinderzimmer einen Rave veranstaltet hat? Von Herzen läuft unter dem Genre „Electro-Schlager“. Das trifft es auch ganz gut. Allerdings ist die Zielgruppe, die sich im Bull’s Eye befindet höchstens mit einem Pfeil getroffen statt mit allen dreien.

Schön ist, dass Jasmin Wagner sich traut zumindest oberflächlich zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Dass da nämlich Bedarf herrscht, beweist die frische Kollaboration mit Trendsetter FiNCH namens „Herzalarm“, die sich nicht dafür schämt, nach alten Casio-Keyboard-Sounds zu klingen und sich dafür Beifall, Klicks und eine Top-Ten-Platzierung als Dank gönnt. Das macht Von Herzen jedoch nur im Grundgerüst. Deutsch, poppig, mit einer dreistelligen BPM-Zahl, eingängig. Allerdings ist die Gute eben über 40 und nicht mehr 15. Man probiert aber sowohl pubertierende Teenager als auch Ü40-People abzuholen. Wenn ein Restaurant Chinesisch, Italienisch und Griechisch anbietet, ist das bekanntlich auch ein Laden zum Ignorieren. Für ein Schlager-Album ist Von Herzen nämlich nicht mitreißend genug, für 90s-Fans nicht genug Retro im Sound und für den Ballermann fehlt es dem Ganzen einfach an Stupidität.

Viele Songs funktionieren nach einem sehr ähnlichen Schema. Äußerst einfache Melodien, die oft wenig Töne umfassen, und Refrains, die ständig die gleichen Zeilen wiederholen und ziemlich unkreative Reime hervorbringen. Beispiele: „Gold – ein Herz aus Gold, hab ich immer schon gewollt – Gold, Baby, du bist Gold“ („Gold“), „Komm spring, spring, spring, spring in mein Herz, vergiss, ‚giss, ‚giss all deinen Schmerz“ („Spring in mein Herz“), „Nein, nein, nein, nein, nein, du bist nicht allein, ‚lein, ‚lein, ‚lein, ‚lein“ („Du bist nicht allein“). Das war bei Blümchen in den 90ern nicht viel anders. Allerdings war man da eben klein und naiv und wurde ordentlich von den Technobeats gegen die Wand gebumst. Und wo sind die jetzt?

Lyrisch geht bis auf die Hommage an die Heimat („Hamburg im Sinn“) wirklich nichts über „Ich liebe dich so sehr“ bzw. „Bleib bitte so, wie du bist, du bist echt ok“ hinaus. Ist verzeihbar, wenn es wenigstens melodisch und in den Klangteppichen dann abholen würde. Tut’s kaum. Doch bevor ihr das Blümchen endgültig verwelken seht, kommt die Rettung um die Ecke. Denn drei Tracks machen tatsächlich alles richtig.

Da wäre zum einen die Überkitsch-Halbballade „Lass los“, die so Rosa-Brillen-Like agiert, dass vor lauter Rührung keine bunten Pillen mit Smileys mehr für gute Laune benötigt werden. Noch besser macht es die 2000er-Trance-Hymne „Regentropfen“, die sehr viel Old School inne trägt, aber auch endlich mal im Melodiebogen und in den Bässen volle Pulle loswummert. Gib mir mehr! Das Highlight ist jedoch zweifelsohne die kleine Verneigung vor sich selbst. Das kleine Auf-Die-Eigene-Schulter-Klopfen namens „Blümchensong“. Das sollte man einfach selbst entdecken. Meine Herzfrequenz zeigt steile Kurven.

Man sollte bei diesem zuckersüßen und liebenswürdigen Erguss nicht zu stark ins Gericht gehen. Jasmin Wagner hat eine Platte aufgenommen, die heißt Von Herzen. Die ist definitiv nicht gut und an einigen Stellen auch arg billig, an anderen dafür aber wie Ahoj Brause-Waldmeister auf der Zunge.

Das Album kannst du hier (Vinyl) oder hier (Digital) kaufen.*

Und so hört sich das an:

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Die Rechte fürs Cover liegen bei MIRABELLA / THE ORCHARD / SONY.

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