Aufgeben, Ängste zeigen, Resignieren – allesamt Begriffe, die in unserer Gesellschaft insbesondere negativ konnotiert sind. Empowerment ist schließlich angesagt, im Social-Media-Zeitalter mehr denn je. Und doch ist im queerfeministischen Kontext unter dem Begriff “Radical Softness” eine Gegenbewegung zu beobachten, die sich auf die Psychiatrie-Klinik der 70er Jahre beruft und dabei die vermeintliche Schwäche als Stärke deklariert. Diesem Begriff scheint sich auch “The Line Is A Curve”, das vierte Album von Kae Tempest, unterzuordnen, steht die eigene Identität im wackeligen Zentrum der wie gewohnt großartigen Lyrics. Der zugehörige Sound jedoch hat mit Softness recht wenig gemein.
“These are the only days, why can’t i feel them?”
Mit bestechender Gesellschaftskritik in Konzeptalbum-Format hatte sich Kae Tempest ins Herz der Feuilletons und Fans geschlichen. Der Cut auf dem vierten Album “The Line Is A Curve” kommt nun auf mehreren Ebenen:
1. Jeder Song steht für sich, die engmaschige Verkettung des Narrativs wird zugunsten von einer Episodenhaftigkeit gelockert.
2. Wie das von Wolfgang Tillmans geschossene Cover-Foto zeigt, gilt: Gesellschaftskritik < Individuum. Zwischen den Zeilen tritt dabei auch Tempests Reise zum Outing als non-binär hervor.
3. Mehr als je zuvor hat sich die*der Musiker*in auch im gesamten Produktionsprozess eingebracht. Das könnte auch erklären, warum die Tracks derart diverse Soundkleider tragen.
4. Tempest holt sich erstmals gesangliche Verstärkung – und das dann gleich mit fünf (!) großartigen Feature-Gästen. (Fast) Alle sind eng mit Kae befreundet.
All diese Elemente färben die Platte im Kontrast zum Vorgänger “The Books of Traps and Lessons” doch in deutlich anderen Farbtönen. Einen perfekten Ausblick auf das neue Werk gab schon die Vorab-Single “More Pressure” mit Brockchampton-Mitglied Kevin Abstract. Verkuppelt wurden die beiden übrigens von Meister-Produzent Rick Rubin (Produzent für u.a. Beastie Boys, Slayer, Shakira). Und: It’s a match! Anders als im deutlich reduzierten Vorgänger steht hier Pop-Appeal im Vordergrund, die Beats sind fordernd, die Melodien einprägsam, die Rap-Parts unwiderstehlich. Als Blaupause für die Platte kann der Song insofern dienen, als dass das Album insgesamt spürbar mehr Geradlinigkeit getankt hat. Stumpf oder gar Formatradio-tauglich wird es trotzdem nicht.
Radical: Zu Tode betrübt
Tempests Musik glich schon immer einer musikalischen Entsprechung der dystopischen Sibylle-Berg-Romane. Viel Sonne kam durch die Schlitze der Tracks nur selten durch, Weltschmerz, Diskriminierung und Entfremdung waren die Leitthemen. Auf persönlicher Ebene geht es all der Eingängigkeit zum Trotz auch auf “The Line Is A Curve” dorthin, wo es weh tut. “Priority Boredom”, dieses Biest von Opener etwa öffnet mit großflächigen Synthesizern den Raum, damit Kae voller Dringlichkeit den Social-Media-Wahn zertrampelt: “To be known and loved is so disgusting”. Ähnlich schwermütig trabt das von Jazz-Bläsern getragene “These Are The Days” auf der Stelle, in dem ein Klimax der Zwickmühle deutlich wird: Das mit dem Genießen der Gegenwart klappt irgendwie nicht immer so gut, wenn die Psyche nicht mitmacht. Und auch die zwischenmenschliche Angst bekommt ihren großen Auftritt, wenn ein klassisches Indie-Instrumentarium in “Don’t You Ever” den Fokus auf die Selbstaufgabe am Anfang einer Liebe lenkt: “My eyes said forever / But you said don’t you ever need me”.
Softness: “Let me be nothing but love”
Das Ich in den Augen der anderen erkennen, ist eine zentrale Strategie dieser intimen Auseinandersetzung. Dafür ging Tempest einen ungewöhnlichen Weg: Alle Vocals wurden in einem Take aufgenommen – jedoch mit einem Live-Publikum, bestehend aus einer Person. Dieser Prozess wurde drei Mal wiederholt – ein Mal vor einem fremden, 78-jährigen Mann, einmal vor Kaes bester Freundin Bridget Minamore und einmal vor jungen Fans. Die Interaktion färbte tatsächlich auf die Stücke ab – und am meisten überzeugten die Aufnahmen vor Minamore. Niemals hätten die Zeilen so entschlossen und detailliert geklungen, findet Produzent Dan Carey. Passend dazu holt sich Tempest auch in den Stücken einen menschlichen Spiegel dazu. Die Ergebnisse sind faszinierend: Das reduzierte “I Saw Light” erhält durch das Gedicht von Fontaines D.C.-Frontmann Grian Chatten eine enorme Tiefe. “No Prizes” glüht durch das warme Timbre von Lianne Le Havas. Freund Confucius MC bringt den größten Rap-Moment der Platte auf “Smoking” dazu – und ássia schubst “Water in the Rain” ganz nah an das Herz der Hörer*innen. Und doch sticht in all jenen Sequenzen immer wieder Tempest selbst hervor, nicht ganz selbstsicher mit der Rolle im Rampenlicht, aber umso mutiger im Resultat.
Denn Mut heißt eben nicht immer demonstrative Selbstliebe oder plakative Bestätigung der eigenen Identität, sondern vor allem mal Schwäche und Sorgen zu formulieren. All den negativen Gedanken, mentalen Problemlagen und großen Sorgen zum Trotz steht im Finale von “The Line Is A Curve” die absolute Selbstauflösung – die hier aber positiv konnotiert wird. “Let me be nothing but love” fordert Tempest in “Grace” und schließt damit eine Platte ab, die das musikalische Werk um einen weiteren Meilenstein erweitert.
Das Album “The Line Is A Curve” kannst du hier kaufen. *
Und so hört sich das an:
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Kae Tempest live 2022:
- 22.11. Gloria, Köln
- 23.11. Mojo, Hamburg
- 24.22. Admiralspalast, Berlin
Rechte am Albumcover liegen bei Fiction / Virgin Music.
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