75 Jahre gelebt. Zeit zur Rekapitulation. Marius Müller-Westernhagen macht Musik seit seiner Jugend, also seit Mitte der 60er. Ende der 70er wird sein Name plötzlich deutschlandweit bekannt. Mit über 12 Millionen verkauften Platten zählt der in Düsseldorf geborene Musiker zu den Größten hier, zu den wirklichen Instanzen. Zu den Leuten, die wirklich jedem ein Begriff sind. Zu denen, die gehört werden und auf die gehört wird.

An Nikolaus wird Westernhagen 75. Natürlich ist die neuste Veröffentlichung nicht die erste ihrer Art. Schon 1985 gab es eine Balladensammlung aus den ersten zehn Jahren Karriere, dann 2000 mit “So weit” die erste mit sämtlichen großen Hits. 2008 folgte mit “Wunschkonzert” zwar eine schöne DVD, die eigentliche CD hätte es aber so gar nicht gebraucht, sind 15 Songs einfach entschieden zu wenig. Doch zum 75. möchte man es wissen. Westernhagen 75 ist mehr als eine Werkschau, es ist fast schon ein Katalog. 75 Songs, über fünfeinhalb Stunden auf 8 LPs bzw. 5 CDs, alternativ 34 Songs auf 2 CDs oder 18 auf 2 LPs. Wer alles will, kann somit alles haben.

Westernhagen ist eigenwillig. Wahnsinnig feinfühlig, gleichzeitig sehr laut. Krawallig, anstoßend, vulgär. Ein Rüpel der alten Schule. Politisch und rock’n’rollig. Ein Liedermacher. Einige Songs stoßen heutzutage ganz schön auf, sind sie doch eine Spur zu inkorrekt und nicht mehr zeitgemäß. Auf Westernhagen 75 werden sie aber als historisches Dokument mitgenommen und im remasterten 2023-Sound präsentiert. Die Best of zeigt sowohl die Entwicklung als auch die dazugehörige Konstante. Seine manchmal krakelige Stimme mit dem leicht versoffenen Touch ist genauso unverkennbar wie die ganz zart gesungenen Noten, bei denen man doch tiefer blickt, als man vielleicht möchte. Es geht um Alkohol, um Frauen, um Freiheit, um Frieden, um Enttäuschung. Darum, nicht immer nur rumzunörgeln, sondern aktiv zu werden. Westernhagen war immer aktiv, und das auf Deutsch. Er war ein Gegenentwurf zur Neuen Deutsche Welle in den 80ern, ebenso ein Gegenentwurf als die deutsche Musikszene nur aus Schlager bestand. Heute wirkt er weise, aber nie altklug. Ein Gegenentwurf zum wässrigen Deutsch-Pop.

Auf dem Riesenwerk wird jeder Schritt bedacht. Vom gefloppten Debütalbum “Das erste Mal” (1975) bis hin zu Titeln aus dem letzten, 20. Studioalbum “Das eine Leben” (2022). Dazwischen Kuriositäten wie das Feature mit Sido (“Grenzenlos”), Liveaufnahmen aus unterschiedlichen Jahrzehnten, besondere Versionen wie die neuen Interpretationen des “Pfefferminz”-Albums aus 2019, Songs aus der MTV-Unplugged-Session und ausnahmslos jeder Hit, den man mit ihm verbindet.

Einiges steht dabei so im Kontrast, dass es überrascht. “Sexy” wird über 30 Jahre nach Veröffentlichung noch auf jeder typisch deutschen Party ausgegraben, “Weil ich dich liebe” und “Tanz mit dem Teufel” sind berührende Liebesgeständnisse, die anders treffen als Romantikkitsch, “Johnny W.” und “Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz” unvergleichlicher Kult. “Jesus” oder “Es ist an der Zeit” zeigen den Mittelfinger, “Freiheit” hingegen umarmt jedes verdammte Mal, macht stark und gibt das Gefühl, alles zu können. Wer es bisher verpasst hat, muss so schnell wie möglich das wirklich sensationelle Duett “Luft, um zu atmen” mit seiner Frau Lindiwe Suttle nachholen.

Bei der abgespeckten LP-Variante mit 18 Songs werden allerdings ein paar merkwürdige Entscheidungen getroffen. Wird plötzlich die chronologische Reihenfolge der großen Ausgabe nicht mehr beachtet, gibt es außerdem gleich mehrere Must-Haves nicht. Aber ok, der preisliche Unterschied zwischen 18 und 75 Songs fällt hier mit einer rund sechsfach so hohen Investition natürlich stark ins Gewicht. CD-Sammler*innen fahren allerdings mit der vergleichsweise nur marginal teureren 5-CD-Box wesentlich besser, gibt es auf der 2-CD-Variante zwar fast alles wichtige, aber bei diesem Jubiläum – wenn man sich denn nun endlich dazu entscheidet, Westernhagen ins Regal stellen zu wollen – sind einige Euros mehr es durchaus wert.

Eine mit viel Detailreichtum aufgearbeitete Veröffentlichung. Weit über Greatest Hits- oder Best of-Anleihen hinaus mit je mindestens einem Song von jedem Longplayer. Westernhagen 75 ist das, was es verspricht und ein Stück deutsche Musikgeschichte mit völliger Daseinsberechtigung.

Und so hört sich das an:

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