Das elendige Thema: Welcher Künstler hat den Erfolg, der ihm wirklich zusteht? Und weswegen steht einem Künstler überhaupt Erfolg zu? Weil er Songs veröffentlicht, die zu Hits werden? Weil er diese selbstgeschrieben hat? Weil er viele Instrumente spielen kann? Weil er gesanglich besser ist als die meisten anderen? Weil er gut live performt? Weil er für einen ganz besonderen Individualismus steht? Wahrscheinlich macht es die Kombination aus allem. Dann bleiben aber bei vielen Künstlern andere Fragen offen, nämlich warum manche besonders großen Erfolg haben, obwohl sie kaum einen der Aspekte erfüllen – und manche quasi jeden erfüllen und kaum einer das wirklich wahrnimmt.
Zur zweiten Kategorie gehört womöglich niemand eindeutiger als Britin Jessie J, die vor zwei Monaten ihren Dreißigsten feiern durfte. Natürlich ist Jessie J kein unbeschriebenes Blatt – wirkliche Hits fallen aber den wenigsten ein. Man muss meist die Hooks vorsingen, damit der Groschen fällt. Dabei gelang ihr mit „Price Tag“ (verkaufte sich weltweit über 6 Mio. mal), „Wild“, „Bang Bang“ (4,6 Mio. mal) und „Masterpiece“ bereits viermal in Deutschland eine Top 20-Platzierung. „Domino“ war einer von drei Nr. 1-Hits in UK und fuhr ebenso über 2 Mio. Verkäufe ein. Und warum ist die Alte dann nicht weltweit bekannt? Gute Frage. Das ist irgendein Phänomen, was keiner so richtig beantworten kann. Leider ein sehr trauriges Phänomen zudem, da das Arbeitstier zwischen 2011 und 2014 drei Alben veröffentlicht hat – das Debüt „Who You Are“ konnte knapp 2,2 Mio. Einheiten über den Ladentisch bringen, der Nachfolger „Alive“ gerade einmal 100.000 (das sind weniger als 5% des Vorgängers) – und über die Zahl 60.000 bei „Sweet Talker“ legen wir besser den Mantel des Schweigens.
Aber wie zur Hölle kann das nun sein? Solche Dinge passieren immer dann, wenn sich Plattenfirma und Künstler nicht so ganz einig sind, wo es hingehen soll. Bei der ersten Single „Do It Like A Dude“ wurde Jessie J noch als die neue Lady GaGa gehandelt und mit durchgeknallten Videos inklusive viel Vocodereffekten ins Schrille manövriert, wo sie sich sehr schnell nicht wohl fühlte. Was nämlich die Wenigsten wissen: Jessie J ist wahrscheinlich technisch die beste Popsängerin weltweit! Wer jetzt Fragezeichen in seinem Kopf hat, darf sich gern davon überzeugen lassen, indem man gern mal ein paar Auftritte anschaut, wo das Ausnahmetalent Songs von Whitney Houston, Céline Dion, Chaka Khan, Prince, Michael Jackson oder sonst wem live covert – es ist egal, wie gut das Original ist: Jessie J kann das genauso oder besser. Und genau aus dem Grund reichen einfach keine Popsongs, die hin und wieder in die R’n’B-Ecke schauen, ein bisschen Dancefloor für die Teeniedisco liefern und mal die E-Gitarre zocken lassen. Das wird einer Jessica Ellen Cornish eben nicht gerecht.
Deswegen war es also nach einem Tiefpunkt, der kommerziell tiefer kaum geht (und ja, inhaltlich konnten Album zwei und drei auch nur wenige Hits liefern), an der Zeit, mal durchzuatmen und zu überlegen, was man eigentlich will. Erst einmal ausführlich touren, Nachwuchstalente coachen und Songs schreiben – ohne Drang im Nacken, den nächsten „Price Tag“ zu suchen. Das hat nun fast vier Jahre gedauert. Eigentlich das absolute Knock-out für jemanden, der sich nicht mal mehr auf dem absteigenden, sondern abbrechenden Ast befindet – aber Jessie J hat ordentlich auf Erwartungen geschissen und über ein Jahr lang Schritt für Schritt ihr Album angeteasert, vier Happen vorher in die Runde geworfen und gegenwärtig ihr Herzstück veröffentlicht.
