Er ist ein Star in allen Kategorien: Harry Potter ist allgegenwärtig. 15 Prozent der Deutschen behaupten laut einer Umfrage aus dem letzten Jahr, alle Teile des Sensationserfolges gelesen zu haben. Viele darunter sogar mehrmals. Weltweit gehört der erste Band zu den zehn meistverkauften Büchern. Nimmt man alle Filme zusammen, schaffen sie es nach dem Marvel-Universum und Star Wars auf Rang 3 der erfolgreichsten Filmgeschichten. Obwohl der letzte reguläre Band von Joanne K. Rowling 2007 erschien, bricht auch 14 Jahre später das Interesse nicht ab – stattdessen wird es nun in Deutschland nochmal auf eine neue Ebene gehoben.
Harry Potter und das verwunschene Kind ist eine offizielle Fortsetzung, wenn auch nicht von Rowling. Das mag zunächst irritieren und enttäuschen, wird aber durch den Fakt, dass es sich bei dem in 2016 erschienenen Buch um ein Skript zum gleichnamigen Theaterstück handelt, greifbarer. Der eigentliche Plan somit: Theater vor Buch und nicht umgekehrt. Am 30.7. vor fünf Jahren war die Premiere im Palace-Theatre in London, mehrere Wochen zuvor bereits diverse Preview-Shows, einen Tag nach der Premiere stand das englischsprachige Originalbuch in den Regalen, zwei Monate später die Übersetzung auf Deutsch – und das Theaterstück auf Deutsch? Wann kommt das?
Wir machen noch einen Sprung zurück: bereits 2013 kündigte Rowling an, dass ein Theaterstück in Planung sei. Ursprünglich handelte es sich bei der Idee um eine Vorgeschichte zum ersten Buch, “Harry Potter und der Stein der Weisen”. Schließlich wurde aber bekannt, dass eine Geschichte 19 Jahre nach dem letzten Zusammentreffen von Hermine, Ron und Harry, nämlich dem in “Harry Potter und die Heiligtümer des Todes”, viel schönere Möglichkeiten bereithalte. Und genau so kam es schließlich auch. Bis jedoch in Deutschland nun – besser gesagt in Hamburg – der erste Vorhang fallen durfte, zog noch einige Zeit ins Land – und vor allen Dingen Covid.
Eins der ersten und gleichzeitig größten Corona-Opfer in der Kulturbranche nennt sich Harry Potter und das verwunschene Kind. Die erste Übersetzung des rekordbrechenden und mit Preisen überhäuften Theaterstücks aus England. Zwar gab es mit New York, Melbourne und San Francisco bereits drei weitere Spielstädte, aber nun eben die erste, für die das Stück übersetzt wurde. Am 15.3.2020 sollte der Zauber in Hamburg einkehren – doch drei Tage zuvor legte das noch heute unaufhaltbare Virus Deutschland lahm.
Fast zehn Monate wurde das 2015 eröffnete Mehr! Theater am Großmarkt in der Hafencity umgebaut. Nach einigen Jahren, in denen das Multifunktionsgebäude für Konzerte und Musicals genutzt wurde, sollte es ein Stück bekommen, das hoffentlich auch noch in der nächsten Dekade Besucher*innen anlockt und in eine magische Welt bringt. Sollte. Der Schock saß für jede*n tief. Vorerst war hier das Licht aus, die Gäst*innen ausgeladen – und selbst Nachholtermine mussten gestrichen werden.
Im Dezember 2021 und damit knapp 21 Monate später stehen die Sterne erneut nicht gut, aber immerhin so akzeptabel, dass Aufführungen möglich sind. Und ja, sie kommen in Scharen. Harry Potter und das verwunschene Kind ist schon, bevor es überhaupt aufgeführt wird, mit einem derartig hohen Status behangen, dass man gar nicht anders kann, als sich mit vollstem Herzen drauf zu freuen. Harry Potter ist eben ein hochemotionales Werk, mit dem viele Generationen aufwuchsen und eine Welt, in der sich unzählige verloren. Anders sind auch Besucher*innenanstürme bei Filmset-Touren oder Freizeitparks mit jener Thematik kaum zu erklären.
