Self Esteem – A Complicated Woman

Das Private ist politisch und andersrum: Self Esteem veröffentlicht mit “A Complicated Woman” ein Manifest, das gleichzeitig direkt aus dem Herzen der Britin und aus Tausenden Kehlen von FLINTA auf der ganzen Welt zu stammen scheint. Eingebettet in Arrangements, die selbst hartgesottene Musikkritiker*innen überwältigen werden, entsteht damit ein gigantisches Werk für alle Bestenlisten.

Gemeinsam & Allein

Self Esteem liebt Chöre. Das war schon auf dem Debüt “Compliments Please” wie auch dem Nachfolger “Prioritise Pleasure” so. Und das ist auch acht Jahre nach der Veröffentlichung der ersten Solo-Single (Rebecca Lucy Taylor war vor Self Esteem Teil des Duos Slow Club) der Puls, auf dem (fast) jeder Song aufbaut. Gut so, denn nur wenige Indie-Artists können so feinfühlige Mehrstimmigkeit einsetzen wie Taylor.

Obwohl Self Esteem auf dem Papier eigentlich ein Solo-Projekt ist, werden die Ideen, Gedanken, Gefühle des lyrischen Ich somit wieder und wieder multipliziert – häufig auch mit namhaften Gästen wie Nadine Shah, Meatball, Julie Hesmondhalgh und Moonchild Sannelly. Selbst wenn der Opener “I Do And I Don’t Care” mit einem zutiefst persönlichen Storytelling eröffnet – Thema: ADHS, Coming of Age, Selbstwahrnehmung – erhebt der Mix aus Streichern und Chören die Intimität in etwas Gigantisches, nahezu Sakrales.

Solche Momente gibt es auf der Platte immer wieder – zum Beispiel in “The Deep Blue”, wo es “You’re the Only One I Still Write Songs For” heißt oder wenn “Focus is Power” sagt: “The World is in your Hand, You took it Down”. Es sind große Zeilen, die mit Pathos beladen werden, bis sie allgegenwärtig erscheinen. Aber Self Esteem genügt dieser Bombast nicht.

Opernhaus & Berghain

“A Complicated Woman” ist indeed ein kompliziertes Album – hört man es nun mit Blumenkranz im Haar beim Taumeln durch den Wald oder auf einer kinky Party in einer grauen Metropole? Für beide Szenarien sind genügend Songs vorhanden. Die eine Seite dieses Albums rutscht ans Herz all jener, die mit Paris Palomas Debütalbum “Cacophony” den Niedergang des Patriarchats als Gemeinschaftsprojekt gefeiert haben. Die andere Seite bebt mit reduziertem Gesang vor dunklen Bässen (Banks lässt grüßen!) und möchte vor lauter Brat-Vibes nicht mehr nach Hause.

Was diese Dualität vor allem zeigt: Self Esteem ist eine der begnadetsten Songwriterinnen der Pop-Welt und könnte mit der Opulenz ihrer Arrangements jedes Opernhaus vollkommen ausfüllen. Die Frage wäre nur, welches dieser Häuser auch bereit für Songs über Sexstellungen (“69”) und Zeilen wie “Now toast eaach and every fucker that made me this way” (“Cheers To Me”) ist. Gut funktioniert ihr Sound im theatralischen Kontext auf jeden Fall – sie steuerte den Soundtrack zum Theater-Megaerfolg “Prima Facie” mit Jodie Comer bei. Das war schon sehr prunkvoll!

Egal ob Opernhaus oder Berghain – wenn Self Esteem dieses Meisterwerk von Pop-Album auf die Bühnen bringt, wird das zum Pflichtbesuch für alle, die etwas für Songwriting, Feiern oder Subversion oder gar alles übrig haben. Bis dahin: Platte auf Dauerschleife bis zum Wrapped!

Und so hört sich das an:

Website / TikTok / Instagram

Rechte am Albumcover liegen bei Polydor.

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