„R.O.S.E.“ ist der Vorname ihrer Mutter und deutet erste private Einblicke an. Das Ganze wird in Lettern präsentiert, da das 16 Tracks umfassende Konzeptalbum in vier EPs unterteilt ist, die jeweils ein Schlagwort präsentieren: Realisations. Obsessions. Sex. Empowerment. Unterteilt in vier Songs zu jedem Thema. Ja, Konzeptalben sind nicht neu und funktionieren auch gehäuft nur auf halber Strecke. Das Negative zuerst: Leider gelingt es Jessie J nicht jedem ihrer vier großen Rubriken mit jedem Song gerecht zu werden und natürlich haben sich drei Songs auf das Album geschlichen, die hätten fehlen dürfen. Das Positive wiederum: Ihr gelingt eine unglaublich runde Stimmung zu kreieren, die in sich geschlossen klingt, wirklich persönlich und authentisch wirkt, verpackt in Songs, die stets auf Stimme oder auf Erzählung abzielen, nicht einmal probieren Hit zu sein und stattdessen in der ersten Hälfte des Jahres 2018 einfach das Spannendste im kommerziellen Popbereich darstellen, was so drin ist.
Die vier Vorabsingles „Real Deal“, „Think About That“, „Not My Ex“ und „Queen“ zeigten schon, dass die Künstlerin es ihren Fans wirklich nicht leichtmachen will. Sommerliche Poprhythmen wurden gegen tiefe Soul- und Hip-Hop-Beats getauscht. Eine catchy Melodie muss weichen, dafür werden Botschaften transportiert. Wer hier nur einmal hereinhört, wird gnadenlos scheitern – wer sich wiederum probiert, auf das einzulassen, wofür Jessie J nun steht und was sie glaubwürdig verkaufen möchte, kann aber gute bis sehr gute Nummern entdecken, die von Enttäuschungen von ehemaligen Partnern erzählen, von dem Gefühl berichten, gezwungen auf eine Bühne zu müssen oder sich vor seinem Körper zu ekeln.
Genau da setzen auch die zwölf restlichen Songs an, die entdeckt werden wollen und müssen. Kaum ein Song zündet vor dem vierten Durchgang – das liegt an Strukturen, die brechen, Hooks, die unerwartet kommen, gepackt in R’n’B- („Petty“), Funk- („Dangerous“), Lounge- („Four Letter Word“), Swing- („Glory“) und Jazz-Momenten („Someone’s Lady“). Fast schon eine Art Best Of der kreativsten Momente einer Mariah Carey, Kelly Clarkson und Christina Aguilera, aber mit der ganz besonderen Finesse an Anspruch. Es ist schwer, die besten Tipps zu nennen, da nach so kurzer Zeit noch nicht alle Ebenen durchforstet sein können und es echt Spaß macht, für sich seine Favoriten zu finden. Wer aber Inhaltspunkte sucht, ist mit dem zum Niederknien guten „Not My Ex“, dem fast schon angst-einflößend persönlichen „Think About That“, dem Ohrwurm „Dangerous“, einem Old Schooligen „Dopamine“ oder dem divenhaften „Someone’s Lady“ wohl gut bedient und kann gucken, ob er da schon zu wenig Eingängigkeit und Aufregung verspürt – oder eben angefixt ist.
Jessie J setzt alles auf eine Karte, auf der ganz fett „Ich“ steht. Selbst wenn man den einen oder anderen Song ihrer bisherigen Karriere gut fand, wusste man dennoch nie so recht, wie diese ganzen Ungereimtheiten aus einer Person kommen können. Wie will sie eigentlich aussehen? Welche Musik will sie machen? Die voreingenommenen Meinungen der Vergangenheit schubsen wir alle zur Seite und lauschen dem, was die Sängerin uns nun auf „R.O.S.E.“ zu erzählen hat. Das wird viele Fans kosten, da wird kein einziger Track auf der nächsten Party oder im Radio laufen – aber das war bei dem „Lemonade“-Album von Beyoncé das Gleiche und es war musikalisch ihre Glanzleistung. Wer das hier ehrt, hat’s verstanden und der Rest kann es halt lassen und eben bei Spotify eine Chartsplayliste anklicken. Your choice!
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