Für viele ging Anfang November 2016 ein Traum in Erfüllung: am 5.11. gab es Tickets für das erste The Kelly Family-Konzert im Vorverkauf. Das erste Konzert seit fast 20 Jahren. Und dann noch in der Dortmunder Westfalenhalle. Einige Kelly Family-Mitglieder hielten die Idee selbst für abstrus und glaubten, dass eh niemand kommt. 18 Minuten nach dem Verkaufsstart meldete Eventim ausverkauft. Aus einem Comebackkonzert wurden zunächst zwei, dann drei. Dass nur sechs statt ursprünglich neun Mitgliedern auf der Bühne standen, wurde da fast zur Nebensache. So gehörte die Westfalenhalle – das selbsternannte Wohnzimmer der Gruppe – zwischen dem 19. und 21.5.2017 der größten Band, die Mitte der 90er jährlich an die 200 Konzerte spielte. Dieses fulminante Comeback, bei dem sowohl im Publikum als auch auf der Bühne kaum ein Auge trocken blieb und eine Gänsehaut über zwei Stunden anhielt, wurde stilvoll und in prägnanten Bildern festgehalten und im Oktober letzten Jahres veröffentlicht.
Im März ’18 passierte dann das, was vorauszusehen war und die einzige logische Konsequenz darstellte: eine ganze Tour rückte nach, die durch ganz Deutschland und die Nachbarländer führte, abermals auch Halt in der Westfalenhalle machte und Ende August ihren Abschluss fand – Open Air auf der Loreley, die zweite Bühne, die von wirklicher Bedeutung für die Band ist. In beiden Locations gab es Konzerte, die damals auf VHS veröffentlicht wurden (das sind diese rechteckigen, schwarzen Plastikgehäuse – sozusagen die BluRays von damals. Nein, sie passen nicht in einen DVD-Player). Beide Videos verkauften sich wie geschnitten Brot und machten die Kellys zu Legenden des Jahrzehnts.
Dann wurde es lange still um die Gruppe, die die Bezeichnung „Hate it or love it“ innehatte wie kaum jemand sonst. Die einen hielten sie für die beste Popband mit einzigartigen Charakteren – die anderen für ein durchgeknalltes, fragwürdiges Hippievolk mit äußerst schlechtem Klamottengeschmack und Sektenanleihen. Sei es drum: Kathy, John, Joey, Jimmy, Patricia und Angelo sind 20 Jahre älter geworden und das Publikum mit ihnen. Zwar wird auf seitens der Fans weiterhin bereits zwei Tage vor dem Konzert vor der Loreley gecampt, einiges an 90s-Merch mitgeschleppt und jedes einzelne Wort mitgesungen – das Groupiegetue wird dann aber doch heruntergefahren und das Geschrei mit einem angenehmeren Pegel ausgeübt.
Musikalisch hingegen bleibt nahezu alles beim Alten: Die Setlist hat 15 Songs von 1995 übernommen und mit 17 weiteren ordentlich aufgestockt. Über 140 Minuten Show sind auf der We Got Love – Live At Loreley-Doppel-CD oder -Doppel-DVD/BluRay zu bestaunen. Allerdings handelt es sich eben nicht um den ersten Live-Output des Comebacks. Was genau kann also das neue Paket, was das alte nicht konnte?
