Mit insgesamt 37 Tourneen in 39 Jahren gehört die Reihe Night of the Proms zu den längsten, bekanntesten und beliebtesten Veranstaltungen im Kalenderjahr. Das kann man wörtlich nehmen, denn bis auf Corona konnte dem großen Namen bisher so gar nichts anhaben. 1985 entstand in Belgien die Idee, angelehnt an die großen Shows “Last Night of the Proms” in der Londoner Royal Albert Hall. Seit 1994 macht auch Deutschland mit und strömt in Scharen herbei, wenn die Arenen ausrufen. Und ob man’s glaubt oder nicht, es gibt tatsächlich Menschen, die bisher auf keiner Night of the Proms waren – so wie wir. Für alle Neugierigen, aber natürlich auch für alle anderen ein Erfahrungsgericht von Newbies:
23 Tage, 16 Gigs. Das ist ordentlich. Und auch wenn Klassik hier auf Pop trifft, finden die Veranstaltungen keinesfalls in den städtischen Konzerthäusern oder Opernsälen statt, weil die einfach längst nicht ausreichen würden. Stattdessen beginnt man die Tour in der SAP Arena in Mannheim, immerhin der sechstgrößten Halle des Landes, und endet mit einer Doppelshow kurz vor Heiligabend in der Lanxess in Köln, der größten in Deutschland. In Oberhausen verkündet Moderator Markus Othmer (u.a. ARD Sportschau und ARD-Mittagsmagazin) zum Finale, das mit dem letzten Ton die Tickets für Oberhausen 2024 in den Verkauf gehen – keine 24 Stunden später sind rund die Hälfte der Eintrittskarten aus der ersten Preiskategorie weg. Dabei werden die Stars, die auftreten, erst im Sommer verkündet. Aber das Publikum ist sich sicher, dass es wohl mit jedem Lineup zufrieden sein wird.
Schaut man sich das Lineup von Night of the Proms 2023 sowie generell die Stars aus über 30 Jahren an, die gebucht wurden, finden sich dort einige Namen, die wirklich weltweiten Ruhm genießen. Viele davon haben zwar in dem Jahr, in dem sie auftreten, schon länger nicht mehr die Charts gesehen – ihre großen Hits laufen aber weiterhin. Da lobt sich auch das Streaming wieder, wenn auch die jüngeren Generationen leichter den Zugang zu nie totzukriegenden Classics findet, wovon es auch in Oberhausen mehrere zu hören gibt.
Leere Plätze entdeckt man am ersten Advent, dem 3.12., in der Rudolf Weber-ARENA nur beim genaueren Hinschauen. Das Durchschnittsalter liegt geschätzt bei Mitte bis Ende 40. Viele Besucher*innen haben sich für den Anlass ein wenig schicker gemacht. Bereits kurz vor dem offiziellen Beginn um 18 Uhr betritt eine riesige Menge Menschen die Bühne. Das Antwerp Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Alexandra Arrieche umfasst über 50 Musiker*innen sowie über 20 Chormitglieder. Allein das ist schon eine Besetzung, die man per se selten bekommt, noch seltener bei Crossover-Shows, in denen es Popelemente gibt. Aber Night of the Proms ist eben eine echte Marke und steht für etwas – da wird aufgefahren.
Fast zehn Minuten später gibt es dann auch Töne zu hören. Zunächst 70, dann noch einmal 80 Minuten lang wartet auf das Publikum ein vor allen Dingen kurzweiliges Programm, das sich nie für ein Genre entscheidet, sondern breit aufgestellt bleibt. Rein orchestrale Stücke aus mehreren Epochen, die allgegenwärtig sind, ein wenig nischigere Klassik, 80s-Synthie-Pop, Classic Rock, Pop-Rock, Soul und sogar ein kleiner Rap-Ausflug. Insgesamt gibt es hochgerechnet fast 90 Akteuer*innen auf der Bühne und eben zweieinhalb Stunden Entertainment. Das ist für Preise von bis zu etwas mehr als 100 Euro wirklich sehr ordentlich. “Klassik trifft Pop” ist bei Night of the Proms auch kein schlechter Werbeslogan, denn tatsächlich bleiben beide Anteile recht ausgewogen. Am Ende liegt das Problem meistens eher dort, dass man eben alle abholen mag und nicht ganz konsequent bleibt. So auch an jenem Abend, das wirklich sehr viele Teile präsentiert, die fantastisch und sehr hervorragend funktionieren, man aber an manch anderer Stelle leider ein wenig in die Trash-Falle tappt.