Der 5.12.21 ist also der Tag, an dem es endlich klappt. Ausverkauftes Haus trotz 2G-Regel, bei der zusätzlich ein tagesaktueller Schnelltest benötigt wird und Maskenpflicht herrscht. Alles egal, jede noch so unangenehme Strapaze wird in Kauf genommen, solange man es nun sehen darf. Einen Tag zuvor findet die letzte Generalprobe vor Publikum statt. Schon im März 20 konnten einige Previews besucht werden, aber eben nur sehr wenige. Der 4.12. fühlt sich jedoch anders an. Pressepremiere und ebenfalls ausverkauftes Haus.
Das für knapp 1600 Personen präparierte Theater erzeugt bereits beim Betreten erste Gänsehaut. Getränkebars, an denen Schokoladenzauberstäbe gekauft werden können, Merch-Stände mit schicken Shirts und Tassen und meterhohe Wände mit Patronus-Zeichnungen. Wie gesagt, Harry Potter ist Emotion und trägt so viel Leidenschaft inne, da muss man liefern. Erwartungshaltungen sind aufgrund sensationeller Bücher und sehr guter Verfilmungen so hoch, dass sie kaum erreicht werden können – oder doch?
Wer Harry Potter und das verwunschene Kind sehen möchte, braucht ganz generell zwei Dinge: Sitzfleisch und Geld. Statt einem Stück sind es gleich zwei, bei denen man auch keinesfalls nur das eine von beidem gucken kann, handelt es sich nun mal um eine durchgängige Geschichte. Die hat insgesamt eine Spielzeit von 300 Minuten – ja, das sind fünf Stunden -, aufgeteilt in vier Akten. An einigen Tagen in der Woche besteht die Möglichkeit beide Teile an einem Tag zu sehen, manchmal an zwei aufeinanderfolgenden Tagen. Natürlich besteht auch die Option, einen Teil jetzt und den anderen irgendwann zu schauen – davon raten wir aber hiermit ausdrücklich ab. Mehr als einen Tag sollte zwischen den beiden besuchten Aufführungen besser nicht liegen. Und zum Thema “Geld”: man kann beide Stücke ab 99 Euro buchen, aber auch für Topplätze an Samstagen knapp 400 Euro ausgeben. Pro Person. Dazwischen ist quasi alles möglich. Das muss man erstmal verdauen.
Hat man sich jedoch für den Kauf entschieden, handelt es sich bei den Stunden, die man im Mehr! Theater am Großmarkt verbringt, um ein Eintauchen in Hogwarts, welches das Kinoerlebnis der Filme vor einigen Jahren um Längen übersteigt. Mit Sicherheit herrscht anfängliche Skepsis gegenüber dem Stück, ist es immerhin ein Skript von dem Dramatiker Jack Thorne und beruht nur auf einer Geschichte von Rowling. Zusätzlich sind die Londoner-Kritiken derartig hervorragend ausgefallen, dass auch das nicht immer für den eigenen Besuch förderlich ist und final – man kann es nicht oft genug betonen – ist es einfach Harry Potter. Da gibt es eigentlich nur Faszination oder pure Enttäuschung.
Wir bringen es schwer übers Herz, aber: der erste von insgesamt vier Akten ist leider, leider nur “gut”. Man geht in die erste Pause, weiß nicht so richtig, wo man mit seinen Gefühlen hinsoll, diskutiert über das eine oder andere, was vielleicht nicht so ist, wie erwartet, geht 20 Minuten später in den zweiten Akt und…
Beim Verlassen der Räumlichkeiten am Ende des Tages fühlt man sich dermaßen berauscht, bespaßt, unterhalten, begeistert, mitgerissen und wortwörtlich verzaubert, dass trotz sehr hoher Erwartungshaltung und Skepsis vorab, man lügen würde, wenn man Harry Potter und das verwunschene Kind nicht als eine der stärksten gegenwärtig laufenden Shows einordnet.
In den vier Akten passiert viel. Unglaublich viel. Ist man es von den ursprünglichen Büchern und Filmen gewohnt, ein Jahr in Hogwarts rundum Harry mitzuerleben, fällt hier ganz besonders die erzählte Zeit auf, die eine wesentlich längere Erzählzeit vorweist. Wo wir auch gleich beim Problem des ersten Aktes wären: unzählige Charaktere werden eingeführt, mehrmals werden Zeitsprünge begangen, sodass das Mitkommen gerade anfangs ein wenig schwierig ist. Wer die Filme oder Bücher gar nicht kennt, muss zuhause bleiben. Wer alles einmal gesehen bzw. gelesen hat, sollte vorab nochmal auffrischen. Hardcore-Fans dürften keine Probleme haben, müssen aber dennoch gut aufpassen. Begrifflichkeiten und die ursprüngliche Storyline gut zu kennen, ist absolute Grundvoraussetzung.