Schaut man sich die Songauswahl an, stellt man mit Erschrecken fest, dass gerade einmal sieben von 32 Songs ausgetauscht wurden. Für ein und dieselbe Tour nicht überraschend, für zwei Live-Veröffentlichungen aber vielleicht zu wenig. Jimmy darf als perfekter Opener weiterhin den ersten Mittelpunkt für sich beanspruchen, singt nun aber „Thunder“ statt „I Can’t Stop The Love“. Toller, druckvoller Song, der Live absolute Hitqualität besitzt – trotzdem vermisst man den anderen Klassiker ein wenig. Besonders freudig ist die Rückkehr von „Key To My Heart“, wenn auch in einer Joey-Version. Außerdem neu am Start: „The Rose“ (gab es früher auf nahezu jedem Konzert, somit ein schönes Wiedersehen), „Let My People Go“, „Let It Be“ (etwas unnötige Coverversionen, die ebenso auf den ersten Kelly-Konzerten gespielt wurden, aber auch da schon ein wenig nervten), „Sick Man“ (Kathys Loreley-Solo von 1995 mit einem wirklich gelungenen Geigenspiel ihrerseits) und „Madre Tan Hermosa“. Das Letztgenannte ist ein Marienlied, vorgetragen von Jimmy, wofür „Cover The Road“ gekickt wurde. Unglaubliche und wenig nachvollziehbare Entscheidung. Sehr schade. Außerdem durfte „Because It’s Love“ gehen. Der Akustikblock bestand zuvor aus „Swing Low“, „Une Famille C’est Une Chanson“, „Echo La Ronda“ und „When I Was In Town“. Besonders die zwei letzten Fehlenden tun gewaltig weh. Hier und da gibt es des Weiteren eine leicht veränderte Reihenfolge. Somit wurde sich auf Seiten der Setlist für drei gelungene Neuzugänge entschieden, dafür aber auch von vier großen Nummern verabschiedet. Gemischte Gefühle.
Showtechnisch bietet die 2018-Aufzeichnung ähnliche Bilder wie bereits in der Westfalenhalle. Die Klamotten sind gleichgeblieben, die Konfettibomben und Pyroeffekte zünden bei den gleichen Songs – nur die Bühne ist nun unter freiem Himmel, dafür leider ordentlich geschrumpft. Positiv fällt dafür ein ganz anderer Faktor ins Gewicht: man merkt die Routine, die die Band mittlerweile wieder besitzt. Auch wenn die vorangegangene Aufzeichnung das Comebackgefühl authentischer transportiert, wurde dort aufgrund von Aufregung einige Male gepatzt – gesanglich gibt es bei der neuen Ausgabe einiges an Zugewinn, Sicherheit und ein runderes musikalisches Bild. Gut zu erkennen an dem grandios gesungenen „I Can’t Help Myself“ von Angelo oder der stimmigeren Zweistimmigkeit in einem der unterbewertetsten Kelly Family-Songs, „Please Don’t Go“. Außerdem gibt es einige sehr emotionale, dankbare und persönliche Ansagen von allen Mitgliedern, die das Herzchen kuscheln. Bei John, der es schafft in jeder Botschaft etwas Spirituelles zu packen, ist dann aber der Zenit überschritten.
Selbstverständlich wird die Anhängerschaft, die bei so vielen Konzerten weiterhin eine unüberschaubare Größe umfasst, auch dieses Live-Album kaufen. 500.000 verkaufte Alben und 500.000 Zuschauer in weniger als zwei Jahren sind schon beachtliche Zahlen. Somit kann man We Got Love – Live At Loreley auch durchaus erwerben, selbst wenn es gegen die erste Ausgabe leider verliert. Es gibt eben zu wenig wirklich Neues. Das Bonusmaterial verspricht 25 Minuten Backstagematerial und diverse Faninterviews – nett! Trotzdem ist wahrscheinlich der größte Kaufanlass die limitierte Fanbox in Kelly-Bus-Optik, die zusätzlich Magnete, Postkarten und, Obacht, erstmalig das Loreley-Konzert aus 1995 auf DVD bietet, welches es natürlich nicht einzeln zu kaufen gibt. Geschickt gemacht.
Um aber abschließend ein ganz dickes Statement festhalten zu können: wer weiterhin das schräge Bild einer überdimensionalen großen Familie im Kopf hat, die ein fragwürdiges „Love, Peace & Unity“-Image verkörpert, mag zwar in Teilen nicht ganz unrecht haben, wird aber beim Schauen eines aktuellen Konzerts wohl eher von einer Band überrascht, die musikalisch viele andere deutsche Künstler in den Schatten stellt und einfach sehr guten Singer/Songwriter-Folk-Pop spielt. Ein Fakt. Vielleicht stoßen die drei Fehlenden ja doch noch dazu. Nächstes Jahr geht’s mit zwei Touren jedenfalls weiter und das ist gut so.
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