Viel Positives zuerst: Der Sound in der Halle ist gut abgenommen. Neben dem eher ruhig gehaltenen Bühnenbild gibt es insgesamt drei Leinwände, auf denen meist im Wechsel das Orchester oder die Sänger*innen gezeigt werden, aber auch einige Visuals laufen. Am aufwändigsten sind die Lichteffekte, so fahren gleich mehrere große Spots in unterschiedlichen Posen über die Köpfe der Musiker*innen und kreieren eine schöne Atmosphäre. Sowieso spielt das international besetzte Ensemble großartig.
Bei den Gästen hält sich die Qualität fast durchweg auf einem guten bis sehr guten Niveau. Aura Dione darf als erste ihre drei hundsgemeinen Ohrwürmer “I Will Love You Monday”, “Friends” und “Geronimo” singen und sorgt damit für die nächsten Tage für Melodien im Kopf. Ihre Stimme klingt auch live mit recht wenig Bearbeitung ziemlich ähnlich den Studioaufnahmen. Dazu trägt sie ein exotisches, fernöstlich-angehauchtes Kostüm und animiert das Publikum zu mehreren La-Ola-Wellen. Ähnlich gut zeigt sich die 2000er-Hitmaschine Anastacia, die auch mit 55 im Sound nicht ein My einbüßen musste. Aus ihrem aktuellen Album “Our Songs” – übrigens womöglich die größte Katastrophe, die es 2023 in LP-Länge gab – singt sie die englische Version von Lindenbergs “Cello”, das mit dem großen Orchester viel Wärme versprüht. Noch lieber werden aber ihre zwei Megasongs “Left Outside Alone” und “I’m Outta Love” angenommen, die auch nach rund zwei Dekaden immer noch richtig gut gehen. Selbst wenn “I’m Outta Love” tiefer transponiert wurde, bekommt die Performance den größten Applaus am Abend.
Camouflage sind heutzutage wohl nur noch denjenigen ein Begriff, die in den 80ern schon aktiv Musik gehört haben. Die aus Baden-Württemberg stammende Synthie-Band hat zwar mit “Love Is A Shield” und “The Great Commandment” ihre zwei Charterfolge dabei, die aber nicht ganz so gut gealtert sind. Natürlich macht das Retro-Feeling, aber wer jetzt an deutsche 80s-Klassiker zurückdenkt, kommt wohl nicht so schnell auf das Duo. Trotzdem ist der Auftritt solide, wenn auch der mit dem wenigsten musikalischen Anspruch. James Morrison (Bericht vom Konzert in Köln 2022) hingegen scheint dem Publikum nicht auf Anhieb ein Begriff zu sein, hält es sich erst noch etwas zurück. Allerdings beweist der Brite mit der Gitarre in der Hand zum wiederholten Male, wie unglaublich gut seine Gesangstechnik ist. Mit wahnsinnig viel Feingespür und genau dem richtigen Timing wirken diverse Registerwechsel so, als ob es das Einfachste auf der Welt sei. Hervorragend. Etwas enttäuscht schaut man, wenn schon nach “You Give Me Something” und “Wonderful World” wieder Schluss ist – bis er dann aber in der zweiten Hälfte mit einer spannenden Akustik-Version von Coolios “Gangsta’s Paradise” für den überraschendsten Beitrag sorgt und daraufhin im Duett mit Anastacia den Riesenerfolg “Broken Strings” performt. Auch wenn Anastacia nicht ganz die zweite Stimme kann und somit Nelly Furtado nur halb gerecht wird, bleibt das wohl dennoch ein Duett, das im Gedächtnis bleibt.
Ein Großteil in der Crowd scheint sich aber insbesondere auf den Headliner zu freuen, der selbstverständlich als letztes auftritt. Toto sind bereits das dritte Mal bei der Night of the Proms dabei, zuletzt waren sie es allerdings vor 20 Jahren. Steve Lukather und Joseph Williams holen natürlich bereits mit ihrer bloßen Präsenz die Menschen aus den Stühlen. Mit fünf Songs haben sie die längste Spielzeit am Abend und liefern mit “Stop Loving You”, “I’ll Be Over You”, “Rosanna”, “Africa” plus “Hold The Line” als Finale mit allen Teilnehmenden natürlich einen Banger nach dem nächsten – leider sind sie aber die Einzigen, die gesanglich nicht ganz sauber sind. Gar keine Frage, wer seit 40 Jahren solche wirklich schwierigen Songs singt, hat mit Mitte 60 nicht mehr die Vocals. Aber statt die Titel einfach einen halben oder ganzen Ton tiefer zu spielen, bleibt man lieber bei der Originaltonart und rutscht gleich mehrfach in den Höhen weg. Schade. Energie hat das Ganze natürlich trotzdem, auch wenn manche Instrumentalsoli etwas zu episch ausfallen.