Hat man die aufm Schirm, beginnt das eigentliche Treiben 19 Jahre nach HP7, wie man es abgekürzt nennt. Harry Potter und Ginny Weasley sind dreifache Eltern, ihr jüngster Sohn und damit zweites Kind Albus, benannt nach dem legendären Schulleiter Albus Dumbledore, steht vor seiner Einschulung in Hogwarts. Das Verhältnis zwischen Harry und seinem Sohn ist schwierig. Albus fühlt sich missverstanden und oft im Schatten seines berühmten Vaters. Noch unangenehmer wird es für ihn, als der Sprechende Hut ihn in Slytherin einteilt – dem verfeindeten Haus von Gryffindor, in dem sein älterer Bruder momentan und damals auch sein Vater sich befanden. Freundschaft knüpft er eigentlich nur mit Scorpius Malfoy, dem Sohn von Draco Malfoy – Harrys Feind zu Schulzeiten. Eigentlich läuft gar nichts so, dass es für Albus angenehm wäre. Doch dann erfährt er, dass Amos Diggory, der Vater von Cedric Diggory, Harry mit Hilfe eines Zeitumkehrers darum bittet, seinen Sohn zurückzuholen. Immerhin starb Cedric wegen Harry beim Trimagischen Turnier…
Zeitumkehrer. Womöglich das wichtigste Utensil in der Geschichte Harry Potter und das verwunschene Kind. Und wie für Storys rund ums Zeitreisen üblich, wird es auch hier sehr schnell kompliziert. Man muss auf Zack sein, um bis zum Ende des fünf Stunden langen Theaterstücks kein einziges Mal verwirrt dreinzublicken. Ein Kriterium, was die Verwirrung leider unterstützt, ist die etwas inkonsequente Besetzung bzw. Rollenzeichnung der Figuren. Sind sehr viele Charaktere in ihrer Art an den Filminterpretationen angelegt, fallen ein paar wenige dermaßen aus dem Konzept, dass sie leider negativ auffallen. Allen voran sei hier Hermine Granger erwähnt, die zwar schauspielerisch von Jillian Anthony wirklich hervorragend gespielt wird, allerdings durch ihre äußerliche Erscheinung arg verwirrt. Bloß nicht falsch verstehen: selbstverständlich darf auch eine dunkelhäutige Frau eine Hermine spielen. Aber da sehr viele Charaktere im Stück auch ohne ein gesprochenes Wort zu erkennen sind, fällt dieser Gegenentwurf unmittelbar ins Auge. Da wäre etwas mehr Konsequenz wünschenswert – entweder alle Charaktere komplett frei von den Filmvorlagen, was völlig in Ordnung wäre, oder alle Charaktere an den Filmvorlagen orientiert, was ebenfalls völlig in Ordnung wäre.
Zweiter und letzter Kritikpunkt: Harry Potter und das verwunschene Kind ist als Familienstück angelegt, weswegen viele Rollen arg überzeichnet sind. Quasi so, dass jede*r unmittelbar erkennen kann, wie sich die Figur gerade fühlt. Spätestens nach zwei Sätzen Dialog wird die Vermutung immer bestätigt. Das ist für Theatergänger*innen vielleicht ein wenig eindimensional, für Kinder aber eben völlig nachvollziehbar. Scorpius Malfoy darf trotzdem ordentlich runter vom Gas.
Und nun bitte fertig machen für ein Feuerwerk an Komplimenten: trotz beachtlicher fünf Stunden Länge langweilt das Stück gar nicht. In den seltensten Momenten schaut man auf die Uhr und ist schließlich doch überrascht, dass in knapp zehn Minuten schon wieder Pause und der Akt vorbei ist. Die Story ist schnell, mitreißend, spannend, vielschichtig und löst im Minutentakt Flashbacks aus. Sei es durch Insiderwitze, geliebte Charaktere, die einfach in eine Harry–Potter-Geschichte gehören, kleine Rückblenden oder wundervolle Outfits. Zwar ist – höchstwahrscheinlich aus Lizenzgründen – nicht die sensationelle Musik von John Williams zu hören, sondern neu komponierte von Imogen Heap, die sich viel mehr zurücknimmt als der opulente Score, aber dennoch in den passenden Momenten dramaturgisch oft durch Pianosounds unterstreicht.
