„Mach’s doch wie vorher!“, fordert eine Männerstimme. Ein verwaschenes Instrumental setzt ein. Anschließend scharfe Drums. Moritz Wilken aka Grim104 berappt den legendären Auftritt seiner Gruppe zum dreißigjährigen Mauerfall-Jubiläum. Im Publikum: Angela Merkel. Auf der Bühne marschieren die zwei Rapper mit als Maschinenpistolen modellierten CO2-Kanonen umher. Buh-Rufe. Dann dreht Wilken die Zeit zurück: Was ist eigentlich in der schnelllebigen letzten Dekade – der Spanne seit der Bandgründung von Zugezogen Maskulin – in Gesellschaft und Politik passiert? Die Antwort darauf folgt flugs: Die heile Welt der Merkel-Jahre flog aus ihrer gewohnten Umlaufbahn. Ebenfalls relevant: Wie ist in der Zwischenzeit eigentlich das Projekt Zugezogen Maskulin vorangekommen? Grim konkludiert: „Erwartungen enttäusch ich am liebsten mit Vorsatz.“ Ironisch, dass der 32-Jährige damit gerade der anfänglich aufgestellten Forderung widerspricht.
Tatsächlich befinden sich Zugezogen Maskulin auch zehn Jahre nach Schaffensbeginn immer drei malerische Eifel-Dörfer weiter, als ihre Fans und Kritiker sie auf ihrer Flucht vor der künstlerischen Eintönigkeit verorten. Ödnisrap über Dorfjugend und -legenden? Nein, Grim und Testo – der heißt bürgerlich Hendrik Bolz – sind schon längst in Berlin Friedrichshain zwischen Post-Bros und Bio-Burgern angelangt. Das war 2017. Gesellschaftskritische Anti-Hipster-Manifeste? Nein, nun steht eine überspitzte, aus den Perspektiven zweier erfolgreicher Rap-Stars vorgenommene, Jahrzehntrückschau an. Auch „10 Jahre Abfuck“, Zugezogen Maskulin Album Nummer vier, ist trotz seines in die Vergangenheit gerichteten Blicks deshalb ein großer Sprung nach vorne. Und ein Sprung ins Ungewisse – aber dazu später mehr.
Dichte Gewitterwolken mit wenigen Sonnenstrahlen
Bei den Arbeiten an der zweiten Major-Produktion der Bandgeschichte steckten die zwei ihre Köpfe mit Querdenker Ahzumjot zusammen, der bereits mit Lance Butters gefeiertem Langspieler „Angst“ beweisen konnte, dass er auch als Produzent taugt. Öffnete sich „Alle Gegen Alle“ vor knapp drei Jahren für Eingängigkeit, so isoliert sich „10 Jahre Abfuck“ wieder von nahezu jedem Pop-Label.
Die Produktion – oft stammen die Beat-Skizzen von Silkersoft oder Ahzumjot selbst – reduziert ihre Brachialität deshalb häufig auf ein Minimum, behält es sich jedoch nahezu immer vor, zugleich kleinere Abwandlungen und Brüche in die Songs zu setzen. Die klingen schlussendlich erstaunlich düster und dystopisch und unternehmen gegen Ende meist unvorhersehbare Wendungen. „Echte Männer Freestyle“ beispielsweise, eine stark ironisierte Kampfansage in Richtung fragiler Männlichkeitskonzepte, zerpflückt sich während seiner letzten halben Minute so sehr selber, man fürchtet fast, es habe gerade die eigene Stereoanlage zerschossen. „Dunkle Grafen“ wiederum fokussiert zu seinem Ende hin einen sich in Trance brüllenden Grim104, der immer wieder angestrengt dieselben vier Zeilen rezitiert. Repetition als Stilmittel.
Ein paar wenige Sonnenstrahlen lassen Zugezogen Maskulin und Ahzumjot dann aber doch zwischen den dichten Gewitterwolken hervorkommen. Das geschieht vor allem, wenn der weniger furchteinflößende Testo die Hooks übernimmt: Der Closer „Exit“ klingt offen und ansprechend, „Es war nicht alles schlecht“ hat Ohrwurmcharakter und auch „Sommer Vorbei“ lädt als luftig-lockere Anti-Hymne auf die Tanzfläche. Dass gerade hier sommerliche Idylle versprochen wird, während die beiden Rapper tief in ihre geplagten Seelen blicken lassen, ist bezeichnend für die immer-kritische Haltung, die Zugezogen Maskulin einnehmen. Rückschauend versprachen die 2010er dann doch nicht den Fortschritt, den Grim und Testo sich erhofft hatten – persönlich und gesellschaftlich.