Zwischen den fünf Acts gibt es einen Mix aus den unterschiedlichsten Orchesterwerken. Piazzollas “Libertango”, Vivaldis “Vier Jahreszeiten”, aber auch “Hedwig’s Theme” aus “Harry Potter” von John Williams. Stücke, die für sich allein glänzen. Warum ist es dann nötig, dass das Orchester im Rhythmus wellenförmig aufsteht? Oder Streicherbögen aufleuchten, wenn sie eine Saite berühren? Das sind eben jene Dinge, die unnötig übers Ziel hinausschießen und tolle Werke mit unnötiger Effekthascherei ein wenig billig wirken lassen. Ganz schlimm: Bei Offenbachs “Can Can” wird zum Mitklatschen animiert und Dirigentin Arrieche hüpft dazu noch über die Bühne. Warum? Auch unangenehm sind Paare aus dem Innenraum, die zu Walzern von Strauss unbedingt beweisen müssen, dass sie in der Stunde Wiener Walzer in der Tanzschule aufgepasst haben. Momente, für die das Wort “Cringe” erfunden wurde. Wiederum sehr schön ist eine tänzerische Interpretation von Nathan Chan zu Saint-Saëns´ “Der Schwan” aus “Der Karneval der Tiere”. Irgendwas zwischen Contemporary, Ballett und Streetstyle. Berührend wie beeindruckend. Das absolute Highlight des Orchesters kommt übrigens mit dem weihnachtlichen “Carol of the Bells”, das so gigantisch, erschlagend und auf den Punkt gesungen wie gespielt wird, dass es den Körper erbeben lässt. Wow.
Schade, dass Musik allein aber nicht genügt, denn die ist bis auf minimale Augenblicke durchweg super und mehr als ausreichend. Stattdessen wird einfach sehr viel Publikumsinteraktion gefordert, und das immer wieder. So kann man sich Stil auch etwas kaputt machen. Doch das größte Problem an jenem Abend ist weder Orchester noch Dirigentin noch Publikum oder gar Gäste, nein – das ist der Moderator. Zwar mag Markus Othmar super routiniert durch die Show leiten und macht das auch sehr souverän, wer sich allerdings völlig random und unnötig übers Gendern echauffiert, hat einfach auch sehr viel nicht verstanden. “Ich mache das hier schon so lange, da brauchte man nicht gendern. Muss ich Sie jetzt “Prom-ende” nennen?” Kein wörtliches Zitat, Sinn genügt aber. Nein, Herr Othmar, müssen Sie nicht. Sie müssen sowieso nicht Gendern, weil es dafür kein Gesetz gibt. Sie sollten stattdessen aber solche Boomer-Kommentare einfach lassen, wenn Sie den maskulinen Plural bevorzugen. Einfach mal von seinem Recht zu schweigen Gebrauch machen, wie wäre das denn? Noch schöner wird’s im direkten Anschluss, in dem von dem Herrn schamlos das Z-Wort – empathische Menschen nennen die Bevölkerungsgruppe Sinti und Roma – verwendet wird, was man auch hätte kommentarlos weglassen können, weil es keinerlei Mehrwert für die Anmoderation hatte. Unterirdisch, völlig hängengeblieben, null 2023.
Night of the Proms 2023 liefert wirklich tolle Stars, ein tolles Orchester, schönes Licht und zusätzlich in der Quantität ordentlich ab. Für den Preis gibt es wenig Shows mit ähnlich starkem Aufgebot. Dass man aber auch durchschnittlichen Radiohörer*innen – schließlich wird das Ganze präsentiert von WDR4 – unbedingt gefallen möchte, unbedingt mit einbeziehen und alles ein wenig vorgekaut auf dem Silbertablett servieren muss, macht den finalen hochkarätigen Eindruck etwas schlechter als nötig. Gut war der dritte Halt der Tour in Oberhausen trotzdem.
Und so sieht das aus:
Website / Facebook / Instagram / X
Foto von Christopher
* Affiliate-Link: Du unterstützt minutenmusik über deinen Einkauf. Der Artikel wird für dich dadurch nicht teurer.