Um es möglichst nachvollziehbar zu beschreiben: Harry Potter und das verwunschene Kind sehen ist viel mehr wie ein Musical- als ein Theaterbesuch. Nur eben ohne Gesang. In klassischen Stadttheatern gibt es mit Sicherheit auch das eine oder andere Mal schicke Bühnenbilder, die wechseln, aber das hier ist neue Dimension. Das ist mehr. Viel, viel, viel mehr. Ganze Welten werden in Rekordschnelle umgebaut. Oft so schnell, dass es beim kurzen Nachdenken perplex zurücklässt. Wo ist das Schloss denn nun wieder hingefahren? Wo kommt plötzlich der Friedhof her? Das Timing! Jede Bewegung wirkt choreografiert und geschieht in jeder Sekunde dort, wo sie muss.
Bühnentechnisch ist das, was in Hamburg nun passiert, state of the art. Gibt es irgendwo etwas Größeres zu sehen? Gibt es irgendwo mehr Bildgewalt? Wenn ja, bitte kommentieren, wir fahren hin. Aufzuzählen, welche Special Effects hervorragend sind, würde bis morgen dauern. Die Requisite ist eigene Liga. Die Lichtinstallation, die zum Teil sogar im Zuschauer*innenraum passiert, ist atemberaubend. Wenn Darsteller*innen per Flohpulver durch Kamine rutschen und innerhalb einer Sekunde dermaßen galant auf der Bühne stehen, ist das auch beim fünften Mal sehen noch unglaublich. Wenn Darsteller*innen innerhalb von wenigen Sekunden über die Bühne fliegen, bleibt eigentlich keine andere Option, als dass man gerade träumt. Wenn Draco und Harry sich duellieren, möchte man mitten in der Szene aufspringen und jubeln. Wenn die Maulende Myrte auftaucht, ist das ein absoluter “Moment to Shine”, der so genial ist. Wenn Voldemort erscheint, fangen Hände automatisch an zu schwitzen. Wenn Dementoren… nein, das verraten wir nicht. Wow. Das ist ein Must seen. Ein oft inflationär benutztes Attribut, hier aber wirklich die Wahrheit. Keine Empfehlung, viel mehr ein “sofort auf die To Do packen”-Ausruf. Oh Gott, und der Vielsafttrank! Was war das denn? Oder die Telefonzelle! Oder die Unterwasserszene beim Trimagischen Turnier!
Harry Potter und das verwunschene Kind löst Schauder aus, macht schwitzige Augen, bringt eine*n unzählige Male herzlich zum Lachen und ist einfach so spaßig und rührend, dass Fans mit Sicherheit nicht nur einmal Tickets für die 35 motivierten und engagierten Darsteller*innen, die die Show braucht, kaufen werden. Es ist eines dieser Stücke, bei denen man vorab nichts spoilern sollte, damit die Effekte ihre volle Wirkung erzielen. Sollte man von fünf Stunden Theater innerhalb ungefähren acht Stunden nicht vollends abgeschreckt sein, ist wahrscheinlich ein Besuch an einem Tag ratsam, um mit Haut und Haar einzutauchen. Keine zehn Sekunden nach dem letzten Vorhang stand ausnahmslos jede Person im Publikum. Ein technischer Fehler im dritten Akt, der zehn Minuten unfreiwillig unterbrach? Wie vergessen. Die 20-minütige Pause nach dem dritten Akt ist übrigens schmerzhaft, weil man weiß, gleich folgen die letzten 75 Minuten. Ein Erlebnis, von dem Fans noch lange zehren werden. Und ja, auch unsere Fahrt nach Hause drehte sich noch einige Male um diesen und jenen Moment.
Und so sieht das aus:
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Die Fotorechte liegen bei MANUEL HARLAN / MEHR! BB ENTERTAINMENT.
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Sehr schön geschrieben – da steigt die Vorfreude noch mehr! Wir sind auf nächste Woche gespannt, wenn wir da sind! 🙂
Hey Martin, vielen lieben Dank für dein Feedback, worüber ich mich sehr freue!
Bis Donnerstag dann 😉