Von der Überzeichnung zur Kritik
Die Texte auf „10 Jahre Abfuck“ lassen dementsprechend wenig Raum für Optimismus. Die kritische Gesellschaftsskizze geschieht jedoch nur selten über Parolen, sondern über die Wege von Zuspitzung und Ironie. Die politische Korrektheit bleibt dabei ungewohnt häufig zurück. Im Zentrum von all dem thront das bedrückende „Jeder Schritt“. Da schlüpft Testo über beklemmendem Beat in die Rolle eines durchweg versexten Berlin-Zugezogenen und nimmt die Zuhörer*innen mit auf dessen abendlichen Stadt-Trip. Grim gibt sich im Anschluss als vermeintlich guter Feminist, der als Male-Savior eine Frau – gespielt, beziehungsweise gesprochen von Rapperin Nura – vor dem bösartigen Sexisten rettet. Der Song erzielt seine gewünschte Wirkung: Er macht betroffen und legt Doppelmoral und gesellschaftliche Situation ungeschönt offen. Direkter ist da „Tanz auf dem Vulkan“, der als Fan-Pleaser all das mit sich bringt, was die Anhängerschaft an dem Duo schätzt: Deftige politisierte Inhalte, ein knalliger Beat sowie ein finaler Party-Pogo, für den Testo das Dirigat übernimmt. Tanz!
„10 Jahre Abfuck“ ist jedoch bei weitem kein rein politisches Werk. Die zwei Rapper blicken nicht ausschließlich auf die gesellschaftliche Lage der vergangenen Dekade zurück, sondern beleuchten zu großen Teilen auch die verschiedensten (Schatten-) Seiten ihres Werdegangs. Autobiographie und Gesellschaftsabbild werden in dem Zuge häufig miteinander verzahnt. „Rap.de“ springt zurück in die Zeit des Kennenlernens als Praktikanten bei ebenjenem Online-Medium und lässt gleichsam Panikattacken und das Dasein als gescheiterter Rapper zu Wort kommen, „Normiefest“ lädt als Feier-Hymne samt Nico K.I.Z.-Gastbeitrag auf Dorffestivals und Straßenfeste und „König Alkohol“ frönt dem zweiseitigen Schwert Alkohol.
Exit
An anderer Stelle verschwimmen die Verweise auf die eigene Karriere sowie die Überzeichnung vor allem in der Rap-Bubble existierender Verhaltensmuster wieder so sehr, dass nur schwerlich erkennbar bleibt, wie groß der persönliche Bezug zum Inhalt tatsächlich ausfällt. Spätestens wenn Testo in „Der Erfolg“ an Position Nummer zwei von seinen „1000 Schlampen“ berichtet, die „sein Geld verbrennen“, offenbart sich, dass nicht jede der getätigten Aussagen eins zu eins auf die Künstlerfiguren Grim104 und Testo übertragen werden kann. Zum wiederholten Mal: Es greift die Überzeichnung.
„10 Jahre Abfuck“ liefert im Verlauf eine Handvoll weitere gute Argumente dafür, warum Zugezogen Maskulin zwischen Erfolgsdruck, sexistischen Umwelten, Tweef, Fan-Abzocke und dem eigenen Anspruch langsam aber sicher das Handtuch werfen sollten. Der Schlusssong „Exit“ impliziert genau das und hinterlässt eindeutige Fragen: Handelt es sich hier um das letzte Zugezogen Maskulin Album? So sehr wie das Duo bislang Erwartungen mit dem Vorschlaghammer zertrümmerte, ist abschließend jedoch kaum mit einem derart kalkulierten Abgang zu rechnen. Wir werden sehen! Falls doch, hinterließen die zwei Wahl-Berliner der Rap-Welt immerhin ein sehr gutes letztes Album.
Das Album “10 Jahre Abfuck” kannst du dir hier vorbestellen.*
Tickets für die (nun im kommenden Jahr stattfindende) Show in Berlin gibt es hier.*
Und so hört sich das an:
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Zugezogen Maskulin live 2020 – “Fünf Tage Abfuck”:
07.08. – Berlin, Kino International (Tickets)
08.08. – Leipzig, Moritzbastei (Dachterasse) (Tickets*)
09.08. – Hamburg, unknown
11.08. – Köln, Zum Schrotty (Tickets)
12.08. – München, Sommerbühne im Stadion (kostenlos)
Zugezogen Maskulin live 2021:
07.02. – Berlin, Huxley’s Neue Welt
Die Rechte für das Cover liegen bei Four Music.
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